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Degrowth in Bewegung(en)

Ökodorf-Bewegung

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Title: Die Ökodorf-Bewegung: Degrowth als gelebte Realität?

By: Christiane Kliemann

Release date: 21.06.2016

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DiB - Die Ökodorf Bewegung von Raute Film bei Vimeo.
Christiane Kliemann ist freie Journalistin und Degrowth-Aktivistin und betreut den Blog des Webportals www.degrowth.de. Sie lebt seit Sommer 2015 im Ökodorf Sieben Linden.
Damit dieser Artikel die Sichtweisen langjähriger Ökodorf-Bewohner_innen und ihrer Netzwerke beleuchten kann, entstand er in intensivem Austausch mit Kariin Ottmar, Eva Stützel und Chironya Stanellè, die seit vielen Jahren in der Ökodorf-Bewegung aktiv sind.
Einheit in Vielfalt: gemeinschaftlich und ganzheitlich gelebte Nachhaltigkeit in der Praxis
Rob Hopkins, Gründer der aus England stammenden Transition-Town-Bewegung, nannte Transition einmal den „praktischen Ausdruck einer Postwachstumsgesellschaft“ (Hopkins 2014, Übersetzung der Autorin). Diese Aussage trifft in besonderem Maß auch auf die Ökodorf- oder Ecovillage-Bewegung zu. Dort wurde bereits vor einigen Jahrzehnten ganz konkret damit begonnen, in kleinräumigen Gemeinschaften – so umfassend und ganzheitlich wie möglich – sozial gerecht und ökologisch nachhaltig zu leben. In diesem Sinne sind viele Ökodörfer schon hier und jetzt mögliche Modelle für ein „gutes Leben“ nach dem Wachstum und somit auch interessante praktische Übungsfelder für Degrowth. Nicht zufällig ähneln die Leitlinien vieler Ökodörfer der Vision einer zukünftigen Degrowth-Gesellschaft.
Entstanden ist die Ökodorf-Bewegung aus der Idee, nicht mehr Teil des Problems, sondern Teil der Lösung zu sein: einer Lösung, die am besten in kleinen, überschaubaren Zusammenhängen entstehen kann, da so die beste Möglichkeit besteht, viele gesellschaftliche und ökologische Aspekte selber gestalten zu können. In einem solchen Kontext ist es möglich, Selbstwirksamkeit zu erfahren und ganzheitliche Ansätze in die Praxis umzusetzen.
Das weltweite Netzwerk für Ökodörfer und Gemeinschaften, das Global Ecovillage Network (GEN), definiert Ökodörfer als „intentionale oder traditionelle Gemeinschaften, die bewusst durch partizipative Prozesse gestaltet und durch lokale Besitzstrukturen geprägt sind, um ihre soziale und natürliche Umwelt wiederherzustellen und die Lebensqualität zu steigern“(GEN 2014). Die übergeordneten Werte, an denen sich die Bewegung orientiert, sind die einer offenen, demokratischen, menschenwürdigen und friedlichen Gesellschaft, die alle Menschen gleichberechtigt, solidarisch und freundschaftlich miteinander gestalten. Dies schließt die Akzeptanz verschiedener Kulturen, Religionen und spiritueller Wege, Weltoffenheit und Freude am kulturellen Austausch sowie Achtung und Achtsamkeit gegenüber Anderen, dem Leben und der Natur mit ein. Ein ganzheitlicher Ansatz integriert die vier Dimensionen der Nachhaltigkeit: Ökologie, Ökonomie, das Soziale und Kultur/Weltsicht.

