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Gewerkschaften

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Title: Wer kann es sich leisten, zu verzichten?

By: Jana Flemming und Norbert Reuter

Release date: 12.07.2016

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Jana Flemming ist Doktorandin am Lehrstuhl für Politikwissenschaften der Universität Wien und untersucht in ihrem Dissertationsvorhaben Perspektiven sozial-ökologischer Lebensweisen unter kultursoziologischen Gesichtspunkten am Beispiel von Beschäftigten und Gewerkschaften.
Norbert Reuter leitet die Tarifpolitische Grundsatzabteilung im Bundesvorstand der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) in Berlin und ist Privatdozent für Volkswirtschaftslehre an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen.1
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1 Dank für die Titelinspiration “Gewerkschaften: Wer kann es sich leisten, zu verzichten?” geht an Daniel Förste.

An die eigene Geschichte anknüpfen: sozial-ökologische Transformation als Teil gewerkschaftlicher Interessenvertretung?
Im internationalen Vergleich liegt die Besonderheit deutscher Gewerkschaften darin, dass sie sehr stark institutionalisiert sind und sich durch eine außerordentliche Verbandsgröße auszeichnen. Die IG Metall und ver.di gehören mit 2,3 beziehungsweise 2,0 Millionen Mitgliedern zu den mitgliederstärksten freien Arbeitnehmerverbänden der Welt.
Als Vereinigungen von in der Regel abhängig Beschäftigten wird ihnen wie den übrigen Gewerkschaften häufig vorgeworfen, dass sie vor allem in Zeiten ökonomischer Krisen dazu neigten, den Unternehmen gegenüber umfassende Zugeständnisse zu machen, um auf diese Weise Arbeitsplätze und Einkommen ihrer Mitglieder zu sichern. Damit würden sie sich faktisch als „kooperative Krisenmanager“ verhalten, was, wie Klaus Dörre (2011: 278 f.) festhält, fatale Folgen haben kann: „Trotz oder gerade wegen ihrer unbestreitbaren Erfolge beim Krisenmanagement laufen auch die deutschen Gewerkschaften Gefahr, zu bloßen Vertretungen von Pressuregroups zu werden.“ Gewerkschaftspolitik drehe sich dann in erster Linie um die Lohn- und Arbeitsplatzinteressen von (Stamm-)Beschäftigten in den einzelnen Branchen. Dies führe zu einer partikularen Vertretung der Interessen von Beschäftigten, die auch gegen übergreifende gesellschaftliche Interessen, wie zum Beispiel ökologische Nachhaltigkeit, gerichtet sein können (Dörre 2011: 288).
Entgegen der Annahme, dass Gewerkschaften sich nur der Sicherung von Einkommen und Arbeitsplätzen widmen, sind in der Vergangenheit zahlreiche gesellschaftlich wichtige Themen von ihnen bewegt worden. Seit Anfang der 1970er Jahre finden sich
Anliegen der Anti-Atomkraft-, Dritte-Welt-, Umwelt- und Naturschutzbewegungen, des neuen Feminismus, der umweltorientierten Technikkritik, der neuen Alternativ- und Selbstverwaltungsökonomie sowie der verschiedenen Emanzipationsbewegungen sozialer, ethnischer und sexueller Minderheiten auch in den Diskussionen der Gewerkschaftstage wieder; sie wurden bevorzugte Themen der Gewerkschaftspresse und der gewerkschaftlichen Bildungsveranstaltungen.

(Wiesenthal 2014: 402)


Angesichts der gegenwärtigen multiplen Krisenerscheinungen tauchen diese Debatten zum Teil wieder in den aktuellen Diskussionen und Beschlüssen der Gewerkschaften auf. Von der IG Metall wird beispielsweise ein „grundlegender Kurswechsel eingefordert. Unsere Ziele sind qualitatives Wachstum und ein nachhaltiger Umbau der industriellen Produktion, damit es gelingt, die Chancen für ein ‚gutes Leben‘ auch künftigen Generationen zu ermöglichen“ (Lemb 2015: 12). Bei ver.di finden sich ähnliche Überlegungen:
Um einen ökologischen Umbau mehrheitsfähig zu machen und umzusetzen, ist eine Konzeption notwendig, die zugleich mehr Lebensqualität für die Mehrheit der Menschen bringt und die sozial- und beschäftigungspolitischen Zielsetzungen befördert. Dies erfordert eine alternative Wirtschaftspolitik, die auf ein qualitatives, selektives, sozial-ökologisch gesteuertes Wachstum des BIP gerichtet ist. Es geht also um einen sozial-ökologischen Umbau.

