Wir, die Autor_innen, sind in stadtpolitischen Kontexten aktiv und setzen uns für genossenschaftliche und kollektive Wohnformen ein.
Dieser Textbeitrag ist das Ergebnis von Gesprächen mit verschiedenen, stadtpolitisch aktiven Personen in Leipzig sowie der Betrachtung aktueller Inhalte von Initiativen, Konferenzen und Stadtaktionen auch in anderen Städten im deutschsprachigen Raum. Dabei handelt es sich um eine subjektive Darstellung und Einschätzung und um einen Versuch der Annäherung an eine bisher wenig beleuchtete Fragestellung in der Debatte um eine Stadt für alle. Welche Perspektiven bietet Degrowth als ein politischer, wirtschaftlicher und ökologischer Ansatz für wachsende Städte?
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Das „Recht auf Stadt“ beschreibt den Anspruch auf Teilhabe an der Stadt und ihrer zukünftigen Gestaltung
Mietkämpfe und Aneignungen des städtischen Raumes sind so alt wie die kapitalistische Verwertung von Wohnraum selbst. Die Initiativen, Gruppen und Netzwerke, die sich heute in Deutschland unter dem Motto „Recht auf Stadt“ organisieren und kritisch zu Stadtentwicklungsansätzen und deren Folgen positionieren, knüpfen an Erfahrungen früherer städtischer sozialer Bewegungen an. In den 1970er Jahren waren es in Westdeutschland zunächst Aktive linker und alternativer Gruppen, die mit Hausbesetzungen selbstverwaltete Zentren und Wohnprojekte schufen. An Bekanntheit und politischer Relevanz gewann diese Aktionsform, als sie sich in den 1980er Jahren nicht nur in Westberlin mit dem Kampf gegen Flächenabrisse verband. Proteste gegen polizeiliche Räumungen von „Instandbesetzungen“ weiteten sich zu einer Bewegung aus, welche die Stadtentwicklungskonzepte von oben kritisierte und gleichzeitig Visionen einer Stadt von unten entwickelte. Der Kampf gegen Flächenabriss und um die Mitgestaltung des städtischen Raums spielte auch in Leipzig im Kontext der Wende eine große Rolle (vgl. Bartetzky 2014). Seitens der Stadtpolitik bemühte man sich hier wie auch in anderen ostdeutschen Städten nach der Wende darum, einen funktionierenden Wohnungsmarkt zu etablieren. Ihre Mittel waren Privatisierung, Verknappung von Wohnraum durch staatlich geförderten Abriss und städtische Aufwertungsprozesse. War Leipzig ab Mitte der 1990er Jahre zunächst durch vergleichsweise großen Leerstand und günstige Mieten geprägt, zeigte sich hier spätestens in den 2010er Jahren die Folgen der Nachwendepolitik – eine Tendenz, die auch in anderen Großstädten beobachtet werden kann: In den einstmals vor dem Abriss geretteten innerstädtischen Gründerzeitvierteln steigen die Mieten deutlich. Die Gründe sind divers: der erneute Zuzug zahlungskräftiger Klientel in die Innenstädte, ein gestiegener Flächenverbrauch, die Finanzkrise, die Kapital ins „Betongold“ lenkt. Menschen, die die gestiegenen Mieten nicht mehr zahlen konnten, wurden so aus ihren Stadtteilen verdrängt.
Kritische Stadtforscher_innen etablierten hierfür den Begriff Gentrifizierung im deutschsprachigen Raum (zum Beispiel: vgl. Holm 2006). Dagegen erhebt sich Protest von ganz verschiedenen städtischen Initiativen und es formieren sich neue Bewegungen. Diese wenden sich gegen hohe Mieten und den Bau von Prestigeprojekten, also gegen die Stadtplanung von oben. Gekämpft wird für lokal verankerte Alternativprojekte wie Mietshäuser mit günstigen Mieten, Abenteuerspielplätze, Gemeinschafts- und Kleingärten, (ehemals) besetzte Zentren und Sozialeinrichtungen.
