DiB - Peoples Global Action von
Raute Film auf
Vimeo.
Friederike Habermann fuhr 1996 zum Interkontinentalen Treffen der Zapatistas in Mexiko und war von da an am Aufbau der Globalisierungsbewegung beteiligt.
Im dafür anfangs entscheidenden Netzwerk
Peoples Global Action, einer inzwischen nicht mehr existenten weltweiten Vernetzung von Basisbewegungen, fungierte sie als Pressekoordinatorin. Heute ist die Historikerin und Ökonomin als freie Autorin und Wissenschaftlerin tätig und verbindet in ihren Schriften soziale Bewegungen, anders Wirtschaften sowie das Verwobensein von Herrschaftsverhältnissen. Sie lebt heute in einem Commons-basierten Projekt bei Berlin.
Nach dem Ende der
Geschichte wird gemacht: ohne Kapitalismus, ohne Herrschaft
Das „Ende der Geschichte“ sei erreicht, so hatte es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Politologe Francis Fukuyama verkündet, da das, was als Sozialismus gegolten hatte, nun wieder durch den Kapitalismus abgelöst worden war. Der Neoliberalismus war auf dem Höhepunkt seiner Zustimmung – als am 1. Januar 1994, dem Tag des Inkrafttretens der Nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA, eine kleine, kaum bewaffnete Rebellenbewegung aus dem Urwald des mexikanischen Bundesstaates Chiapas einen Aufstand wagte: die
Zapatistische Befreiungsarmee EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional). Schon bald verkündete ihr Sprecher, Subcomandante Marcos, es ginge nicht darum, die Macht zu ergreifen, sondern die Welt neu zu erschaffen. Die Zapatistas fingen in ihren autonomen Zonen mit Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit schon mal an. Wobei eigentlich die Frauen in der
EZLN damit bereits ein Jahr früher in einer internen Rebellion begonnen hatten. Und das ist keine Lappalie: Den Zapatistas geht es um die Aufhebung eines
jeden Herrschaftsverhältnisses.
Durch ihre
Interkontinentalen Treffen gegen den Neoliberalismus und für eine menschliche Gesellschaft 1996 und 1997 brachten die Zapatistas erstmals auf globaler Ebene Bewegungen zusammen, die von einem ähnlichen Politikverständnis geprägt waren. Von ihrer „Zweiten Erklärung von La Realidad“ und ihrem Aufruf zu einem Netz der Widerständigkeiten inspiriert, kamen Vertreter_innen von (überwiegend Basis-)Bewegungen aus über siebzig Ländern zusammen und gründeten die weltweite Vernetzung
Peoples Global Action (PGA). Ja: „Peoples“, so wie „Völker“, denn Indigene waren von Anfang an beteiligt und richtungsweisend: seien es Adivasis aus Indien oder Maoris aus Aotearoa alias Neuseeland oder sei es der ecuadorianische Zusammenschluss
CONAIE.
Dass ich
Peoples Global Action falsch schreibe, indem ich das Apostroph weglasse (richtig wäre: Peoples’), eröffnet allerdings die Möglichkeit, es ebenso gut als falsch geschriebenes People’s zu lesen – Globales Aktionsnetzwerk der Menschen. Das tat ich auch schon als Pressekoordinatorin von
PGA, eine Funktion, die ich seit den Protesten gegen die Welthandelsorganisation (WTO) in Genf im Mai 1998 ausfüllte. Dies geschah allerdings nicht mit durchschlagendem Erfolg, was nicht einmal unseren improvisierten Strukturen geschuldet war. Denn obwohl der Polizeichef von Genf angesichts der tagelangen Demonstrationen und Riots von einem neuen 1968 sprach, und obwohl weltweit Aktionen koordiniert stattfanden – seien es die 40 000 Obdach- und Landlosen in Brasilien, die eine Woche lang auf die Hauptstadt zu marschierten, sei es die
Global Street Party, die auf allen Kontinenten gleichzeitig stattfand –, drang diese neue Form von Protest noch nicht ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit vor.
