Es gibt eine Vielzahl emanzipatorischer Alternativen, die auf einen sozial-ökologischen Wandel hinarbeiten. Und es war selten wichtiger als heute, dies hervorzuheben.
Vom Brexit über die AfD bis hin zu Trump – die aktuellen politischen Verwerfungen zeugen von einer Unzufriedenheit mit dem herrschenden System, die sich in einem gesellschaftlichen Ruck nach rechts und im Erstarken oder Sichtbarwerden rassistischer, frauen*feindlicher, homo- und transphober Einstellungen und Gewalt zeigt. Oft werden diese Verschiebungen als Wunsch oder Suche nach einer Alternative zur vorherrschenden Wirtschaft und Politik gedeutet – als regressive Antworten auf die entfesselte Globalisierung, auf Ökonomisierung und Verarmung. Aber es gibt auch Tausende andere Alternativen: emanzipatorische und solidarische, welche die Würde aller Menschen achten. Mit dieser Textsammlung wollen wir sowohl dem herrschenden Wachstumsparadigma als auch den erstarkenden menschenverachtenden Tendenzen etwas entgegensetzen. Das Projekt
Degrowth in Bewegung(en) zeigt ein Mosaik der Alternativen für eine sozial-ökologische Transformation auf – ein Mosaik, das vor allem durch seine Vielfalt an Strahl- und Wirkkraft gewinnt.
Vor einigen Jahren hat der Gewerkschafter Hans-Jürgen Urban die Mosaik-Linke als „Hoffnungsträgerin der postneoliberalen Periode“ vorgeschlagen. Darunter verstand er einen gegenhegemonialen Block, der von den Gewerkschaften über die globalisierungskritischen Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen, sozialen Selbsthilfeinitiativen bis hin zu kritischen Teilen der kulturellen Linken reicht. Dazu schrieb Urban (2009: 77):
Wie ein Mosaik seine Ausstrahlungskraft als Gesamtwerk entfaltet, obwohl seine Einzelteile als solche erkennbar bleiben, könnte eine neu gegründete Linke als heterogener Kollektivakteur wahrgenommen und geschätzt werden.
Das Projekt
Degrowth in Bewegung(en) bildet nur einen Ausschnitt dieser Mosaik-Linken ab, die wir als dynamisch und sich stets verändernd verstehen. Das Projekt fokussiert jenen Teil des Mosaiks, der sich mit der Entwicklung und dem Ausprobieren von Alternativen beschäftigt, sozial-ökologische Perspektiven vertritt und offen ist für das Infragestellen von Kapitalismus und Industrialismus. Naheliegenderweise handelt es sich hierbei auch um eben jenen Teil der Mosaik-Linken, der an gegenseitigem Austausch, an Zusammenarbeit und kritischer Auseinandersetzung mit Degrowth interessiert ist.
Degrowth in Bewegung(en) kann auch als Versuch verstanden werden, die Wahrnehmung der jeweiligen Bewegungen und Strömungen von sich selbst, von anderen und bezüglich der Position innerhalb des Mosaiks zu stärken und dadurch Veränderungsprozesse anzustoßen, die das Gesamtbild verändern: von Lernprozessen über gegenseitige Unterstützung bis hin zur Zusammenarbeit. Durch die Texte können wir mit anderen Augen sehen lernen, Perspektiven wechseln sowie neue Haltungen und Einstellungen erproben. Dies schafft die Grundlage für gegenseitiges Lernen und für die gemeinsame Gestaltung und Weiterentwicklung des Mosaiks mit all seinen Bestandteilen. Unser Ziel ist es – um es in den Worten von Pierre Bourdieu zu sagen –,
im Idealfall zu einer Synthese zu gelangen, in der die Unterschiede bewahrt und aufgehoben werden, um ein Ganzes zu erhalten, das sich mehr als über seine einzelnen Elemente über deren Verknüpfungen definiert
(Bourdieu 2001, 118 f.; vgl. Urban 2009).
Losgelöst vom strategischen Potenzial oder politischen Lesarten der Texte bieten die Antworten auf die ersten beiden Fragen – Was ist die Kernidee? Wer ist aktiv und was machen die? – jeweils sehr klare Einblicke in die verschiedenen Bewegungen und Strömungen. Diese Textteile sind gut geeignet, um sich im Feld der Konzepte und Akteur_innen einer sozial-ökologischen Transformation zu orientieren – auch als Einstieg. Vor allem beim Lesen über Bewegungen, die einem selbst nicht bekannt oder wenig vertraut sind, lassen sich, wie mit dem Projekt beabsichtigt, Vorurteile abbauen und ungeahnte Aha-Effekte erleben.