(ver.di 2011: 2)


Zementierte Differenzen, ignorierte Gemeinsamkeiten

Der Konflikt zwischen Arbeitsplätzen und Umwelt


Nach wie vor lassen sich harte Fronten zwischen den Gewerkschaften auf der einen Seite und ökologisch motivierten Bewegungen auf der anderen Seite ausmachen. Auf beiden Seiten gibt es häufig Kritik am Gegenüber: Von Seiten der ökologisch motivierten Bewegungen wird den Gewerkschaften vorgeworfen, sie würden sich weigern, die Bewältigung ökologischer Probleme systematisch in ihre Politik aufzunehmen. Zum Teil wird empört und mit Unverständnis auf „die“ Gewerkschaften verwiesen, die etwa weiter den klimaschädlichen Braunkohleabbau fördern, um Arbeitsplätze zu sichern. Vor dem Hintergrund der ökologischen Krise und der damit verbundenen Wachstumskritik haben es die Gewerkschaften daher schwer, als Mitakteur einer sozial-ökologischen Wirtschaftswende akzeptiert zu werden. Aus Sicht vieler ökologisch motivierter WachstumskritikerInnen gelten sie als ebenso unkritische wie mächtige Befürworter wirtschaftlichen Wachstums (vgl. Reuter 2014: 555). Umgekehrt werfen Gewerkschaften der Ökologiebewegung und AkteurInnen aus dem Postwachstumsspektrum vor, sie nähmen in ihren politischen Forderungen keine oder nur wenig Rücksicht auf die Interessen von Beschäftigten und den Erhalt von Arbeitsplätzen.
Allerdings wird bei diesen gegenseitigen Vorwürfen häufig übersehen, dass ein objektiver Konflikt zwischen ökologischen, ökonomischen und sozialen Belangen besteht, der als „magisches Dreieck“ bezeichnet werden kann. „Magisch“ deshalb, weil die Erreichung eines Ziels in der Regel mit der Verletzung eines anderen Ziels einhergeht: Alle Ziele sind kaum gleichermaßen zu erreichen. Eine Lösung wird daher immer Kompromisscharakter haben müssen. Mit der Extraktion von fossilen Ressourcen werden beispielsweise einerseits Arbeitsplätze und Einkommen für Beschäftigte in Deutschland wie in vielen anderen Ländern geschaffen, gleichzeitig aber eine ökologisch zerstörerische Dynamik vorangetrieben. Weltweit gibt es zahlreiche Beispiele von Gewerkschaften, die an der Seite von Unternehmen für den Erhalt umweltverschmutzender Industrien kämpfen – damit aber gleichzeitig auch für den Erhalt von Arbeitsplätzen und damit der Lebensgrundlage vieler Menschen. Dieses Phänomen wird auch als „Jobs versus Environment Dilemma“ (Räthzel/Uzzell 2011) beschrieben. Umgekehrt lassen sich aber ebenso zahlreiche Forderungen aus der Umwelt- und Postwachstumsbewegung aufzählen, die – wenn sie zum Beispiel die Abwicklung umweltschädigender Industrien fordern – negative soziale und beschäftigungspolitische Aspekte weitgehend ignorieren (vgl. Felli 2014: 373).
Die Widersprüche zur Degrowth-Perspektive lassen sich auch aus der historischen Entwicklung von Gewerkschaften ableiten: In der Kohle- und Stahlproduktion etwa wurden einst zentrale Verbesserungen für die arbeitende Bevölkerung durchgesetzt. Heute versuchen Gewerkschaften in modernen ressourcenschonenden Sektoren wie der Windenergiebranche ihre Kernkompetenzen deutlich zu machen und setzen sich für Betriebsräte und Tarifverträge ein. Eine gesamtgesellschaftliche, sozial-ökologische Perspektive müsste Dörre (2015: 248) zufolge jedoch darüber hinausgehen und den umfassenden Umbau der gesamten Produktions- und Lebensweise in den Blick nehmen. Sie würde auch die gewerkschaftliche Diskussion über ein gutes Leben unter sozial-ökologischen Gesichtspunkten neu beleben.