Da auch über die 200 000 Bäuer_innen, die in Indien demonstriert hatten, keine einzige Notiz in den westlichen Medien auftauchte, beschlossen diese, bei nächster Gelegenheit ein paar mehr Abgesandte nach Europa zu schicken. Anlässlich des Doppelgipfels von EU und G8 in Köln im Frühjahr 1999 fuhren fast 500 Menschen aus dem globalen Süden fünf Wochen lang mit Bussen durch elf Länder, für Aktionen und um hiesige Aktivist_innen vor Ort zu treffen. Aus den
Global Street Partys wurden
Global Action Days: weltweit koordinierte Aktionen zur selben Zeit. Doch „diese Mauer des Schweigens, auf die wir stoßen“, wie M.D. Nanjundaswamy von der indischen Bauernbewegung
KRRS es 1998 in Genf ausgedrückt hatte, wurde hierdurch nicht einmal angekratzt. Als 1999 in Köln Hunderte Mitglieder der
KRRS in weißen Gewändern und grünen Schals mit öffentlichen Verkehrsmitteln aufbrechen wollten, um die Herrschenden auszulachen, wurden sie eingekesselt und in ein Gefängnis außerhalb der Stadt gefahren; die einzige Zeitung, die am nächsten Tag darüber berichtete, titelte: „300 Autonome besetzten Straßenbahn.“
Mit den Seattle-Protesten gegen die WTO-Konferenz im Herbst desselben Jahres wurde das Schweigen teilweise gebrochen: Die am ersten Tag erfolgreiche Blockade, die auch zum Scheitern der Verhandlungen beitrug, verbunden mit einer euphorischen Stimmung unter den 50 000 tagelang Protestierenden, elektrisierte nun die weltweite Öffentlichkeit. Für den Erfolg in Seattle war
Peoples Global Action (PGA) als Impulsgeberin insofern entscheidend, als das US-amerikanische
Direct Action Network bei der Organisierung jener Straßenblockaden, welche zum strategischen Erfolg der Verhinderung der Konferenz am ersten Tag führten, die
PGA-Grundprinzipien übernahm. Als interkontinentale Vernetzung präsent war
PGA lediglich als fünfwöchige Mini-Karawane quer durch die USA – wenn wir damit auch zur breiten Mobilisierung von 50 000 Demonstrierenden in Seattle beitrugen. Als die Globalisierungsbewegung im September 2000 mit ihren Protesten gegen den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank in Prag nach Europa zurückkehrte, waren es wieder unmittelbar
PGA-Strukturen, die diesen Prozess anstießen. Wenn auch die Stimmung nicht vergleichbar euphorisch war, so verliefen doch auch diese Aktionstage erfolgreich, und damit mündeten die Proteste endgültig in eine soziale Bewegung: Mit den Demonstrationen gegen den EU-Gipfel in Nizza im Dezember desselben Jahres hatte PGA organisatorisch nichts zu tun. Tatsächlich schien es in den folgenden Monaten, als könnten sich nicht einmal mehr Handelsminister treffen, ohne dass vor Ort Blockaden geplant wurden.
Doch viele Basisbewegungen aus dem globalen Süden, deren Vertreter_innen sich parallel zu den Protesten in Prag trafen, wurden unzufrieden mit dem Konzept des „summit hoppings“, des Gipfelstürmens. Zu kurzlebig erschien ihnen diese Aktionsform, zudem war sie aufwendig und ihre Beteiligung scheiterte auch häufig daran, Visa und Flugtickets zu bekommen; Einzelpersonen aus dem globalen Norden hingegen konnten sich die Anreise eher leisten, und Visa erhielten sie sowieso.
Peoples Global Action beschloss deshalb auf einem Delegiertentreffen während der Pragproteste und damit ausgerechnet in dem Moment, wo die Globalisierungsbewegung zu einer wirklichen Kraft geworden war, sich auf längerfristige Kampagnen zu konzentrieren, die erste gegen den Plan Colombia.