Vor allem aber geht es uns um die Frage, wie wir dieses Mosaik der Alternativen für eine sozial-ökologische Transformation
gemeinsam voranbringen können. Auch dazu liefern die Schreiber_innen Impulse: Sie zeigen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Degrowth auf, formulieren Kritik und Anregungen und bringen ihre Visionen zur Sprache. Darauf wollen wir hier näher eingehen und dabei die Stärken der verschiedenen Perspektiven in den Vordergrund stellen. Inwiefern der gemeinsame Schreib- und Vernetzungsprozess im Rahmen von
Degrowth in Bewegung(en) emanzipatorische Strömungen, die auf einen sozial-ökologischen Wandel hinarbeiten, als Teil des Mosaiks stärken kann, müssen die folgenden Jahre zeigen. Auch dazu werden wir im Folgenden einige Thesen entwickeln.
Unsere Überlegungen basieren nicht nur auf den Texten der zahlreichen Autor_innen, sondern auch auf einem gemeinsamen Treffen im Oktober 2016 in Berlin, bei dem wir diese Fragen mit vielen Beteiligten diskutiert haben. Die Schlussfolgerungen, die wir daraus ziehen, stammen dennoch von uns, den Herausgebenden. Wir erheben mit ihnen keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder gar Abgeschlossenheit. Vielmehr verstehen wir sie als Zwischenstand eines laufenden Prozesses, von dem das Projekt
Degrowth in Bewegung(en) wiederum nur ein Ausschnitt ist.
Es gibt viele und grundlegende Überschneidungen zwischen den Bewegungen und Strömungen – dies wird vor allem in der Zusammenschau deutlich.
Und doch verfügen alle über eine je eigene Stoßrichtung und Motivation, über eine spezifische Art, die Gesellschaft, Krisenprozesse und die eigene Rolle zu analysieren, und über bestimmte Strategien. Die Gesamtschau zeigt auch, dass sich einige der Bewegungen oder Strömungen gegenseitig enthalten. Welche dabei jeweils das namensgebende Oberthema oder Querschnittsthema ist oder liefert, lässt sich nicht eindeutig bestimmen und auch meist in mehrere Richtungen denken. So versteht sich die Urban-Gardening-Bewegung beispielsweise als Teil der Commons-Bewegung. Viele der Gartenprojekte sind wiederum herausragende Bezugspunkte für Teile der Degrowth- und Commons-Bewegung. Degrowth sieht Commoning als eines der zentralen Prinzipien für eine andere Gesellschaft. Und die Commons-Bewegung integriert Degrowth-Ideen.
Gemeinsamkeiten
Einige Gemeinsamkeiten kristallisieren sich besonders deutlich heraus. Sie zeigen sich vor allem in grundlegenden verbindenden Weltverständnissen und Werten und sagen nicht zwingend etwas über den Fokus aller Beteiligten aus.
- Bedürfnisorientierung: Anstelle der Orientierung an Wirtschaftswerten, abstrakten Produktionszahlen oder Verwertungslogiken stehen konkrete Bedürfnisse und das gute Leben aller im Zentrum.
- Mensch als komplexes Beziehungswesen: Viele teilen ein ganzheitliches Menschenbild, was explizit oder implizit geäußert wird. Menschen gelten demzufolge nicht als rationale Nutzenmaximierer_innen im Sinne des homo oeconomicus, sondern als soziale und emotionale Wesen, die in Beziehung zu anderen stehen.
- Umfassende Analyse: Die meisten Bewegungen teilen eine umfassende Analyse, welche viele Aspekte von Ungleichheiten und Krisen in den Blick nimmt und sich nicht auf Einzelheiten beschränkt.
- Globale Gerechtigkeit: Statt politische Fragen nur im nationalen Rahmen zu diskutieren, haben die meisten eine globale Perspektive, aus der heraus sie ihre sozialen und ökologischen Gerechtigkeitsansprüche ableiten.
- Ablehnung der grünen Ökonomie: Fast keine Bewegung glaubt daran, dass die multiplen Krisen der Welt durch eine ‚Begrünung‘ des Kapitalismus gelöst werden können, und viele kritisieren die (Neben-)Wirkungen großtechnologischer Lösungen.
- Demokratisierung: Statt die Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft an wenige zu delegieren, geht es allen mehr oder weniger explizit um eine umfassende Demokratisierung, die die Teilhabe aller einschließt. Dies spiegelt sich auch in der Arbeitsweise der jeweiligen Organisationen und Netzwerke wider – auch wenn sich dabei Anspruch und Wirklichkeit nicht immer entsprechen.