Einer von vielen möglichen Wegen des gesellschaftlichen Wandels


Weit entfernt davon, ihren Weg als Patentlösung für die ganze Welt zu propagieren, sehen sich Ökodörfer als ein Instrument unter vielen – ähnlich einem einzelnen Instrument in einem Orchester. Das Ziel von Ökodörfern ist es, Menschen aus verschiedensten Zusammenhängen bei ihrem Wunsch nach Veränderung abzuholen und Wege und Modelle aufzuzeigen, wie ein sozial-ökologischer Wandel der Gesellschaft aussehen könnte. Dabei versuchen sie, ökologische Prinzipien und Technologien mit basisdemokratischen und sozial innovativen Strukturen zu verbinden.
Je nach Ausrichtung beziehen sie ihre Inspiration aus ökologischen, sozialpolitischen oder spirituellen Ansätzen. Auch wenn die meisten Ökodörfer – wie der Name schon sagt – in ländlichen Regionen liegen und sich vor allem darauf konzentrieren, eine andere Art des Landlebens aufzuzeigen und strukturschwache Regionen zu beleben und zu vernetzen, beschränkt sich die Bezeichnung Ökodorf oder Ecovillage nicht auf „Dörfer“. Inzwischen schließt sie auch städtische Kommunen und Wohn- und Lebensprojekte ein, die danach streben, die vier Dimensionen der Nachhaltigkeit zu verbinden und dadurch modellhafte Forschungs- und Trainingsorte für die Gesellschaft als Ganzes zu sein. Ökodörfer engagieren sich in den folgenden Bereichen:

Von einzelnen Aussteigerprojekten zu weltweiter politischer Vernetzung


Als politisch wahrnehmbare Bewegung formierten sich die Ökodörfer und Gemeinschaftsprojekte im Jahre 1995 mit der Gründung von GEN. Zuvor existierten lediglich lockere Netzwerke verschiedener Ausrichtungen. Die Gründung von GEN im schottischen Findhorn, einem der ältesten Ökodörfer in Europa, geht auf die Initiative von Hildur und Ross Jackson zurück, den Gründer_innen der dänischen Nichtregierungsorganisation Gaia Trust. In den Jahren zuvor hatten sie immer wieder Vertreter_innen herausragender Pionierprojekte aus der ganzen Welt zusammengebracht und interessante Projekte dokumentiert, was schließlich zum genannten Gründungstreffen führen sollte. Inzwischen, mehr als 20 Jahre später, hat GEN über tausend Mitgliedsgemeinschaften weltweit sowie fünf kontinentale und viele nationale Netzwerke, die die Ökodorf-Bewegung politisch vertreten.

Leben im Ökodorf: Idylle auf dem Lande oder politisches Statement?


Ein Merkmal der Ökodorf-Bewegung ist, dass sie sich weniger aus der Positionierung gegen bestehende Strukturen entwickelt hat, sondern aus der Ausrichtung an einer positiven alternativen Vision. Manchmal wird dies als unpolitische Haltung interpretiert; damit einher geht die Kritik, viele Ökodörfler zögen sich auf idyllische Inseln auf dem Lande zurück und würden dabei unpolitisch. Die Frage, die in diesem Zusammenhang kontrovers diskutiert wird, ist die, ob das Leben in einem Ökodorf – und damit das praktische Umsetzen von Alternativen – an und für sich schon als politisches Statement gelten kann. Dafür spricht, dass sich Ökodörfler kapitalistischen Strukturen entziehen und auch anderen dabei helfen, Alternativen zum Kapitalismus zu entwickeln und in der Praxis zu leben. Hier besteht eine interessante Parallele zum Diskurs über die Care-Arbeit, die, interpretiert man sie im entsprechenden feministischen Kontext, eine sehr weitreichende politische Dimension haben kann1 . So könnte der übergeordnete Kontext von Degrowth der Rahmen sein, innerhalb dessen das Leben in Ökodörfern als hochpolitisch verstanden werden kann.
Idylle auf dem Lande oder politisches Statement? (Raute Film)
Ökodörfer, Gemeinschaften und ihre Netzwerke positionieren sich immer wieder zu bestimmten politischen Anliegen. Darüber hinaus sind viele Aktive aus Ökodorf-Projekten in verschiedensten politischen Kontexten engagiert, zum Beispiel in lokalen Widerstandsgruppen gegen Castor-Transporte, Kohleabbau und Militarismus. Für viele sind jedoch die verschiedensten Aspekte der Selbstorganisation, die das Leben in Ökodörfern mit sich bringt, so zeitintensiv, dass nicht viel Raum für anderes Engagement bleibt. Deshalb wird die direkte politische Arbeit der Bewegung zu einem großen Teil an das GEN-Netzwerk delegiert. Die Ökodorf-Bewegung hat allerdings kein politisches, soziales oder wirtschaftliches Gesamtkonzept als Alternative zum Kapitalismus entwickelt. Eine von Ökodörfern inspirierte Gesellschaft wäre aber sicherlich geprägt von vielfältigen sozialen Netzwerken, deren informelle gegenseitige solidarische Unterstützung und Schenk- und Tauschwirtschaft es erleichtern würden, sich ökologisch und sozial sinnvoll zu verhalten und nachhaltig zu leben. Es gäbe mehr Gemeinschaftsgärten, regionale Selbstversorgung, solidarische und kleinbäuerliche Landwirtschaft, basisdemokratische Selbstbestimmung, eine Kultur des Teilens und ein Wirtschaftssystem mit deutlich weniger sozialem Gefälle als heute.
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1 siehe auch den Text zu Care Revolution