1 Während die „Bewegung der Bewegungen“ (Naomi Klein 2003) immer breiter wurde, verblasste die Relevanz von
PGA im Zuge ihrer Abwendung von den Gipfelprotesten.
Einen massiven Einbruch erlebte die Globalisierungsbewegung durch die im Juli 2001 während des G8-Gipfels in Genua ausgeübte Repression. Aktivist_innen wurden aus den Demonstrationen herausgezogen oder im Schlaf überfallen (eingegangen in die Geschichte als „chilenische Nacht“), und viele von ihnen wurden in Polizeistationen tagelang festgehalten und geschlagen. Dazu kam, nur anderthalb Monate später, der 11. September. Die dritte große internationale Konferenz von
Peoples Global Action fand direkt in der Woche danach statt, diesmal im bolivianischen Cochabamba.
2 Anreisende Delegierte und Organisator_innen wurden massiver juristischer Repression ausgesetzt. Thema waren zum ersten Mal Commons und damit Alternativen zur herrschenden Wirtschaftsweise. Doch dabei sollte es auch bleiben, es folgten keine weiteren Konferenzen. Die enorme Kraft, jeweils fast aus dem Nichts eine große Aktion zu stemmen, kam nicht wieder zustande.
Auch waren viele einzelne Aktive (aus dem Norden) durch ihr intensives Engagement regelrecht ausgebrannt oder konnten sich nicht länger derart intensiv
PGA widmen; viele Bewegungen (aus dem Süden) waren mit ihren lokalen Kämpfen voll ausgelastet. Die dezentrale Struktur von
PGA erschwerte die Kontinuität. Das 2001 gegründete Weltsozialforum, wo sich von nun an jährlich zig- bis weit über hunderttausend Menschen trafen, um Alternativen zu diskutieren, dürfte ebenfalls zum Bedeutungsverlust von
PGA beigetragen haben.
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„Wenn du nur kommst, um mir zu helfen ...“
Bis heute herrscht das falsche Bild vor, der Protest gegen die Exponenten des Neoliberalismus – Welthandelsorganisation, Weltbank und Internationaler Währungsfonds – sei wesentlich von Organisationen des globalen Nordens initiiert gewesen.
Attac gilt vielen als Synonym für „die globalisierungskritische Bewegung“. Doch die Anstöße kamen wesentlich von den Zapatistas und den indischen sowie verschiedenen indigenen Bewegungen und damit von den wirklich Marginalisierten in der globalisierten Welt.
In der Anfangszeit war
Peoples Global Action gleichzusetzen mit der Globalisierungsbewegung. Doch in
PGA sprach niemand von „Globalisierungskritik“ und auch nicht von einer „Antiglobalisierungsbewegung“; es ging weder darum, die neoliberale Globalisierung „besser“ zu gestalten noch um nationalen Lösungen, sondern darum, Widerstand von unten global(isiert) zu koordinieren und damit um eine emanzipatorische Form des Zusammenwirkens. Um verfestigte Hierarchien zu vermeiden, die unter anderem mit dem leichteren Zugang von Akteur_innen des globalen Nordens zu Geldmitteln einhergehen können, gab es keine auf Kontinuität angelegten Finanzmittel. Stattdessen wurden für jede Aktion erneut Spenden eingetrieben. Statt eines Vorstandes fungierte je eine Bewegung pro Weltregion (West- sowie Osteuropa, Nord-, Mittel- und Südamerika, Naher Osten, Südöstlicher Pazifik etc.) als „conveners group“; diesen kam die Aufgabe zu, sicherzustellen, dass der Prozess weitergeht. Jeweils auf den internationalen Konferenzen wurde gewechselt. Auf den Konferenzen selbst wurde von Anfang an auf Geschlechtergerechtigkeit bei den Wortbeiträgen sowie auf eine angemessene Nord-Süd-Repräsentanz geachtet.
Die auch im deutschen Sprachraum immer nur
Hallmarks genannten fünf Grundprinzipien von PGA lauten:
- Eine Ablehnung von Kapitalismus, Imperialismus und Feudalismus sowie aller Handelsabkommen, Institutionen und Regierungen, die zerstörerische Globalisierung vorantreiben.