- Sozial-ökologische Transformation: Anstatt soziale und ökologische Probleme gegeneinander auszuspielen, gibt es bei allen ein – unterschiedlich stark ausgeprägtes – grundlegendes Anerkennen der wechselseitigen Verbindungen, auch wenn oft ein Aspekt stärker im Vordergrund steht.
- Paradigmenwechsel: Statt darauf zu hoffen, dass kleinere Veränderungen oder politische Reformen die Probleme lösen können, setzen sich viele Bewegungen für grundlegende Veränderungen ein. Dabei sollen nicht ‚nur‘ gesellschaftliche Strukturen (wie beispielsweise die Arbeitszeit, die Energiewende oder die Vermögensverteilung) transformiert werden, sondern auch unsere mentalen (Infra-)Strukturen. Viele Aktivitäten zielen daher (auch) darauf ab, unsere Vorstellungswelten und Werte zu verändern.
- Hier und jetzt intervenieren: Anstatt die notwendigen Veränderungen nur prinzipiell einzufordern, versuchen die meisten, hier und jetzt anzufangen – entweder in kleinen Alternativprojekten, in denen Utopien ausprobiert werden, oder in sozialen Kämpfen um konkrete Errungenschaften.
Unterschiede
Bei allen Gemeinsamkeiten handelt es sich doch um unterschiedliche Bewegungen und Initiativen mit jeweils eigenen Analysen, Strategien, Geschichten und Träger_innen. Entsprechend bestehen natürlich auch viele Unterschiede, die sich zentral in folgenden Bereichen zeigen:
- Moralischer Bezugsrahmen: Allen Bewegungen und Strömungen geht es um Gerechtigkeit. Sie unterscheiden sich allerdings darin, für wen sie diese Gerechtigkeit wollen. Für alle Bewegungen geht es grundsätzlich und mindestens implizit um alle Menschen, wobei der Fokus ihrer Arbeit aber oft regional begrenzt und teilweise nur auf den Globalen Norden konzentriert ist. Einige Bewegungen (zum Beispiel Buen Vivir, Urban Gardening, Teile von Degrowth) schließen auch die Rechte der Natur mit ein. Und die Tierrechtsbewegung kämpft für Gerechtigkeit für alle (auch nichtmenschlichen) Tiere.
- Verhältnis zum Kapitalismus: Bei einigen Bewegungen spielt der Kapitalismus eine zentrale Rolle in ihrer Analyse und Kritik, sie sind dezidiert kapitalismuskritisch oder antikapitalistisch (zum Beispiel Attac, Degrowth, Demonetarisierung, Klimagerechtigkeit, Peoples Global Action). Andere wiederum beschäftigen sich kaum oder gar nicht mit dem Kapitalismus (zum Beispiel FUTURZWEI, Umweltverbände). Viele beziehen sich – vor allem in ihrer Analyse – kritisch auf den Kapitalismus, sind bezüglich der Alternativen aber ambivalent (zum Beispiel Ökodorf-Bewegung).
- Transformationsstrategien: Unterschiedlich ist auch die Vorstellung davon, wie Gesellschaft verändert werden kann. Ein Teil der Bewegungen setzt darauf, gesellschaftliche Konflikte auszutragen (zum Beispiel Anti-Kohle-Bewegung, Care Revolution, Klimagerechtigkeit) oder Widerständigkeit zu verbreiten (zum Beispiel Artivism), ein anderer Teil auf Veränderung aus der Nische heraus und durch den Aufbau konkreter Alternativen (zum Beispiel Ökodorf-Bewegung, Solidarische Ökonomie, Urban Gardening). Wieder andere konzentrieren sich darauf, grundlegende Transformationen und Alternativen bekannt zu machen (zum Beispiel Demonetarisierung) oder zu fördern (zum Beispiel Commons-Bewegung, plurale Ökonomik).
- Macht- und Herrschaftskritik: In der Arbeit mancher Strömungen ist Macht- und Herrschaftskritik ein zentrales Element (zum Beispiel Buen Vivir, Care Revolution, Ernährungssouveränität, flucht- und migrationspolitische Bewegung, queer-feministische Ökonomiekritik), bei anderen spielt dies gar keine oder eine untergeordnete Rolle (zum Beispiel FUTURZWEI, Gemeinwohl-Ökonomie, plurale Ökonomik). Entsprechend ist auch die Selbstreflexion über die eigenen Leerstellen und Privilegien unterschiedlich stark ausgeprägt.