So klar sich der Kampf gegen eine konkrete Bedrohung ausnimmt, so schwierig ist es oft, eine breit geteilte Vision zu entwickeln. Schließlich haben sich die städtischen Bewegungen auch gerade in Abgrenzung zur „alten“ Linken (in Ost wie West) – die genau wusste, welchen Sozialismus oder Kommunismus sie den Leuten empfehlen wollte – entwickelt. Die neue Linke bemüht sich nun verstärkt, die isolierten sozialpolitischen Projekte und Auseinandersetzungen in ihrer Differenz wahrzunehmen und miteinander in Beziehung zu setzen. Sie sieht eine wesentliche Ursache für soziale Kämpfe in der Verfasstheit der Stadt im Kapitalismus. In der kapitalistischen Stadt wird Raum als Ware behandelt, auch Wohnraum. Weil er handelbar ist, kann er als Investitions- und Spekulationsobjekt fungieren. Weil Wohnraum Ware ist und weil Einkommens- und Vermögensverhältnisse ungleich sind, gibt es im Kapitalismus auch im Wohnverhältnis zwangsläufig Interessenkonflikte: zwischen denen, die mehr, und denen, die weniger haben. Der Widerspruch zwischen Wohnraum als Kapital und Wohnraum als Gebrauchswert lässt immer neue Ausgrenzungen und Ungleichheiten entstehen, die von Stadtverwaltung und Staat mal abgefedert (über Mietzuschüsse), mal angefeuert werden (über die forcierte Aufwertung von „Problemgebieten“). Die Gesamtstadt ist gleichzeitig unter kapitalistischen Bedingungen darauf angewiesen, die Kapitalverwertung vor Ort am Laufen zu halten, nicht zuletzt wegen der Steuereinnahmen.
Recht auf Stadt für alle
Die Wendung „Recht auf Stadt“ macht einen gesamtgesellschaftlichen Anspruch deutlich und bietet Anknüpfungspunkte für konkrete Forderungen. Ausgehend vom Hamburger Bündnis Recht auf Stadt hat sich die Forderung im deutschsprachigen Raum als Bezugspunkt etabliert. Der politische Slogan „Recht auf Stadt“ ist eine Referenz auf den französischen Theoretiker Henri Lefebvre (1968). Er beschreibt in seinem gleichnamigen Buch „Le droit à la ville“ (Das Recht auf Stadt) aus dem Jahr 1968 die Urbanisierung der Gesellschaft unter kapitalistischen Vorzeichen. Im Massenwohnungsbau und in den Eigenheimsiedlungen sieht er Ende der 1960er eine Homogenisierung von Lebensbedingungen und eine kapitalistische Kolonisierung des Alltagslebens. Lefebvre setzt all dem die Stadt als Utopie entgegen. „Stadt“ steht als Raum zwischen der privaten (und damit beschränkten) und der globalen (und damit kaum mehr fassbaren) Ebene der Gesellschaft. „Stadt“ steht für Lefebvre als Chiffre für Zentralität, als Möglichkeit der Kommunikation zwischen Unbekannten, als das Potential, unerwarteten Situationen zu begegnen. Die „Stadt“ steht auch für die Möglichkeit von Differenz, eben anders zu sein als die anderen. Mit dem „Recht auf Stadt“ postuliert Lefebvre den Anspruch auf das universelle Recht aller, an den Vorteilen des urbanen Lebens teilzuhaben (vgl. Holm 2011; Schmid 2011; Vogelpohl 2013).
Inzwischen gelang es NGOs auf internationaler Ebene, das Thema „Recht auf Stadt“ im Rahmen der UNESCO zu verankern. Von da aus nahm es seinen Weg in verschiedene politisch-institutionelle Prozesse. Zugleich bemühen sich zahlreiche Basisbewegungen darum, unter diesem Motto die kritische Bewegung einer urbanen Gesellschaft zu schaffen (vgl. Morawski 2014: 29 ff.). Im deutschsprachigen Raum sind es vor allem postautonome Gruppen, die sich darum bemühen, mit der Idee „Recht auf Stadt“ aus ihrer Szene heraus zu agieren. Lefebvres Utopie interpretieren sie als einen Anspruch, der gemeinsam einzulösen ist und allen offensteht. Die Stadt wird zu einem Ort, an dem ein anderes Leben möglich ist – die Stadt für alle! Sie ist die radikale Alternative zu idealisierten Stadtentwicklungskonzepten von oben. Sie ist eine deutliche Absage an die „autogerechte Stadt“, die „unternehmerische Stadt“, die „smart city“. Fordern Recht-auf-Stadt-Gruppen eine Stadt für alle, dann fordern sie den kollektiven Anspruch an der Teilhabe an politischen Prozessen. Die Stadt wird so zu einem Ort, an dem Menschen unterschiedlicher Lebensstile und Ansprüche im Urbanen zusammenkommen und die Auseinandersetzung suchen können.