Das Global Ecovillage Network: Bewusstseinsbildung für den sozial-ökologischen Wandel
Neben den vielen Ökodörfern und Gemeinschaftsprojekten weltweit, ist es vor allem das Global Ecovillage Network (GEN), das auf übergeordneter Ebene politisch aktiv ist. Es setzt sich aus Vertreter_innen engagierter Mitgliedsgemeinschaften zusammen und ist in fünf kontinentale Unternetzwerke gegliedert (zum Beispiel GEN-Europe), die sich wiederum in kleinere nationale Netzwerke (beispielsweise GEN-Deutschland) auffächern. Ein wichtiger Schwerpunkt von GEN-International ist die Zusammenarbeit und das gegenseitige Lernen von Projekten aus dem globalen Norden und dem globalen Süden. In diesem Sinne entsteht gerade eine Partnerschaft zwischen GEN-Deutschland und GEN-Kamerun.
Neben Projekten im Aufbau und anderen intentionalen Gemeinschaften sind in der GEN-Projektdatenbank circa 300 etablierte Ökodörfer weltweit verzeichnet. Eine interaktive Karte gibt einen guten Überblick über die weltweite Verteilung der Mitgliedsprojekte. GEN möchte einerseits eine Austauschplattform für seine Mitglieder sein und andererseits eigene Projekte entwickeln, die über einzelne Ökodörfer hinausreichen. Ein weiteres Ziel ist es, gesellschaftliche und politische Schlüsselakteur_innen für die Bewegung zu sensibilisieren. Außerdem will GEN das in langjähriger Aufbau- und Bildungsarbeit in den Gemeinschaften entwickelte Know-how an strategischer Stelle weitergeben.

Hilfe für Geflüchtete auf Lesbos, Lobbyarbeit in Brüssel und Aufbau urbaner Resilienz in Deutschland: Strategien für den sozial-ökologischen Wandel in Europa


GEN-Europe konzentriert sich mit seinen Aktivitäten darauf, einen breiten sozial-ökologischen Wandel – an strategischen Stellen und in verschiedenen Bereichen – voranzutreiben und auf aktuelle Krisen wie die desaströse Situation von Geflüchteten zu reagieren.
Als Ökodörfer stehen wir für soziale Gerechtigkeit und eine humane Welt, in der Menschen nicht daran gehindert werden sollten, ihr Recht auf Asyl in der EU in Anspruch zu nehmen

(GEN-Europe ).


So unterstützt GEN-Europe seine Mitglieder dabei, neben ihrem Engagement für Geflüchtete in ihrer jeweiligen Region auch auf der griechischen Insel Lesbos, wo zahlreiche Geflüchtete unter menschenunwürdigen Bedingungen festsitzen, aktiv zu werden und praktisch zu helfen. Das Netzwerk arbeitet dabei mit anderen NGOs, örtlichen Behörden, der Universität und lokalen Gruppen zusammen, damit sich die Hilfe, die GEN-Mitglieder und -Freiwillige leisten, möglichst nahtlos in andere Unterstützungsstrukturen einfügen kann.
Auch auf EU-Ebene wirkt GEN darauf hin, dass die Stimmen für einen sozial-ökologischen Wandel auch bei Entscheidungsträger_innen Gehör finden. GEN-Europe war deshalb maßgeblich am Aufbau von Ecolise beteiligt: einem Zusammenschluss von GEN-Europe, verschiedenen Transition-Town-Initiativen und interessierten Universitäten mit dem Ziel, eine übergeordnete Organisation zu schaffen, die den kleinräumigen sozial-ökologischen Wandel in Brüssel vertritt und die auch praktischen Projekten hilft, bestehende EU-Strukturen in ihrem Sinne zu nutzen.
Ein Beispiel, wie GEN daran arbeitet, die Erfahrung aus Ökodörfern und Gemeinschaften auch für die Stadtentwicklung nutzbar zu machen, ist das vom Umweltbundesamt geförderte Projekt „Urbane Resilienz und neue Gemeinschaftlichkeit“ unter dem Dach von GEN-Europe. Das im Mai 2015 begonnene Projekt ist ein Forschungs- und Dialogprojekt, das die Chancen und Grenzen des Ökodorf-Ansatzes für die nachhaltige Stadt- und Regionalentwicklung untersucht und einen Dialog unter lokalen Akteur_innen in Gang bringt. In einem Dialogprozess mit Politik, Stadtverwaltung und Akteur_innen der nachhaltigen Stadtentwicklung will GEN am Beispiel Kassel und Karlsruhe untersuchen,
wie das in Ökodörfern und Gemeinschaften kultivierte Nachhaltigkeitsverständnis (…) auch Städte, Stadtteile und urbane Projekte bei der Stärkung ihrer ökologisch-sozialen Erneuerungsfähigkeit und Widerstandskraft unterstützen kann