Die Suche nach Lösungen: die Frage nach einer sozial-ökologischen Lebensweise als gemeinsamer Bezugspunkt
Die Suche nach Lösungen der sozial-ökologischen Krise zielt häufig auf wachstumsdämpfende politische Maßnahmen. Dazu gehören steuerliche Anreize bis hin zu Produktionsverboten. Eine weitere wichtige Dimension betrifft die (Um-)Gestaltung unserer derzeitigen Lebensweise, die auf der ungehemmten Ausbeutung der Natur, vor allem auf fossilen Brennstoffen beruht. In der Degrowth-Perspektive hat die Veränderung der Lebensweise zentrale Bedeutung. Das so genannte Wirtschaftswunder der 1960er und 1970er Jahre beförderte die Schaffung neuer Konsumnormen und Wertmuster (vgl. Görg 2003: 129). Beschäftigte profitierten in der Vergangenheit natürlich auch von dem mittels wirtschaftlichen Wachstums erzeugten Wohlstand. Diese hegemoniale Lebensweise des globalen Nordens beruht jedoch, vermittelt über globale Wertschöpfungsketten, auf ökologischer Zerstörung und Ausbeutung von Arbeitskräften im globalen Süden (Brand/Wissen 2011).
Hinter dem Begriff der „Lebensweise“ verbirgt sich die Frage, was das gute Leben in der Gegenwart bedeutet und wie es als gesellschaftspolitisches Phänomen behandelt werden kann. Dafür braucht es eine neue Vorstellung davon, was wir unter Wohlstand verstehen (vgl. hierzu umfassend Deutscher Bundestag 2013). Im Postwachstumsspektrum spielt zum Beispiel die Gestaltung der Zeit in unserem Leben eine wichtige Rolle. Die Intention liegt darin, den beschleunigten „Zeitstrukturen in der Moderne“ (Rosa 2005) etwas entgegenzusetzen, indem gesellschaftliche Kooperationsformen entwickelt werden, die sowohl der menschlichen Lebensqualität im Sinne von Muße und Freizeit mehr Raum geben, als auch ökologisch angemessenere Lebensweisen befördern. Lebensqualität soll also nicht mehr nur monetär verengt werden, das heißt am Kontostand und Konsumniveau bemessen werden. Auch in gewerkschaftlichen Kreisen werden heute verstärkt Positionen vertreten, wonach Wohlstand sich nicht allein an der Höhe des Einkommens bemisst. Doch der Kampf um Lohngerechtigkeit ist auch ökologisch sinnvoll, da so zum Beispiel Konsummuster in Richtung mehr Qualität und mehr Sein statt mehr Haben verändert werden können.
Dies sind allerdings keine neuen Fragen. Die deutschen Gewerkschaften stellten schon früh Fragen nach dem guten Leben und den ökologischen Folgen der Produktion von Waren und Dienstleistungen. So veranstaltete die IG Metall bereits 1972 eine internationale Tagung unter dem Titel „Aufgabe Zukunft: Verbesserung der Lebensqualität“, die in zehn Tagungsbänden dokumentiert wurde (IG Metall 1972; vgl. Wiesenthal 2014: 403). Diese Ansätze für eine weitreichende Gesellschaftspolitik und -veränderung unter humanen und ökologischen Vorzeichen sind jedoch durch die politischen und ökonomischen Entwicklungen in den darauf folgenden Jahrzehnten in den Hintergrund gerückt. Insbesondere wirtschaftliche Krisensituationen drängten immer wieder die Bedeutung des Erhalts von Arbeitsplätzen und Einkommen in den Vordergrund.