- Eine Ablehnung aller Formen und Systeme von Herrschaft und Diskriminierung, einschließlich (aber nicht beschränkt auf) Patriarchat, Rassismus und religiösen Fundamentalismus aller Art. Wir anerkennen die vollständige Würde aller Menschen.
- Eine konfrontative Haltung, da wir nicht glauben, dass Lobbyarbeit einen nennenswerten Einfluss haben kann auf undemokratische Organisationen, die maßgeblich vom transnationalen Kapital beeinflusst sind.
- Ein Aufruf zu direkter Aktion und zivilem Ungehorsam, Unterstützung für die Kämpfe sozialer Bewegungen, die Respekt für das Leben und die Rechte der unterdrückten Menschen maximieren, wie auch zum Aufbau von lokalen Alternativen zum Kapitalismus.
- Eine Organisationsphilosophie, die auf Dezentralisierung und Autonomie aufgebaut ist. PGA stellt ein Koordinationswerkzeug dar, keine Organisation. Sie hat keine Mitglieder und ist nicht juristisch repräsentiert. Keine Organisation oder Person kann PGA repräsentieren.
Bei Treffen anlässlich von Weltsozialforen oder Klimaprotesten äußern bis heute viele ehemalige
PGA-Aktive, und zwar gerade von Basisbewegungen aus dem globalen Süden, Bedauern darüber, dass es eine ähnliche Vernetzung wie
Peoples Global Action nicht mehr gibt. Es bedarf einer Vernetzung, in der die „Subalternen“, wie die postkoloniale Theoretikerin Gayatri C. Spivak (2008) die Marginalisiertesten dieser Welt nennt, sich Gehör verschaffen: neben indigenen Bewegungen oder den Schwarzen Gemeinschaften Kolumbiens beispielsweise Textilarbeiterinnen aus Bangladesch, Fischer aus Sri Lanka und den Philippinen oder Hausangestellte aus Bolivien. Nicht als Vorzeigeattraktionen für Nichtregierungsorganisationen aus dem globalen Norden, sondern Hand in Hand mit autonomen Bewegungen aus Europa oder beispielsweise der Postgewerkschaft aus Kanada. Während das Manifest von
PGA nie fertiggestellt wurde und nie größere Bedeutung erlangte, wurde das ihm vorangestellte Zitat „einer australischen Ureinwohnerin“ maßgebend: „Wenn du nur kommst, um mir zu helfen, dann kannst du wieder nach Hause gehen. Wenn du aber meinen Kampf als Teil deines Überlebenskampfs betrachtest, dann können wir vielleicht zusammenarbeiten.“
3
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Peoples Global Action war Commons-schaffend
Nicht selten höre ich heutzutage auf Veranstaltungen zu Degrowth von Menschen, die sich damit zum ersten Mal beschäftigen, die Frage, wie wir diesen Gedanken denn nun auch im globalen Süden verbreiten könnten? Dabei stammt das Konzept des Post-Developments, also die Ablehnung des von den Weltwirtschaftsinstitutionen vorgeschriebenen Wachstumspfads, bereits aus den 1980er Jahren – und ist eben im Süden geprägt worden. Es ist insbesondere Wolfgang Sachs zu verdanken, diese Gedanken in den 1990er Jahren auch in Deutschland verbreitet und damit eine wesentliche Grundlage für Postwachstum gelegt zu haben.