- Bündnisfähigkeit: Alle zeichnet eine allgemeine Offenheit gegenüber den anderen Bewegungen und Strömungen aus. Die Ansprüche an mögliche Bündnispartner_innen unterscheiden sich hingegen deutlich: Einzelne legen dafür sehr starke Kriterien an (zum Beispiel Demonetarisierung, Tierrechtsbewegung), andere wiederum plädieren für breite Bündnisse und betonen die Gemeinsamkeiten (zum Beispiel Offene Werkstätten, Ökodorf-Bewegung).
- Organisationsstruktur: Die Bewegungen und Strömungen sind sehr unterschiedlich organisiert. Das betrifft sowohl die Reichweite (lokal, national, regional, global) als auch die interne Demokratie (basisdemokratisch versus hierarchisch) und den Grad der Organisierung (starke versus flexible Strukturen, formelle oder informelle Netzwerke).
Anstatt die benannten Unterschiede auszublenden und eine homogene Bewegung zu beschwören oder jene aufzublasen und dadurch Trennungen und Grabenkämpfe zu provozieren, schlagen wir vor, diese Unterschiede – und die Gemeinsamkeiten – zu nutzen, um das Mosaik der Alternativen besser zu verstehen. Darin sind unterschiedliche Strömungen mit jeweils eigenen Perspektiven, Analysen, Schwerpunkten und Strategien vertreten, für unterschiedliche (Zwischen-)Ziele verbinden sie sich, mehr und weniger stark, miteinander. Sie stärken sich gegenseitig, und es gibt viel Raum für gemeinsames Lernen.
Die Potentiale und Schwächen von Degrowth sind umstritten. Als Herausgebende hatten wir gemeinsam mit Dennis Eversberg einen einführenden Text zu
Degrowth geschrieben, der allen Autor_innen zu Beginn des Schreibprozesses zugänglich war.
In deren Texten zeigte sich, dass es trotzdem ausgesprochen unterschiedliche und teils widersprüchliche Verständnisse davon gibt, was Degrowth überhaupt ist. Die jeweilige Auffassung hängt dabei ganz grundlegend vom eigenen Standpunkt und den bisherigen Erfahrungen und Berührungspunkten (so es sie denn gab) mit Degrowth ab.
Im nächsten Abschnitt werden wir zeigen, wie sich die unterschiedlichen Bewegungen inklusive Degrowth gegenseitig bereichern können. Zuvor jedoch wollen wir anhand zentraler Kritikpunkte die unterschiedlichen Verständnisse von Degrowth diskutieren und nachzeichnen, wie die Autor_innen das Verhältnis zwischen Degrowth und der jeweils ‚eigenen‘ Bewegung interpretieren.
Degrowth gleich Suffizienz?
Im deutschsprachigen Raum ist ein bestimmter Postwachstumsdiskurs, der Suffizienz und individuellen Verzicht als die zentralen Elemente versteht, sehr präsent. Viele Autor_innen setzen Degrowth mit diesem Strang gleich und reiben sich an dieser wenig strukturellen und machtkritischen Sichtweise. Kritisiert wird auch, dass es bei Postwachstum/Degrowth nur um eine Reduzierung des Bruttoinlandsproduktes gehe und Degrowth keine positive Vision oder Alternativvorstellungen enthielte. Als Projektverantwortliche und in der Arbeit beim
Konzeptwerk Neue Ökonomie e. V. teilen wir diese Kritik und setzen uns daher für ein umfassenderes Verständnis von Degrowth ein (
vgl. Beitrag zu Degrowth).
Degrowth und Wachstum
Neben diesen Kritikpunkten, die wir als Missverständnisse interpretieren, gab es aber auch weitere explizite Kritiken am Degrowth-Konzept. So werden der Fokus auf Wachstum und der Begriff Degrowth infrage gestellt. Einige argumentieren, Wachstumskritik solle nicht im Vordergrund stehen. Denn Wachstum, auch Wirtschaftswachstum, sei – zum Beispiel für Menschen des Globalen Südens oder für Gesellschaftsbereiche wie Care – nicht per se schlecht. Für viele Menschen sei es positiv besetzt (zum Beispiel flucht- und migrationspolitische Bewegung, queer-feministische Ökonomiekritik). Der Fokus solle nicht auf ein Weniger, sondern auf ein positives und erstrebenswertes Mehr gelegt werden (zum Beispiel Care Revolution, Transition Towns). Auch einige wachstumskritische Strömungen sehen Wachstum als nachgelagertes Problem an: Weil der Kapitalismus kritisiert und abgelehnt wird, sei auch Wirtschaftswachstum zu problematisieren (zum Beispiel
Attac, Demonetarisierung, Post-Development).