Wohnraum für alle!
Die Verteilung und Schaffung von Wohnraum ist eines der wichtigsten politischen Handlungsfelder für Recht-auf-Stadt-Gruppen. Dabei ist die Absage an die neoliberale These, der Markt könnte Wohnraum bedürfnisgerecht verteilen, ein Grundkonsens der verschiedenen Gruppen. Denn schließlich ist es seit der Industrialisierung nicht gelungen, über eine renditeorientierte Immobilienwirtschaft eine Verteilung und Bereitstellung von Wohnraum zu organisieren, die
nicht soziale Ungleichheiten reproduzieren. Wohnraum soll also nicht als Ware gehandelt, sondern in Hinblick auf seinen Gebrauchswert betrachtet werden. Auch deshalb werden klassische wohnungspolitische Instrumente wie die Subventionierung eines sozialen Wohnungsbaus in der Hand renditeorientierter Unternehmen abgelehnt.
Als Alternative zu klassischen wohnungspolitischen Instrumenten werden in Recht-auf-Stadt-Zusammenhängen Modelle jenseits des Marktes diskutiert. Dabei wird die Vergesellschaftung von Wohnraum als Alternative und zu erreichende Praxis betrachtet
2 . Die Diskussionen drehen sich in der Regel aber um kleinteiligere Reformen. Bei aktuellen Konferenzen und Treffen werden etwa mietrechtliche Reformen, aber auch die Schaffung einer neuen Gemeinnützigkeit für nicht renditeorientierte Wohnungsbauträger diskutiert. Auch Hausprojekte in Kollektiveigentum, wie zum Beispiel beim Mietshäuser Syndikat, werden oft zum Vorbild für gemeinnützig organisierten und selbstverwalteten Wohnraum genommen.
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Von unten und für alle? Recht-auf-Stadt-Akteur_innen und -Handlungsfelder
In den deutschen Städten ergibt sich ein diverses Bild der stadtpolitisch aktiven Personen. Weil viele Bewohner_innen der Städte zur Miete wohnen, verbindet die Recht-auf-Stadt-Bewegung verschiedene Milieus. Wegen dieser hohen unmittelbaren Betroffenheit treffen in den vielen Initiativen und Zusammenschlüssen Menschen verschiedener sozialer und ökonomischer Hintergründe aufeinander. Ihre Praxis lässt sich in drei Handlungsfelder aufteilen: Unterstützung von betroffenen Mieter_innen und solidarische Nachbarschaften; aktive Stadtpolitik einfordern; Kritik an renditeorientierten Wohnungsunternehmen.
Unterstützung von betroffenen Mieter_innen und solidarische Nachbarschaften
Weil eines der zentralen Themen das Wohnen ist, sind die meisten Gruppen vor allem lokal im Stadtviertel aktiv. Eines der wichtigsten Handlungsfelder ist dabei erstens die Unterstützung von betroffenen Mieter_innen, etwa wenn diese gegen ihren Willen aus ihren Wohnungen ausziehen müssen. Gründe dafür sind beispielsweise Modernisierungsankündigungen der Eigentümer_innen, die zu hohen Mieten führen, oder Entmietungsstrategien, um eine Neuvermietung zu erwirken und damit eine höhere Miete verlangen zu können. Dabei brauchen die meisten Betroffenen zunächst vor allem rechtlichen Beistand. Die Unterstützung geht aber weiter. Viele Betroffene nehmen solche Mietprobleme als individuelles Problem wahr, über das sie lieber schamhaft schweigen. Deshalb ist das Ziel vieler Recht-auf-Stadt-Initiativen, die Betroffenen dieser vermeintlichen Einzelfälle zusammenzubringen. Erfolge erzielten dabei zum Beispiel die Initiativen
Zwangsräumung verhindern in Berlin sowie
Alle für Kalle! in Köln. Ziel dieser Initiativen ist es, dass Mieter_innen in ihren Wohnungen bleiben können. Zudem haben diese Mietkämpfe oft ein hohes Mobilisierungs- und Politisierungspotential und befördern die Solidarisierung von Nachbar_innen.