Soziale Lagen bestimmen die Vorstellungen vom guten Leben mit


Bislang verbleibt die alltägliche Auseinandersetzung mit der ökologischen Krise in erster Linie in relativ wohlhabenden beziehungsweise gebildeten Milieus. In diesem Spektrum findet auch die Degrowth-Perspektive den meisten Zuspruch. Hierdurch geht das Verständnis für die Situation anderer gesellschaftlicher Gruppen häufig verloren. Für viele ist die Vorsilbe „Öko-“ immer noch eher ein Schimpfwort und Postwachstum eine esoterische Debatte, die mit der Alltagswelt wenig zu tun hat. Denn in einer Gesellschaft, die auf Lohnarbeit beruht und sich am Leitbild des sozialen Aufstiegs orientiert, gestalten Menschen bewusste, sozial-ökologische Lebensweisen in der Regel nur dann, wenn sie sich freiwillig und auf Grundlage einer ökonomisch relativ abgesicherten Position dafür entschieden haben (vgl. Voswinkel 2013; Noll/Weick 2014). Wer auf der gesellschaftlichen Aufstiegs- und Wohlstandsleiter unten ist, will erst einmal weiter nach oben. Nur wenn Menschen ein gewisses Wohlstandsniveau erreicht haben, sind sie in der Regel in der Lage und auch bereit, über grundlegende Verhaltensänderungen, die auch Verzicht beinhalten können, nachzudenken und entsprechende Handlungen folgen zu lassen.
Eine gewerkschaftliche Perspektive kann einen Beitrag dazu leisten, dass sozial-ökologische Fragen nicht nur in relativ wohlhabenden und bildungsbürgerlichen Milieus verbleiben, sondern gesamtgesellschaftliche Handlungsfähigkeit ermöglichen. Dies betrifft etwa das politische Feld der Energieproduktion und -versorgung, wo der Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie besonders hervortritt. Denn solange Beschäftigte keine Alternativen für Arbeitsplätze und Einkommen haben, müssen sich Gewerkschaften für den Erhalt der Arbeitsplätze einsetzen. Umweltschutz oder gar Fragen globaler Klimagerechtigkeit werden dann erst einmal zweitrangig. Umgekehrt tendieren ökologisch motivierte AkteurInnen dazu, beschäftigungspolitische Belange zu ignorieren. Vehement wird der sofortige Ausstieg aus der Kohle gefordert, während über die Lebensperspektiven derjenigen, die in und um die Industrien beschäftigt sind, allenfalls am Rande nachgedacht wird. Im Zweifel wird das Problem eher verdrängt und als für die ökologische Sache in Kauf zu nehmender „Kollateralschaden“ hingenommen.
Notwendig sind konstruktive Auseinandersetzungen um die Frage der Lohnarbeit angesichts der sozial-ökologischen Krise. Dies ist erstens von strategischer Relevanz. Denn die Gewerkschaften sind ein wirkmächtiger Akteur, ein auf dem Weg einer sozial-ökologischen Transformation unerlässlicher Bündnispartner. Zweitens handelt es sich aber auch um wichtige Interessen, die Gewerkschaften vertreten: Soweit Menschen nicht über Vermögen verfügen, sind sie auf Arbeitseinkünfte angewiesen. Diese banale Erkenntnis und daraus folgende Konsequenzen werden von manchen ökologisch motivierten und auch kapitalismuskritisch orientierten AkteurInnen oftmals ignoriert. Sie sind gewissermaßen auf dem sozialen Auge blind.
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die genannten Positionen den in der Debatte involvierten AkteurInnen bekannt sind. Dennoch ist zu beobachten, dass oftmals nur jeweils spezifische Aspekte im Fokus von Gewerkschaften, KapitalismuskritikerInnen oder Umweltbewegten stehen. Sie verfolgen oftmals primär ihre eigenen partikularen politischen Strategien und Ziele, nehmen sich gegenseitig häufig nicht ernst und fühlen sich jeweils un- oder missverstanden. Dies führt in der Folge dazu, dass weiter primär soziale oder primär ökologische Interessen verfolgt werden. Ein notwendiger Interessenausgleich kommt so nicht voran.
Die Produktions- und Lebensweise umgestalten: gerechte Übergänge für alle!