Auch am Begriff Degrowth gab es Kritik: Schon allein das englische Wort stelle eine Barriere dar, zeige den fehlenden Bezug zur Basis und verkörpere einen elitären Ansatz (Recht auf Stadt). Degrowth transportiere, so bemerken andere, eine ökologische Verzichtsmoral und sei abschreckend – fast wie ein Schimpfwort – und außerdem alltagsfremd (zum Beispiel Artivism, Gewerkschaften).
Meist wird nicht empfohlen, den Begriff zu verwerfen, sondern ihn anders zu belegen und zu füllen. Der Fokus solle auf Prinzipien – wie Solidarität, Demokratie, Partizipation, Gleichberechtigung und sozialverträgliche Inklusion –, die die kritische Perspektive konstruktiv ergänzen, gelegt werden (Solidarische Ökonomie), Degrowth sei mit einer positiven Erzählung (
FUTURZWEI) oder Kreativität und Fantasie (Artivism) zu beleben .
Schwerpunktsetzung
Mehrere Autor_innen kritisieren die Schwerpunktsetzung im Bereich Strategie – und kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen. So ist Degrowth für einige zu theoretisch und wissenschaftlich (zum Beispiel 15M, Anti-Kohle-Bewegung, Artivism, Ökodorf-Bewegung, Recht auf Stadt), andere finden Degrowth eher aktivistisch (Plurale Ökonomik). Einige fordern, Degrowth dürfe nicht nur eine „Kommunikationsoffensive“ (flucht- und migrationspolitische Bewegung) bleiben, sondern müsse auch in praktische Auseinandersetzungen intervenieren (zum Beispiel
Attac). Andere hingegen plädieren dafür, das inhaltliche Profil von Degrowth zu schärfen (Recht auf Stadt).
Die Nähe zu Degrowth
Unterschiedlich fallen auch die Einschätzungen dazu aus, wie (nah) die Bewegungen zu Degrowth stehen, oder anders formuliert: wo die Autor_innen die eigene und die Degrowth-Bewegung im gesamten Mosaik verorten. Die Anti-Kohle-Bewegung steht Degrowth sehr nahe, die Jugendumweltbewegung versteht sich gar als Teil davon. Die Freie-Software-Bewegung sieht ihre Bemühungen als einen der Kämpfe der Degrowth-Bewegung.
Attac wiederum macht viele Gemeinsamkeiten aus, will aber aus verschiedenen Gründen nicht Teil davon sein. Bei den Platzbesetzungen in Spanien (15M) spielte Degrowth offenbar eine wichtige Rolle, war aber eben auch nur eine Perspektive unter vielen in dieser ‚Bewegung der Bewegungen‘.
Degrowth wird außerdem als komplementär zur ‚eigenen‘ Strömung (Post-Development), als Teil eines gemeinsamen Ganzen (Post-Extraktivismus), als Ziel (Transition Town), als weitere Ausprägung einer übergreifenden Strömung (Urban Gardening) oder als Bedingung für eine Transformation (Umweltbewegung) gesehen.
Ein spannender Reibungspunkt scheint die – tatsächliche oder gewünschte – Rolle von Degrowth im Spektrum der Bewegungen zu sein. So besteht durchaus die Sorge, dass Degrowth zu vereinnahmend ist (zum Beispiel Tierrechte) oder (Tabu-)Themen vorgibt und somit eine Monokultur etabliert (flucht- und migrationspolitische Bewegung). Die Autor_innen zur Solidarischen Ökonomie wiederum werfen, ganz allgemein, die Frage auf, ob es der Konkurrenz im Denken geschuldet sei, dass alle Bewegungen ihre Alleinstellungsmerkmale herauskehren (müssen)?
In der reflektierten Auseinandersetzung, die uns in den Texten begegnet ist, können wir (zumindest vordergründig) kein Konkurrenzgebaren erkennen, sondern eher den Wunsch, sich gemeinsam weiterzuentwickeln.
Im Rahmen des Projektes
Degrowth in Bewegung(en) fanden Auseinandersetzungen mit der je eigenen Initiative oder Bewegungen, mit Degrowth und mit anderen Strömungen statt. Dies trug zu einer (Selbst-)Reflexion bei und hat viele Akteur_innen miteinander in Beziehung gesetzt. Solche Netzwerke existieren selbstverständlich auch unabhängig von Degrowth-Projekten, sie wurden in diesem Rahmen jedoch gestärkt.