Post-Development ist ein schillernder Begriff; darunter fallen sehr unterschiedliche Ansätze (vgl. den Beitrag zu
Post-Development). Auch Degrowth ist ein solcher Sammelbegriff; er schließt nicht nur das Konzept der Postwachstumsökonomie von Niko Paech ein, sondern auch nichtkapitalistische bis hin zur Beitragsökonomie beziehungsweise Demonetarisierung (vgl. den Beitrag des
Demonetize-Netzwerks) beziehungsweise, in meinen Worten, Ecommony. Ähnlich divers setzt(e) sich ab den Protesten in Seattle die „Bewegung der Bewegungen“ zusammen. Alle eint, dass auf unterschiedlichen Wegen nach einer Alternative zum herrschenden Wirtschaftssystem gesucht wurde. War Post-Development zumeist theoretisch ausgerichtet und
PGA eine Vernetzung für Aktionen, so hat Degrowth das Potenzial, explizit beides voranzutreiben: Theorie und Praxis. Insofern erstaunt nicht, dass heute Kontakte bestehen zwischen Ausläufern und ehemaligen Aktiven von
PGA beziehungsweise den nach wie vor dissidenten Basisbewegungen aus dem globalen Süden – zum Beispiel der Initiative gegen den Staudamm im indischen Narmada-Tal oder den Kuna aus Panama – und inhaltlich anschlussfähigen Teilen der Degrowth-Bewegung.
Neben der Frage der inhaltlichen Übereinstimmung ist die Art der Organisierung entscheidend – und damit kommen wir zu den Commons als ein in
PGA selbstverständlich gelebtes Konzept, das heute auch im Umfeld von Degrowth eine Rolle spielt.
PGA war beitragsökonomisch organisiert: Geld gab es bestenfalls in Form von Taschengeld – zum Beispiel hundert D-Mark im Monat für pausenloses Tätigsein in den Wochen vor Aktionen, wenn das Lebensmittelretten nicht ausreichte. Unterkunft, Computerarbeitsplätze, all dies wurde beitragsökonomisch organisiert, also freiwillig von Menschen zur Verfügung gestellt, häufig auch einfach von Unbeteiligten, die um Unterstützung gebeten worden waren. Es gab bewusst keine Hauptamtlichen, keine Bürostrukturen, auch keine finanziellen Ressourcen jenseits der für die Aktionen notwendigen. Stand eine solche an, wurde Geld „gesammelt“ – heute hieße so etwas Crowdfunding.
Erst recht ist kein Zufall, dass sich ehemalige
PGA-Aktive heute in der Commons-Bewegung wiederfinden. Dies gilt etwa für Massimo de Angelis, der mir 1996 in meiner Arbeitsgruppe zu Ökonomie im Urwald von Chiapas zum ersten Mal begegnete. Anfang des Jahrtausends gründete er das Webjournal
The Commoner als eine erste Plattform für eine transnationale Debatte zu Commons. Was sich mir selbst damals inhaltlich noch nicht erschloss, prägte ihn: dass ein Großteil der in
PGA versammelten Kämpfe, so unterschiedlich sie zunächst schienen, sich um Commons, um Gemeingüter, drehten. So war das Narmada-Tal in Indien ein Commons, das erlaubte, gut zu leben – statt im Slum der nächsten Großstadt vor sich hin zu vegetieren. Die Kämpfe in Cochabamba drehten sich um Wasser als Commons.
Commons entstehen oft erst aus Kämpfen gegen ihre Verneinung, betont de Angelis (2002): Kämpfe gegen Landgrabbing werfen die Frage nach Land für diejenigen, die es kultivieren, auf; Kämpfe gegen intellektuelle Eigentumsrechte führen zur Frage nach der Wissensallmende; Kämpfe gegen Umweltzerstörung lenken den Blick auf die Frage nach den natürlichen Commons; Kämpfe gegen die Privatisierung von Wasser, Bildung und Gesundheit führen zu Forderungen nach Wasser, Bildung und Gesundheit als Commons.