Eine emanzipatorische Perspektive in der Auseinandersetzung um ökologische Fragen und das gute Leben für alle muss auf der Analyse aufbauen, dass ökologische Probleme immer mit sozialen Problemen einhergehen; umgekehrt haben soziale Fragen immer auch ökologische Komponenten. Dies zeigt sich beispielsweise an den Auseinandersetzungen über die Braunkohletagebaue in Deutschland: Der Abbau und die Verbrennung von Braunkohle bedrohen nicht nur die Lebensgrundlage von Menschen im globalen Süden. Allein der Abbau bedeutet für viele Menschen, dass die Region, der sie sich verbunden fühlen, vernichtet wird. Viele Menschen hängen jedoch gleichzeitig ökonomisch am Tropf dieser schmutzigen Industrien. Wird keine Kohle mehr abgebaut, werden nicht nur die Bergarbeitenden arbeitslos – darüber hinaus droht durch einen Dominoeffekt das wirtschaftliche Ausbluten ganzer Regionen. Gewerkschaften werden in dieser Gemengelage teils massiv kritisiert für ihre beschäftigungspolitischen Anliegen. Erfolge im Kampf um eine klimagerechte Energieversorgung bleiben ohne gewerkschaftliche Beteiligung jedoch allenfalls partikular, das heißt auf das Politikfeld der Umwelt beschränkt – mit drohenden erheblichen sozialen „Kollateralschäden“. Eine lösungsorientierte Herangehensweise müsste sich für einen Strukturwandel einsetzen, der soziale und ökologische Faktoren berücksichtigt.
Zentrale Aufgabe für Gewerkschaften wie für Menschen aus der Ökologie- und Degrowth-Bewegung sollte sein, aktiv daran zu arbeiten, die Frontstellung zwischen Umwelt- und ArbeiterInnenbewegung abzubauen. Dies würde bedeuten, Beschäftigte, die etwa vom Kohleabbau oder anderen ökologisch zerstörerischen Produktionsweisen ökonomisch abhängig sind, im Rahmen eines umfassenden politischen Konzeptes in die Strategien für einen sozial-ökologischen Wandel miteinzubeziehen. Erfahrungen in anderen Teilen der Welt zeigen, dass arbeitspolitische Kämpfe auch mit ökologischen Zielen in Einklang gebracht werden können.
Gewerkschaften haben während des letzten Jahrhunderts überall auf der Welt eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Umweltpolitiken in Industrieländern gespielt. Gesundheits- und Sicherheitsfragen am Arbeitsplatz haben häufig zu Allianzen mit Community-basierten Bewegungen geführt (vgl. Felli 2014: 373 f.). Beispiele dafür, wie ökologische und soziale Fragen strategisch zusammengedacht werden können, gibt es unter anderem in den USA: Gewerkschaftliche und umweltpolitische AkteurInnen arbeiten hier unter dem Slogan „Just Transition“ zusammen. Beim Rückbau schmutziger und kohlenstoffintensiver Industrien werden nicht nur Umweltschutzinteressen berücksichtigt, sondern ebenso die Belange der Beschäftigten. Auch die soziale Ungleichheit, die sich räumlich im Umfeld ökologisch schädlicher Industrien niederschlägt, ist Teil der politischen Auseinandersetzungen: Wer lebt in der Nähe der gesundheitsschädlichen Industrien, und wer kann es sich leisten, das Haus im Grünen zu bewohnen? Mit umweltschädlichen Industrien sind nicht nur die Beschäftigten konfrontiert, sondern auch die – zumeist ärmeren – Menschen, die in den jeweiligen Regionen leben.
Ziel von Politik und Gewerkschaften muss es sein, gute Arbeit für die Beschäftigten zu schaffen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die Arbeitsplätze so gestaltet sind, dass sie keine (bleibenden) ökologischen Schäden verursachen. Zweifellos gilt das für viele Arbeitsplätze heute nicht. Nicht nur leiden Beschäftige – wie etwa im Dienstleistungsbereich – heute vielfach unter enormem Arbeitsdruck und ausufernden Arbeitszeiten. Auch sind viele Arbeitsplätze – hier besonders im Bergbau oder in der Atomwirtschaft – mit einer extremen Belastung der Umwelt verbunden. Eine Lösung kann nicht darin liegen, die hier Beschäftigten mit den Problemen alleinzulassen, etwa indem Betriebe einfach geschlossen werden. Stattdessen sind gerechte Übergänge zu gestalten, die Perspektiven für alternative Arbeitsplätze und Einkommen eröffnen. Wie diese Übergänge aussehen und wohin sie führen sollten, muss von allen Betroffenen unter Einschluss der Politik diskutiert werden. Grundsätzlich darf der Ab- oder Umbau von schädlichen, nicht nachhaltigen Arbeitsplätzen nicht als individuelles Problem der dort Beschäftigten angesehen werden, sondern als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Insofern muss die gesamte Gesellschaft dafür einstehen, wenn aus guten ökologischen Gründen zum Beispiel Betriebe geschlossen und Menschen arbeitslos werden.2