Die Autor_innen haben in sehr unterschiedlichem Maße und auf verschiedenen Ebenen Kritik und Anregungen formuliert, die sie vor allem an Degrowth richten. Dennoch sind diese Impulse eine wichtige Bereicherung für alle. In ihrer vollen Bedeutung und Tragweite entfalten sie sich erst vor dem Hintergrund der Geschichte und des Charakters der jeweiligen Bewegungen und Strömungen, wie sie sich beim Lesen der Texte offenbaren. Trotzdem wollen wir einige Aspekte herausgreifen.
Degrowth als Anregung und Chance
Die Autor_innen brachten viele Anregungen, die sie aus der Degrowth-Perspektive ziehen, zur Sprache. Worin diese bestehen, ist so vielfältig wie die Bewegungen selbst. Einige Punkte tauchten allerdings immer wieder auf – vielleicht hilft deren Kenntnis dabei, zu verstehen, warum Degrowth momentan für so viele eine Anziehungskraft hat.
Für einige Strömungen – vor allem für jene, die praktisch und lokal arbeiten – erweitert Degrowth den Horizont: Konzepte und Perspektiven, die mit dem eigenen Tun verbunden sind, rücken in den Blick. Degrowth stellt eine umfassendere Perspektive auf die eigenen Aktivitäten bereit und hilft dabei, das eigene Tun zu verorten (zum Beispiel Freie-Software-Bewegung, Offene Werkstätten, Ökodorf-Bewegung, Tierrechtsbewegung, Umweltbewegung). Es kann eine Argumentationshilfe liefern (zum Beispiel Recht auf Stadt), neue Zielgruppen erschließen (zum Beispiel Anti-Kohle-Bewegung) oder zur Repolitisierung kritischen Konsumierens beitragen (zum Beispiel Jugendumweltbewegung). Für die eher sozial orientierten Akteur_innen öffnet es den Horizont in Richtung ökologischer Fragestellungen (zum Beispiel 15M, Commons-Bewegung, Demonetarisierung, Recht auf Stadt). Umgekehrt liefert es den eher ökologisch orientierten eine wirtschaftspolitische und soziale Rahmung (zum Beispiel Tierrechtsbewegung, Umweltbewegung, Urban Gardening). Bewegungen, die sowohl sozial als auch ökologisch orientiert sind, machen eben darin Verbindungslinien zu Degrowth aus (zum Beispiel Ernährungssouveränität, Gemeinwohl-Ökonomie, Solidarische Ökonomie). Und Bewegungen des Globalen Südens (Buen Vivir, flucht und migrationspolitische Bewegung, Radikale Ökologische Demokratie) sehen in Degrowth ein wertvolles Gegenüber im Globalen Norden bei der Suche nach alternativen Entwicklungs- und Transformationsperspektiven.
Verhältnis zum Globalen Süden
Viele Autor_innen beziehen sehr kritisch zum Verhältnis zwischen Globalem Süden und Globalem Norden Stellung und fordern eine kritische Auseinandersetzung aller mit diesem Thema. Friederike Habermann (
Peoples Global Action) plädiert für eine Süd-Nord-Kooperation, da sonst Klimakolonialismus und Umweltrassismus drohten. Dabei geht es ihr um breite wirkliche Begegnungen, nicht um nur punktuellen Austausch der Intellektuellen. Von den Texten zu Buen Vivir und Post-Extraktivismus können wir lernen, wie wichtig die internationale Perspektive ist. Denn für eine sozial-ökologische Transformation, die ihren Namen verdient, müssten sich globale politische, sozial-ökonomische und kulturelle Verhältnisse ändern. Ulrich Brand (
Post-Extraktivismus) bringt das folgendermaßen auf den Punkt:
Für die Degrowth-Perspektive ist es zentral, die Verstrickungen der in Europa dominanten imperialen Produktions- und Lebensweise mit anderen Weltregionen zu verdeutlichen. Sonst droht Degrowth provinziell zu werden und die zerstörerischen Grundlagen der eigenen Alternativen zu übersehen.
Ashish Kothari (Radikale Ökologische Demokratie) und Alberto Acosta (Buen Vivir) betonen, dass Alternativen stets situationsabhängig sind und nicht überall gleich angewandt werden können. Gleichwohl sollten alle die Alternativen und Kämpfe in anderen Teilen der Welt zur Kenntnis nehmen und die eigenen Ansätze damit ins Verhältnis setzen.