Die Forderung „Recht auf Stadt“ gibt betroffenen Mieter_innen Argumente an die Hand, Wohnen als kollektives Recht einzufordern. Meist wird das Recht zu bleiben dabei individuell vor Gericht oder zumindest mit rechtlichem Beistand erkämpft.
Aktive Stadtpolitik einfordern
Es ist im Kern der Forderung nach dem Recht auf Stadt angelegt, dass diese vor allem lokal, bezogen auf die jeweilige Stadt, erhoben wird. Ein zweites Handlungsfeld ist daher die Arbeit mit der Stadtpolitik – als öffentlicher Akteurin. Die Initiative
Leipzig – Stadt für alle, in der wir selbst aktiv sind, beobachtet und kommentiert Leipziger Stadtpolitik. Stadtratsbeschlüsse und kommunale Wohnungspolitik werden beurteilt und die öffentlichen Akteure in die Pflicht genommen. In Frankfurt am Main setzt sich die Kampagne
Eine Stadt für alle! Wem gehört die ABG? dafür ein, das stadteigene Wohnungsunternehmen ABG in die Verantwortung zu nehmen, und forderte einen „nbefristete und bedingungslose Mietenstopp in allen ABG-Wohnungen“ (Eine Stadt für alle 2015).
Auch stadteigene Kampagnen, die die Stadt als Wirtschaftsstandort attraktiv machen wollen – zum Beispiel Bewerbungen für Olympische Spiele, 1000-Jahr-Feiern oder die Internationale Bauausstellung – sind oft Ziel von Gegenkampagnen.
Kritik an renditeorientierten Wohnungsunternehmen
Drittens stehen renditeorientierte Wohnungsunternehmen im Fokus der Kritik und werden zum Ziel von Protest. Neben klassischen Aktionsformen wie Demonstrationen treten dabei auch neue Formen des Protests und der Intervention, die mit Ironie die Widersprüche eines kapitalistischen Wohnungsmarkts aufzeigen. So werden Besichtigungstermine für neu sanierte Luxuswohnungen politisch genutzt und umgedeutet: In mehreren Städten sind Aktivist_innen bei diesen Terminen mit Sekt, Konfetti und Musikanlage zur „Fetten Mietenparty“ aufgetaucht. Zumindest für kurze Zeit wird so den Makler_innen und potentiellen Mieter_innen der Spiegel ihrer eigenen Privilegien vorgehalten.
Das Hamburger Bündnis Recht auf Stadt
Das Bündnis Recht auf Stadt in Hamburg führt alle drei Handlungsfelder beispielgebend zusammen. Das Bündnis ist eine stadtweite Vernetzung aus verschiedenen Initiativen und Gruppen, die Arbeitsräume von Künstler_innen erkämpfen (zum Beispiel: Gängeviertel), von Entmietung betroffene Mieter_innen unterstützen (zum Beispiel: Essohäuser) oder Kleingärten verteidigen. Das Bündnis wird medial und von öffentlichen wie privaten Akteur_innen als relevante politische Stimme wahrgenommen. Es formulierte gemeinsame Stellungnahmen und schafft es, das Recht auf Stadt auf verschiedenen Ebenen zu erstreiten.
Die Initiative
Recht auf Stadt – never mind the papers bemüht sich um die Öffnung der Debatte in Richtung geflüchteter Menschen.
Die Kooperative als Alternative: Degrowth und Recht auf Stadt treffen sich in der Nische
Die Gemeinsamkeiten von Degrowth und Recht auf Stadt finden sich in einem linken Grundkonsens. Es liegt auf der Hand, dass sich beide Denkansätze in ihrer kapitalismuskritischen Haltung und der Forderung nach Teilhabe aller an Entscheidungsprozessen nah sind. Der Begriff Degrowth wird im Umfeld von Recht auf Stadt allerdings selten verwendet.
Degrowth versammelt ambitionierte theoretische Analysen, welche die Notwendigkeit der Abkehr vom Wachstumsdenken deutlich machen und die ihren praktischen Niederschlag in umfangreichen Konferenzen und Bildungsprogrammen finden. Dabei dienen kleine Nischenprojekte wie Gemeinschaftsgärten als Beispiele für den erhofften Wandel. Und hier, auf der praktischen Ebene, begegnen wir uns: Nimmt man die utopischen Ziele beider Bewegungen zusammen, so gibt es viele Überschneidungspunkte: Degrowth strebt das
gute Leben für alle an, während Recht-auf-Stadt-Bewegte die
Stadt für alle proklamieren. So treffen wir uns in der Praxis. Denn die Projekte, die Degrowth als Beispiele für das gute Leben heranzieht, sind oft dieselben wie jene für eine Stadt für alle. Recht-auf-Stadt-Initiativen setzen sich unter anderem für Nachbarschaftsgärten, Hausprojekte, Wagenplätze und alternative Freiräume in der Stadt ein. Betrachtet man das Programm der
Degrowth-Sommerschule, finden sich ähnliche Beispiele, ergänzt durch Repair-Cafés, Gemüsekooperativen und solidarische Landwirtschaft.