Halbinseln gegen den Strom (Raute Film)
Es bestehen viele Ansatzpunkte und Kämpfe rund um Commons, mit denen sich auch die Degrowth-Bewegung solidarisieren sollte. Denn da Kapitalismus ohne Wachstum nicht möglich ist, braucht es eine radikal andere Form der wirtschaftlichen Organisierung. Frei von den Restriktionen durch Eigentum, so de Angelis (2002), würden Kooperation, Erfindungsgeist und gesellschaftliche Neuerungen angetrieben durch Bedürfnisse und Sehnsüchte. Hierdurch entfalte sich die Vielfalt der Mächte-zu („powers-to“), die danach strebten, alle Mächte-über („powers-over“) loszuwerden. Auch hieraus ergeben sich Verbindungslinien zur heutigen Degrowth-Bewegung: von der gemeinsamen Verneinung des bestehenden Wirtschaftsmodells und damit verbundener Herrschaftssysteme zu einer Welt, in der die Kraft der vielen sich schöpferisch entfalten kann. Es darf nicht nur um Abwehrkämpfe gehen und nicht nur um Kämpfe darum, wie wir Ökonomie gestalten, sondern um jeden Kampf gegen jedes Herrschaftsverhältnis, das Menschen in ihrer Freiheit, sich zu entfalten, einschränkt.
Zum Weltretten braucht es alle
Die Anregungen an die Degrowth-Bewegung ergeben sich aus dem Vorherigen: Bleiben Aktivist_innen aus dem globalen Norden unter sich, drohen Klimakolonialismus und Umweltrassismus. Ein Beispiel hierfür wäre das im Namen des grünen Wachstums propagierte „Weiter so!“, ermöglicht durch Umstellung auf erneuerbare Energien bei gleichzeitigem Export der Anlagen in den globalen Süden oder dem dortigen Anbau von Biomasse, was heute ein wesentlicher Grund für Landgrabbing darstellt – und zwar nicht selten von Land, das bis dato als Allmende, also als Commons genutzt wurde. Dass eine solche Ausrichtung – von Bewegungen im Süden im Wortspiel auch „greed economy“ genannt (abgeleitet von „green economy“) – von der Degrowth-Bewegung abgelehnt wird, zeigt, dass hier ein wesentlicher Anknüpfungspunkt zwischen Nord und Süd liegt. Generell gilt: Eine Weltrettung ist nicht möglich aus der Sicht des „omnipotent white eye“, wie es der postkoloniale Theoretiker Stuart Hall (1989 : 159) formuliert. Mit diesem Ausdruck bezeichnet er die koloniale Einstellung, alles besser zu wissen, da die Europäer_innen bereits „weiter“ wären. Diese Einstellung findet sich auch heute noch vielfach, offensichtlich wird dies nicht zuletzt bei Wirtschafts- sowie Umweltfragen.
Es braucht also eine globale Vernetzung. Mit dem punktuellen Einladen einzelner Intellektueller zu Veranstaltungen oder als Autor_innen ist es nicht getan. Es geht darum, mit den (tendenziell) „Subalternen“, den am meisten Marginalisierten, im Austausch zu sein, ohne dass sich innerhalb dieses Zusammenwirkens Hegemonien reproduzieren. Dem Weltsozialforum ist Letzteres vielfach vorgeworfen worden, unter anderem, da ein Großteil derjenigen, die dort ihr Forum fanden und finden, selbst wenn sie aus dem globalen Süden stammen, Akademiker_innen, Männer, und/oder
Weiße sind. Doch bleibt es nicht bei Alibi-Veranstaltungen, lässt sich viel voneinander lernen.
So kann die Degrowth-Bewegung aus den Kämpfen im globalen Süden vielleicht die Einsicht gewinnen, dass Postwachstum nicht mit Verzicht einhergehen muss. Wenn die indischen Adivasi dafür streiten, im Urwald leben zu dürfen, statt – so der explizite Wunsch eines Regierungsvertreters – Computerexpert_innen zu werden, dann stellt dies Vorstellungen davon, was Reichtum ist und was Verzicht, auf den Kopf. Auch was politische Mobilisierung angeht, lässt sich etwas Wichtiges lernen: dass sie keine Frage des Geldes ist. Für Menschen, die glauben, am Anfang jeder Bewegung stünden Finanzanträge, kann das eine entscheidende Erkenntnis sein.
Zusammen!