Die Degrowth-Perspektive kann gewerkschaftliche AkteurInnen dazu anregen, die Frage des Verständnisses der Interessenvertretung neu aufzuwerfen: Verstehen sich Gewerkschaften als Akteur, der für einen sozial-ökologischen Umbau in einem weitreichenden Sinne eintritt? Ein solches Verständnis würde auch Allianzen mit sozialen Bewegungen einschließen. Daher sollte der Fokus sowohl der gewerkschaftlichen Politik als auch sozial-ökologischer Transformationspolitik nicht allein auf dem jeweiligen Wirtschaftsunternehmen und der zugehörigen Branche liegen. Vielmehr muss auch das Lebensumfeld der Beschäftigten miteinbezogen werden: Was ist mit dem durch den Braunkohletagebau produzierten Feinstaub, der die Gesundheit der Beschäftigten und der anwohnenden Menschen belastet? Liegt es im Interesse der Beschäftigten, dass ganze Ortschaften verschwinden und damit zugleich ihr gesamtes soziales Umfeld? Der Umbau der Produktions- und Lebensweise beinhaltet demnach einerseits Umweltschutz und Lebensqualität im gesellschaftlichen Umfeld, aber andererseits auch gute, gesundheits- und umweltverträgliche Arbeitsbedingungen.
Als ein Instrument, mit dem sowohl ökologische als auch soziale und ökonomische Probleme zumindest reduziert werden können, bietet sich die Gestaltung der Arbeitszeit an. Grundsätzlich treffen sich hier gewerkschaftliche Traditionen mit der Postwachstumsperspektive. Mehr freie Zeit, die Menschen selbstbestimmt gestalten können oder die für Sorgearbeiten in ihrem sozialen Umfeld verwendet werden kann, sind Forderungen, die sowohl im Degrowth-Spektrum wie auch (wieder) zunehmend in den Gewerkschaften prominent sind. Immer mehr wird deutlich, dass die Fixierung auf die formelle Erwerbsarbeit sich als unzureichend erweist. Neue Arbeitszeitmodelle werden zur Zeit in den Gewerkschaften wie auch in der Politik diskutiert.3 Zunehmend wird klar, dass es für Veränderungen in der Wirtschaftsweise wie zur Sicherstellung und Erhöhung des Wohlstands mehr freier Zeitressourcen bedarf – gerade für jene, die die eigentliche Wirtschaftsleistung erbringen. Das betrifft sowohl Tätigkeiten im Dienstleistungs- als auch im Industriesektor, aber auch die Sorgearbeit. Hier sind gesellschaftliche Diskussionen darüber nötig, was, wie, wie viel und wo wir angesichts der sozial-ökologischen Krise und im Hinblick auf ein gutes Leben vor dem Hintergrund eines wachsenden Überflusses produzieren und konsumieren wollen.
Ein Mittel, um die sozial-ökologische Transformation voranzutreiben, ist es, das Prinzip der betrieblichen Mitbestimmung zu stärken und in Richtung einer Wirtschaftsdemokratie weiterzuentwickeln. Die Frage einer sozial und ökologisch sinnvollen Produktion könnte auf diese Weise nicht nur gestellt und mit den Betroffenen diskutiert werden, sondern es könnten auch unmittelbar praktische Konsequenzen gezogen werden. Hans-Jürgen Urban, Vorstandsmitglied der IG Metall, hält grundlegende ökonomische Weichenstellungen im Rahmen einer gesellschaftlichen Transformation für zentral. Dazu gehören nach Urban erstens die Ökologisierung von Produktion, Konsumtion und Verteilung, zweitens ein neues Regime der Verteilung von Einkommen, Vermögen und sozialen Lebenschancen sowie drittens die Demokratisierung wirtschaftlicher Entscheidungen und Strukturen (vgl. Urban 2014: 79). Diese Punkte lassen sich geradezu als eine Agenda verstehen, die auf die Tagesordnung der Debatte zwischen Gewerkschaften und Degrowth-Bewegung gehört.
Hinsichtlich der Durchsetzung von politischen Forderungen verfügen Gewerkschaften traditionell über einen großen Erfahrungsschatz. Im Degrowth-Spektrum stehen dagegen die Entwicklung und der Aufbau alternativer Strukturen im Vordergrund, weniger konkrete Strategien der Um- und Durchsetzung gegen Widerstand. Würde es gelingen, zunächst Schnittpunkte vorhandener Forderungen zu identifizieren, könnten auf dieser Basis sukzessive übergreifende Strategien zur konkreten Umsetzung einer sozial-ökologischen Transformation entwickelt werden.
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2 Der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE), Michael Vassiliadis, hat beispielsweise einen privatwirtschaftlichen, aus Gewinnen finanzierten Fonds vorgeschlagen, der den sozialverträglichen Ausstieg aus der Braunkohle langfristig absichern soll. Außerdem soll der Fonds den Rückbau der Abbaugebiete finanzieren.