Die alternativen Ansätze beider Bewegungen funktionieren kleinteilig und haben einen Kollektivierungsanspruch. Es scheint also, als ob das gute Leben in einer Stadt für alle zwischen selbstverwaltetem Wohnraum und kooperativen Arbeitsverhältnissen möglich ist. Doch reicht das? Degrowth und Recht auf Stadt begegnen sich in der Praxis, aber diese findet sich vor allem in Nischen. Schließlich kann beobachtet werden, dass diese Projekte nur von bestimmten Milieus getragen und genutzt werden. Deshalb muss ein gemeinsames Ziel sein, den Für-alle-Anspruch auch tatsächlich umzusetzen.
Degrowth braucht mehr Basisbezug!
Degrowth sollte das Profil schärfen
Trotz Definitionen (vgl. Degrowth-Webportal 2015) bleibt für uns unklar, was die Degrowth-Bewegung eigentlich ausmacht. Einerseits präsentiert sich der Begriff als Klammerperspektive, die all die disparaten Formen der Wachstumskritik und Alternativprojekte zusammenbringen will und damit selbstverständlich auch Bewegungen gegen die Privatisierung von Gemeingütern, gegen den Neubau von Autobahnen und für die Schaffung von Gemeinschaftsgärten umfasst. Nun gab es diese Bewegungen aber auch schon vor dem Label Degrowth, das ihnen heute anhaftet.
Unter dem Degrowth-Ansatz im engeren Sinne verstehen wir andererseits Ansätze von Akteur_innen einer spezifischen Theoriedebatte, die Konferenzen, wissenschaftliche Texte und Bildungsarbeit organisieren. Hinzu kommen jene Akteur_innen, die in den alternativen Nischenprojekten mit anderen Formen des Wirtschaftens experimentieren oder als aufgeklärte Individuen individuelle Verhaltensänderungen leben. Ein Vorzug von Degrowth ist, dass immer auch diese individuelle Ebene in den Blick genommen und somit eine Perspektive geboten wird: Jede_r Einzelne kann jetzt schon ihr_sein Verhalten ändern.
Gerade weil Degrowth vieldeutig ist, sind
Elemente der Debatte durchaus anschlussfähig für reaktionäre Motive. Im deutschsprachigen Raum gibt es diesbezüglich eine konsequente Gegenpositionierung derjenigen, die sich unterm dem Label Degrowth vereinen. In anderen Kontexten ist dies nicht so eindeutig der Fall: Die Elemente der Wachstumskritik finden sich etwa in Frankreich durchaus auch in völkischen Kontexten, etwa, wenn das Wachstum der anderen begrenzt werden soll – oder wenn „wir“ zu einer ursprünglichen Wirtschaftsweise zurückkehren sollen (zum Beispiel: vgl. Nabert 2016).
Degrowth braucht mehr Basisbezug
Wir begreifen Degrowth vor allem als theoretischen Ansatz, weniger als soziale Bewegung. Degrowth ist ein wissenschaftlicher Diskurs. Das wird schon am Begriff deutlich. „Ein Vorteil des zunächst negativ klingenden Wortes ist, dass es unbequem ist und sich nicht leicht einverleiben lässt“, so steht es auf der Homepage
www.degrowth.de. Schon die Wortwahl signalisiert ein Abgrenzungsbedürfnis. Wir lesen diese Definition als ein Konzept ohne Basisbezug. Sie nimmt im deutschsprachigen Kontext bewusst in Kauf, dass Menschen ohne Englischkenntnisse sich den Begriff nicht zu eigen machen können.