Herrschaftskritik und Widerstand
Vielfach wird deutlich gefordert, herrschaftskritisch und widerständig zu sein oder zu werden – denn auch das kann gelernt werden. Friederike Habermann (
Peoples Global Action) betont, dass wir bei unseren jeweiligen Auseinandersetzungen nicht alle anderen Herrschaftsverhältnisse, die Menschen einschränken – und die ebenfalls bekämpft werden müssen –, vergessen dürfen. Das
Trouble Everyday Collective (queer-feministische Ökonomiekritik) warnt davor, die Augen vor Herrschaftsfragen zu verschließen und zu glauben, dass eine Transformation ohne Konflikte und reibungslos verlaufen könnte. John Jordan (Artivism) fordert eine Kultur des Widerstands; das heißt, dass Widerstand von einer breiten Masse der Bevölkerung gestützt werden muss.
Auch wenn eine Vision für Transformation und das gute Leben für alle wichtig ist, brauchen Bewegungen ein Feld der Auseinandersetzungen mit klaren antagonistischen Strukturen. In der Zusammenarbeit zwischen Degrowth und der Bewegung für Klimagerechtigkeit lässt sich ein solches Praxisfeld ausmachen: der Widerstand gegen Kohletagebaue (Klimagerechtigkeit). Gibt es vielleicht auch in anderen Bereichen solche Möglichkeiten, etwa zu Care oder zu Flucht und Migration?
Natur anders denken
Einige Bewegungen und Strömungen regen dazu an, das westliche, rationalistische und dichotomisierende Naturverständnis zu überdenken und durch ein umfassenderes Weltbild und andere Werte zu ersetzen. Zentral ist hier die Frage, wie eine Gesellschaft organisiert sein kann, die menschliche Bedürfnisse erfüllt und gleichzeitig die ökologischen Grundlagen bewahrt. So steht Buen Vivir für eine Ethik, in der nicht der Mensch den Mittelpunkt bildet: Menschen werden nicht einfach nur als Individuen, sondern in Gemeinschaft mit der Natur wahrgenommen.
Materielle Räume schaffen
Darüber hinaus wird die Bedeutung längerfristig bestehender konkreter physischer Räume betont. Dabei geht es einerseits um das Schaffen von Reallaboren (Offene Werkstätten), in denen Abstraktes konkret wird und nicht nur geredet wird. Andererseits geht es auch um das Zusammenkommen verschiedener Akteur_innen ‚vor Ort‘, um das Sichtbarmachen von Alternativen und um die Herstellung lokaler Bezüge, über punktuelle Veranstaltungen hinaus (zum Beispiel 15M, Ökodorf-Bewegung, Recht auf Stadt, Transition Town, Urban Gardening).
Milieugrenzen überwinden
Um eine sozial-ökologische Transformation Wirklichkeit werden lassen, ist es unerlässlich, eine breite Bewegung anzustoßen und über das bildungsbürgerliche Milieu hinaus Menschen zu erreichen und aufzunehmen. Im Gewerkschaftstext wird dazu angemerkt, dass den in der Degrowth- und Ökologiebewegung aktiven Menschen – gebildet und relativ wohlhabend – ein Verständnis der Situationen anderer Gruppen fehle. Jenseits des Bildungsbürgertums empfänden viele Degrowth als ‚öko‘ oder esoterisch und damit abschreckend.
Wie die selbstkritischen Reflexionen dazu zeigen, sind in vielen der Strömungen und Bewegungen tatsächlich vor allem Menschen aktiv, die gut gebildet, aus der Mittelschicht und weiß sind. Viele Autor_innen fordern daher von sich selbst und Degrowth, die eigene Blase zu verlassen. Die Beschäftigung mit der Frage, wie sich die Bewegungen und Strömungen zusammensetzen, wer (wie stark) partizipiert, wird als wichtig und gut, von einigen jedoch auch als anstrengend und unangenehm empfunden.
Einige Bewegungen sind besser darin, breit zu mobilisieren, und können den anderen neue Perspektiven eröffnen. Von Gewerkschaften und dem Netzwerk
Care Revolution lässt sich lernen, wie sozial-ökologische Fragen auch außerhalb des Bildungsbürgertums thematisiert werden können. Die Jugendumweltbewegung bringt die Perspektiven von Jugendlichen ein. Buen Vivir, Klimagerechtigkeit, Post-Development, Post-Extraktivismus und Radikale Ökologische Demokratie eröffnen Perspektiven aus dem Globalen Süden. Und Menschen, die für Ernährungssouveränität eintreten oder in der flucht- und migrationspolitischen Bewegung aktiv sind, haben Erfahrung mit transnationaler Organisierung und gemeinsamen Kämpfen von unterschiedlichen Menschen, etwa von solchen mit und ohne Flucht- und Migrationserfahrungen.
Degrowth in Bewegung(en) will dazu beizutragen, dass die verschiedenen Alternativen sich als Teil eines Mosaiks einer sozial-ökologischen Transformation wahrnehmen und dass sie gemeinsam aktiv werden.