Über Jahrzehnte dissident blieben und bleiben jene Bewegungen des globalen Südens, in denen eine teilweise autonome ökonomische Basis die Lebensbedingungen absichert und zudem eine andere Lebensweise und einen anderen Alltagsverstand erlaubt. Auf diese Weise bilden sich Räume anderer Selbstverständlichkeit, „Halbinseln gegen den Strom“ (Habermann 2009). In ihnen lässt sich klarer sehen, was Alternativen zum Kapitalismus sein können, da sie sich in alltäglichen Praktiken erproben lassen. Wer nur mal samstags auf eine Demo geht, ansonsten aber mit kapitalistischem Alltagsverstand lebt, verlernt schnell, darüber hinaus zu denken. Darum ist es wichtig, solche Halbinseln auch hier zu schaffen. Das müssen keine autonomen Projekte, sondern es können auch andere Wohn- und Zusammenlebensformen in der Stadt, Vernetzungen mit anderen im Beruf oder schlicht Verschenknetzwerke im Internet sein.
Peoples Global Action lehnte Lobbypolitik ab. Dennoch ist das Ringen um politische Errungenschaften auf der Gesetzesebene nützlich – möglich wird es aber nur aufgrund eines veränderten Alltagsverstandes. Darum sollten nicht Forderungen im Fokus der Bemühungen stehen, sondern das, was David Graeber (der selbst in den Ausläufern von
PGA aktiv war) als direkte Aktion definiert: im Hier und Jetzt das zu leben, was wir für richtig halten.
Meine Vision? Eine Degrowth- beziehungsweise Post-Development- beziehungsweise Buen-Vivir- beziehungsweise What-ever-you-wanna-call-it-Bewegung und eine Globalisierungs- beziehungsweise Klima- beziehungsweise What-ever-you-wanna-call-it-Bewegung im Spirit von
Peoples Global Action vereinen sich zu einer neuen Bewegung der Bewegungen, die sowohl Widerstand als auch die Re-Organisierung des alltäglichen Lebens ins Zentrum stellt. Die Karawanen, die Convergence-Centers (Aktionszentren) während der Gipfelstürme, die Camps der Occupy-&-Co-Aufstandsbewegungen seit 2010 und die heutigen Klimacamps waren, sind und schaffen solche Orte. Ohne solche subkulturellen „Halbinseln gegen den Strom“ wird sich keine breite Bewegung entwickeln, und insofern ist eine wesentliche Aufgabe, nicht zuletzt für Degrowth-Protagonist_innen, Widerstandsräume zu schaffen, in denen andere Erfahrungen gelebt werden können.
Links
> Peoples Global Action (PGA; Acción Global de los Pueblos)
Verwendete und weiterführende Literatur
De Angelis, Massimo 2003. Reflections on Alternatives, Commons and Communities. Or: Building a New World from the Bottom Up
The Commoner 6. Zugriff: 17.06.2016.
<http://www.commoner.org.uk/deangelis06.pdf>
Habermann, Friederike 2009.
Halbinseln gegen den Strom. Anders leben und wirtschaften im Alltag. Königstein: Ulrike Helmer.
Habermann, Friederike 2014.
Geschichte wird gemacht. Etappen des globalen Widerstands (in der Reihe: Bibliothek des Widerstands). Hamburg: Laika.
Habermann, Friederike 2016.
Ecommony. UmCARE zum Miteinander (hrsg. v. d. Stiftung Fraueninitiative). Sulzbach: Ulrike Helmer.
Hall, Stuart 1989: Die Konstruktion von „Rasse“ in den Medien (erstveröffentlicht: 1981). In:
Stuart Hall – Ideologie, Kultur, Rassismus. Ausgewählte Schriften 1. Räthzel, Nora (Hrsg.). Hamburg/Berlin: Argument. 150-171.
Klein, Naomi 2003:
Über Zäune und Mauern. Berichte von der Globalisierungsfront. Frankfurt am Main/New York: Campus.
Notes from Nowhere 2003.
We are Everywhere. The Irresistible Rise of Global Anticapitalism. London/New York: Verso.
REDaktion 1997.
Chiapas und die Internationale der Hoffnung. isp: Köln.
Spivak, Gayatri C. 2008:
Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation (erstveröffentlicht: 1988). Wien: Turia+Kant.