Die akademische Herkunft des Begriffs teilt die Degrowth-Perspektive mit Recht auf Stadt. Der Unterschied: Ausdrücke wie „Recht auf Stadt“ oder auch „Stadt für alle“ lassen sich auch ohne Fremdsprachenkenntnisse unmittelbar verstehen. Diese Kurzformeln bieten genug Anknüpfungspunkte für Alltagskämpfe (wie zum Beispiel bei
Kotti & Co) und tragen gleichzeitig eine positive Vision in sich. Kulminationspunkte von Recht-auf-Stadt-Bewegungen sind daher weniger wissenschaftliche Konferenzen als vielmehr Stadtteilproteste und Aktionstage.
Degrowth ist von seiner Herkunft her ein Eliten-Ansatz, entstanden als Ausdruck der Verunsicherung einer Elite im globalen Norden dieser Erde. Akademiker_innen kommt die Aufgabe zu, diese Verunsicherung im Degrowth-Ansatz zu formulieren. Er bietet eine umfassende Analyse und ein daraus folgendes schlüssiges Konzept: Wir müssen schrumpfen. Insofern dieses „Wir“ von gehobenen Angehörigen einer Industriegesellschaft ehrlich ausgesprochen wird, ist das ein sinnvoller Ansatz. In gewissem Sinne gehören die meisten Deutschen global gesehen zu den Profiteur_innen des Systems. Es spricht also nichts dagegen, gleich hier vor Ort anzufangen mit der Wachstumswende. In den peripheren Regionen dieser Welt könnte eine derartige Perspektive wiederum dazu verhelfen, sich anderer Entwicklungsziele als jenes des maximalen Wachstums zu besinnen. Problematisch wird es für uns dann, wenn mit der Begründung „Wir müssen aufhören, zu wachsen“ in der öffentlichen Diskussion Kämpfe um soziale Teilhabe der vom gesellschaftlichen Reichtum Ausgeschlossenen abgewürgt werden. Das versuchen konservative Verfechter_innen einer Wachstumswende.
Kämpfe für eine Stadt für alle könnten von einem theoretischen Überbau profitieren
Als Leipziger Stadt-für-alle-Gruppe agieren wir vor allem im lokalen Kontext. Hier sind wir immer wieder ganz unmittelbar mit Problemen beschäftigt, die durch den Städtewettbewerb befeuert werden. Leipzig hat sehr klamme Finanzen, daher gilt hier wie in vielen Städten die Maxime: Die lokale Wirtschaft muss wachsen und Gewerbesteuereinnahmen produzieren. Die daraus folgende Orientierung am Leitbild „unternehmerische Stadt“ mit der Schaffung eines günstigen Investitionsklimas ist der Hintergrund vieler konkreter Kämpfe um ein Recht auf Stadt. Wer sich nun nicht nur gegen die konkrete Überbauung eines Nachbarschaftsgartens stellt, sondern die Orientierung am Wirtschaftswachstum hinterfragt, steht schnell als Fantast da. Dem Wachstumsparadigma nicht nur praktische Beispiele, sondern auch konkrete Argumente und einen theoretischen Überbau entgegenzusetzen, hilft uns als Akteur_innen. Konsequent angewendet, könnte die Degrowth-Perspektive dazu verhelfen, ein vom Wachstum entkoppeltes Wirtschaften in wachsenden Städten denkbar zu machen.
Degrowth ergänzt das Recht auf Stadt um ökologische Ziele. Es bietet mit seinen Referenzen auf die Commons-Debatte zudem Anregungen, einen starken kommunalen Wirtschaftssektor anders zu denken, als es die bisherigen marktorientierten und hierarchisch geprägten kommunalen Wohnungsunternehmen tun. Der Bezug auf kreative Nischenprojekte ist aber noch zu begrenzt angesichts der Vielfalt kommunaler Themen und Aufgaben.
Auf allen Ebenen ansetzen: Für eine soziale und ökologische Stadt für alle
Degrowth braucht lokale Relevanz
Nischenprojekte sind wichtig. Von ihnen allein können wir aber keinen gesellschaftlichen Wandel erwarten, deshalb fragen wir Degrowth nach einer mittleren Ebene und nach dem Akteursbezug: Wir sind gespannt auf Antworten auf Fragen der Gemeindefinanzierung und des sozialen Wohnungsbaus. Erst dann, wenn es gelingt, die Ideen einer Degrowth-Perspektive auf die Ebene der Stadt zu übertragen – einer Stadt, deren Ziel es ist, Lebensqualität zu sichern, und die sich deshalb auch der Energie- und Ernährungsautonomie widmet; einer Stadt, die in großem Stil kommunalen Wohnraum für alle schafft –, erst dann wird Degrowth wirklich relevant. Der Degrowth-Ansatz kann nur dann in bedeutendem Maße zur sozial-ökologischen Transformation beitragen, wenn er Konzepte mittlerer Reichweite entwickelt und benennt, wer die Akteur_innen sind, die diesen Wandel vorantreiben. Denn auch wenn wir Degrowth als theoretischen Ansatz verstehen, sollten Handlungsstrategien für eine praktische Umsetzung nicht ausbleiben. Denn Degrowth will mehr sein als Kapitalismuskritik; diese ist vermutlich allen, die bei
Degrowth in Bewegung(en) beteiligt sind, gemein.