3 Beispielsweise diskutiert Bündnis 90/Die Grünen derzeit ein neues Arbeitszeitmodell unter dem Titel „Politik für mehr Zeit – Damit Erwerbsarbeit besser in unser Leben passt“; in der SPD hat eine eingerichtete Projektgruppe ein Dialogpapier „Neue Zeit – Arbeits- und Lebensmodelle im Wandel“ vorgelegt und ver.di schlägt ein neues Arbeitszeitmodell vor, das durch zusätzliche bezahlte Verfügungstage eine Verkürzungsperspektive für Vollzeitbeschäftigte mit einer Verlängerungsperspektive für Teilzeitbeschäftigte verknüpft (ver.di 2015).

Gemeinsame Perspektive von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen: die Überwindung sozialer Ungleichheiten und die Gestaltung einer sozial-ökologischen Produktions- und Lebensweise
Ohne die Gewerkschaften als gesellschaftspolitischen Akteur ist eine sozial-ökologische Transformation nicht durchsetzbar. Gleichzeitig bleibt umkämpft, wie der ökologische Umbau konkret stattfinden soll. Die Gewerkschaften sind dabei häufig mit dem Dilemma konfrontiert, dass der ökologische Umbau auf Kosten der Beschäftigten stattzufinden droht. Diese Spannung aufzulösen und die Beschäftigten in den sozial-ökologischen Umbau einzubeziehen, wird zentral sein. Eine Wirtschaftsweise, die am kapitalistisch getriebenen Wachstum festhält, wird nicht nur ökologisch zerstörerisch bleiben, sondern auch dazu führen, dass sich die soziale Ungleichheit weiter verschärft.
Die durch das Wachstumsparadigma mit verursachten globalen und sozial-ökologischen Verwerfungen dringen zunehmend in das Alltagsbewusstsein der Menschen ein. Doch bleiben die daraus folgenden Handlungsstrategien durch ihre vornehmlich individuelle Bearbeitung noch selektiv und im Alltagshandeln widersprüchlich. Der Begriff der Lebensweise eröffnet hier kollektive und demokratische Handlungsperspektiven im Rahmen einer sozial-ökologischen Transformation. Wie sich eine unter sozial-ökologischen Gesichtspunkten adäquate Lebensweise gestaltet, ist gesellschaftlich umkämpft. Die entsprechenden Deutungskämpfe und vor allem die Frage, wie Gewerkschaften und die in ihnen organisierten Beschäftigten versuchen, Ungleichheiten, die mit der hegemonialen Lebensweise einhergehen, zu überwinden, können ein entscheidender Schlüssel sein, um Schnittstellen zur Degrowth-Bewegung herzustellen und gemeinsame Handlungsperspektiven zu entwickeln. Von gewerkschaftlicher Seite wird die Kooperation mit zivilgesellschaftlichen AkteurInnen eingefordert (vgl. Lemb 2015: 18), aber:
Gelegentlich bedurfte es eines Anstoßes von außen, damit der gesellschaftliche Wandel auch in den Gewerkschaften wirksam wurde, in anderen Fällen trägt gewerkschaftliche Politik selbst zum Wandel der politischen Verhältnisse bei.

(Wiesenthal 2014: 396 f.)


In der Verbindung beider Dynamiken und durch ein produktives Zusammenwirken von Postwachstumsperspektiven und gewerkschaftlichen Positionen könnte eine breite Allianz für eine sozial-ökologische Transformation entstehen. Die offene Frage ist allerdings, ob die notwendige Transformation „by design or by desaster“ – um einen inzwischen prominenten Leitspruch aus der Degrowth-Bewegung zu zitieren – erfolgt. Das Schmieden einer von den Gewerkschaften und der Degrowth-Bewegung ausgehenden umfassenden gesellschaftlichen Allianz wäre der Versuch, den so oder so stattfindenden Wandel „by design“ zu bewerkstelligen.