Ziel ist, dass sich die beteiligten Bewegungen besser verstehen, aus den verschiedenen Perspektiven, Strategien und Erfahrungen lernen und dadurch eine bessere Grundlage für Organisierung, Projekte und Aktivismus zu schaffen.
In den Antworten auf die Frage nach ihrer Vision für die Zukunft nennen viele Autor_innen den Wunsch nach Zusammenarbeit, um unter den sich zuspitzenden ökologischen und sozialen Missständen an Durchsetzungsfähigkeit zu gewinnen. Wie also weiter mit dem Mosaik? Für Ashish Kothari (
Radikale Ökologische Demokratie), der in Indien an ähnlichen Bündnisprozessen beteiligt ist, besteht die wichtigste Aufgabe von
Degrowth in Bewegung(en) darin, die Essenz der Initiativen zu erkennen und herauszufinden, ob ihre Werte und Prinzipien auf einen zusammenhängenden Rahmen hindeuten: auf ein Gemeinsames, das
die zurzeit vorherrschende Denk- und Verhaltensweise der wachstumszentrierten ‚Entwicklungsmentalität‘ (‚developmentality‘) infrage stellen kann.
Wir sind der Ansicht, dass es einen solchen Rahmen gibt, dass seine Ausformung aber noch breit diskutiert werden muss. Sehr viele Bewegungen beziehen sich positiv auf die Idee und den Begriff einer sozial-ökologischen Transformation (explizit bei: Commons-Bewegung, Degrowth, Ernährungssouveränität,
FUTURZWEI, Gewerkschaften, Grundeinkommen, Recht auf Stadt, Plurale Ökonomik, Post-Extraktivismus und Umweltbewegung). Wie diese Begriff aber gefüllt ist und wie die Transformation aussehen und gestaltet werden soll, muss erst noch gemeinsam entwickelt werden. Bei allen Ideen und Ansätzen zur Zusammenarbeit gilt es zu bedenken, dass Kooperation kein Selbstzweck sein soll. Die Fokussierung auf unterschiedliche Themen und Projekte ist kaum vermeidbar und hat ihre Berechtigung. Die Frage ist also: Unter welchen Voraussetzungen, mit welchen Zielen und mit welchen Strategien arbeiten wir zusammen?
Es mangelt nicht an Vorschlägen, was Schritte zu einer gemeinsamen Bewegung oder zumindest zu gemeinsamem Handeln wären. So gibt es den Wunsch, gemeinsame koordinierte Protestaktionen zu konzipieren und durchzuführen (zum Beispiel Anti-Kohle-Bewegung,
Attac). Andere schlagen vor, als ersten Schritt ein gemeinsames Grundverständnis beziehungsweise gemeinsame Ziele zu entwickeln (zum Beispiel Commons-Bewegung, Ökodorf-Bewegung) und dann zu konkreten Themen überzugehen. Eine weitere Möglichkeit wäre, konkrete Alternativen aufzubauen (zum Beispiel 15M) und sich in diesen zu vernetzen (zum Beispiel Offene Werkstätten). Dies kann lokal, regional, national oder transnational geschehen, womit jeweils eigene Möglichkeiten und Herausforderungen einhergehen.
Wichtig scheint es uns jedenfalls, sich mit anderen Bewegungen (selbst)kritisch auseinanderzusetzen, bei anderen solidarisch mitzuwirken und potentielle Allianzen auszuloten und zu erarbeiten. Denn gemeinsame Perspektiven entstehen im Austausch und in konkreten Kooperationen und gemeinsamen Kämpfen. Ob daraus entstehende Bündnisse einen Beitrag für eine sozial-ökologische Transformation und gegen den erstarkenden Rechtsruck leisten können? Wir hoffen es zumindest. Aber alleine werden wir es nicht schaffen. Ob diese Gesellschaft wahrhaftig demokratisch wehrhaft ist, wird sich also vor allem an der Frage entscheiden, ob mehr Menschen die Zeichen der Zeit erkennen und anfangen, sich aktiv für soziale und ökologische Gerechtigkeit einzusetzen. Ansatzpunkte gibt es genug.
Verwendete Literatur
Bourdieu, Pierre 2001. Formen politischen Handelns und Existenzweisen von Gruppen. In:
Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft. Derselbe. Konstanz: UVK. 115-21.
Urban, Hans-Jürgen 2009. Die Mosaik-Linke: Vom Aufbruch der Gewerkschaften zur Erneuerung der Bewegung.
Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2009. 71-78.