Weg von der akademischen Arbeit hin zum Praktischen
Wir betrachten die aktuelle Einbettung der Degrowth-Perspektive in die Klimacamps als sehr positiv. Doch diese Aktionsformen sind momentan noch stark durch ihren Event-Charakter geprägt, und ihre Einbettung war eine Degrowth-typische: in die Sommer
schule. Wir würden einen noch stärkeren Einsatz im lokalen Bereich mit einer Anbindung an eine grundlegende Gesellschaftsanalyse begrüßen: beispielsweise wenn es um Neubau von Wohnungen geht oder um bezahlbares und gutes Wohnen für Geflüchtete. Momentan konzentrieren sich die Aktivitäten auf Analysen, Bildungsarbeit und Politikberatung. Wenn sich Degrowth als umfassender gesellschaftlicher Ansatz ernst nimmt, muss es möglich sein, auch konkrete soziale Fragen aus dieser Perspektive zu betrachten und dazu Antworten zu entwickeln. Antworten allein genügen aber nicht: Es gilt, diese mit anderen Akteur_innen auch umzusetzen.
Ökologische und soziale Fragen zusammenbringen
Die Recht-auf-Stadt-Bewegung nimmt selten eine ökologische Perspektive ein. Wir können viel von Umweltaktivist_innen lernen, um bessere Antworten auf die Fragen nach Flächenverbrauch und -versiegelung und Sanierungsauflagen in der Stadt zu finden. Ganz praktisch könnte das heißen, dass man gemeinsam Stellung zur energetischen Sanierung von Gebäuden bezieht, mit denen momentan Mietsteigerungen begründet werden. Oder: In Bezug auf Leipzig wäre eine kommunale Wirtschaftsförderungsstrategie im Sinne von Degrowth sicherlich sinnvoll. Wie sieht eine kommunale Wohnraumversorgung in einer wachsenden Stadt aus, ohne dass man auf renditeorientierte Investor_innen angewiesen ist? Wie kann ein Degrowth-Mobilitätskonzept aussehen, wie die Schulverpflegung, wie Bebauungspläne in Neubaugebieten oder gar der
Verzicht auf Neubau?
Wenn es gelingt, wissenschaftliche Diskussion und alltägliche Konflikte in der Stadt zu vermitteln und Ansätze mittlerer Reichweite zu entwickeln, die auf einen Basisbezug setzen und damit von ganz verschiedenen gesellschaftlichen Schichten getragen werden können, dann kann die Degrowth-Perspektive dazu beitragen, dass das gute Leben in der Stadt für alle möglich wird.
Links
> Plattform für stadtpolitisch Aktive
> Kotti & Co – Initiative protestierender Mieter_innen am Kottbusser Tor in Berlin
> Recht auf Stadt Hamburg – Netzwerk diverser Initiativen gegen Gentrifizierung
> Zwangsräumung verhindern
> Alle für Kalle! Kalle für Alle! –Video
> „Der Kampf um die Stadt – Wie können wir uns gegen Mietsteigerungen wehren?“ – Studiogespräch mit Lisa Vollmer
Verwendete und weiterführende Literatur
Bartetzky, Arnold 2015.
Die gerettete Stadt. Architektur und Stadtentwicklung in Leipzig seit 1989. Leipzig: Lehmstedt.
Degrowth-Webportal 2015.
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https://www.degrowth.info/de/was-ist-degrowth/>
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Holm, Andrej 2010:
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Lefebvre, Henri 1968.
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Recht auf Stadt als kritische Perspektive und kritische Praxis (Audio-Mittschnitt: Vortrag und Diskussion). Zugriff: 31.05.2016. <
http://www.freie-radios.net/61129>