Verwendete und weiterführende Literatur


Deutscher Bundestag 2013. Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ (Schlussbericht). Berlin: Bundestags-Drucksache 17/13300.
Dörre, Klaus 2011. Funktionswandel der Gewerkschaften. Von der intermediären zur fraktalen Organisationsmacht. In: Gewerkschaftliche Modernisierung. Haipeter, Thomas; Dörre, Klaus (Hrsg.). Wiesbaden: Springer VS. 268-301.
Dörre, Klaus 2015. „Wir für mehr“ – Ausgangspunkt für eine tranformative Industriepolitik? In: Welche Industrie wollen wir? Lemb, Wolfgang (Hrsg). Frankfurt am Main: Campus. 233-252.
Felli, Romain 2014. An Alternative Socio-Ecological Strategy? International Trade Unions Engagement with Climate Change. Review of International Political Economy 21: 372-398.
Görg, Christoph 2003. Nichtidentität und Kritik. Zum Problem der Gestaltung der Naturverhältnisse. In: Kritische Theorie der Technik und der Natur. Böhme, Gernot; Manzei, Alexandra (Hrsg.). München: Wilhelm Fink Verlag. 113-134.
IG Metall (Hrsg.) 1972. Aufgabe Zukunft: Qualität des Lebens. Beiträge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft Metall für die BRD, 11. bis 14. April 1972 in Oberhausen. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt.
Lemb, Wolfgang 2015. Ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell der Zukunft braucht „Gute Industriepolitik“. In: Welche Industrie wollen wir? Lemb, Wolfgang (Hrsg). Frankfurt am Main: Campus. 7-22.
Noll, Heinz-Herbert; Weick, Stefan 2014. Lebenszufriedenheit steigt mit der Höhe der Konsumausgaben. Analysen zur Struktur von Konsumausgaben und subjektivem Wohlbefinden. Informationsdienst Soziale Indikatoren 51: 1-6.
Räthzel, Nora; Uzzell, David 2011. Trade Unions and Climate Change: The Jobs versus Environment Dilemma. Global Environmental Change 21(4): 1215-1223.
Reuter, Norbert. 2014. Die Degrowth-Bewegung und die Gewerkschaften. WSI Mitteilungen 7/2014: 555-559.
Rosa, Hartmut 2005. Beschleunigung: die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Urban, Hans-Jürgen 2014. Stillstand in Merkelland: Wo bleibt die Mosaik-Linke. Blätter für deutsche und internationale Politik 59: 73-82.
Ver.di. 2011. Sozial-ökologischer Umbau statt pauschaler Wachstumskritik. Kontroversen um das Wachstum (Wirtschaftspolitische Informationen 2/2011).
Ver.di 2015. Mehr Zeit für mich. Impulse für eine neue Arbeitszeitpolitische Debatte. Berlin: Ver.di.
Voswinkel, Stephan 2013. Was wird aus dem „Fahrstuhleffekt“? Postwachstum und Sozialer Aufstieg (Working Paper 08 der DFG-KollegforscherInnengruppe Postwachstumsgesellschaften). Jena: DFG-KollegforscherInnengruppe Postwachstumsgesellschaften.
Wiesenthal, Helmut 2014. Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft: Niedergang und Wiederkehr des „Modells Deutschland“. In: Handbuch Gewerkschaften in Deutschland. Schroeder, Wolfgang (Hrsg.). Springer VS: Wiesbaden. 395-421.
Bild im Header: ver.di Kundgebung zur Tarifrunde Sozial und Erziehungsdienste in Köln (Foto: © Jürgen Seidel)

00 Degrowth in Bewegung(en)

01 Einleitung

02 15M – from an autonomous perspective

03 Anti-Kohle-Bewegung

04 Artivism

05 Attac

06 Buen Vivir

07 Care Revolution

08 Commons-Bewegung

09 Degrowth

10 Demonetarisierung

11 Ernährungssouveränität

12 Flucht- und migrationspolitische Bewegung

13 Freie-Software-Bewegung

14 FUTURZWEI

15 Gemeinwohl-Ökonomie

16 Gewerkschaften

17 Grundeinkommensbewegung

18 Jugendumweltbewegung

19 Klimagerechtigkeit

20 Offene Werkstätten

21 Ökodorf-Bewegung

22 Peoples Global Action

23 Plurale Ökonomik

24 Post-Development

25 Post-Extraktivismus

26 Queer-Feministische Ökonomiekritik

27 Radical ecological democracy

28 Recht auf Stadt

29 Solidarische Ökonomie

30 Tierrechtsbewegung

31 Transition-Initiativen

32 Umweltbewegung

33 Urban-Gardening-Bewegung

34 Abschlusskapitel