(GEN-Deutschland 2015).


Als Ergebnis soll ein „Handlungsleitfaden mit hohem Anwendungsbezug“ entstehen, der auf andere Städte und Stadtteile übertragbar ist.

Die Akteur_innen: nicht nur akademisch geprägt und mit klarem Bekenntnis zu emanzipatorischen Werten


Wie in der Degrowth-Bewegung sind auch in den Ökodörfern und insbesondere bei den Aktiven im GEN-Netzwerk vor allem Akademiker_innen und/oder Menschen mit bildungsbürgerlichem Hintergrund engagiert. Durch ihre praktische Ausrichtung ziehen die Ökodörfer jedoch auch viele Handwerker_innen und Aussteiger_innen an, die andere Perspektiven mit einbringen.
Wie die Degrowth-Bewegung grenzt sich GEN-Deutschland deutlich von völkischen und undemokratischen Projekten ab und schließt folgende Projekttypen von der Mitgliedschaft aus2 :

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2 Aus einem internen Schreiben an die Mitglieder von GEN-Deutschland.

Ökodörfer als Erfahrungsfeld und als Verbündete für Degrowth und verwandte Bewegungen
Mit ihrem Einsatz für eine kleinräumiger organisierte Gesellschaft, eine weitgehende regionale Selbstversorgung und Kooperation, ein sinn- und solidaritätsorientiertes Wohlstandsverständnis und direkte Teilhabe an Entscheidungsprozessen steht die Ökodorf-Bewegung den Werten der Degrowth-Bewegung sehr nahe. Die Werte und Bestrebungen der Ökodorf-Bewegung erscheinen sowohl in der Theorie als auch in der Praxis kompatibel mit den Grundsätzen von Degrowth beziehungsweise als deren praktische Ausformung und Experimentierfeld. Degrowth entstand jedoch vorwiegend als ein auf Wirtschaft und Gesellschaft bezogenes theoretisches Konzept und führt von der Theorie aus zur Praxis, die sich als eigenständige Degrowth-Praxis erst noch herausbilden müsste. Ökodörfer entwickelten sich hingegen aus der Praxis heraus, von wo aus sie sich auf die Vision einer nachhaltigeren, gerechteren und solidarischeren Gesellschaft zubewegen.
Die Ökodorf- und die Degrowth-Bewegung vereint, dass beide einen breiten und ganzheitlichen Ansatz verfolgen: Degrowth in der Theorie und auf übergeordneter gesellschaftlicher und politischer Ebene; Ökodörfer in der Praxis und in lokalem Kontext. Vor diesem Hintergrund sind Ökodörfer ein Abbild der Vielfalt und ein Teil des größeren gesellschaftlichen Suchprozesses, für den auch Degrowth steht.
Diese ganzheitliche Praxisorientierung macht Ökodorfprojekte zum idealen Erfahrungsfeld für die Frage, wie das Leben in einer von Degrowth geprägten Gesellschaft konkret aussehen und sich anfühlen könnte, und zwar nicht nur punktuell, sondern tagtäglich in allen Lebensbereichen und über Jahre und Jahrzehnte hinweg. Viele andere soziale Bewegungen, die sich auf bestimmte Teilaspekte des notwendigen gesellschaftlichen Wandels beziehen, können Verbündete für beide sein.
Betrachtet man Ökodorf- und Gemeinschaftsprojekte unter der Fragestellung, in welchem Maße und in welchen Bereichen sich die teilweise sehr hohen und radikalen theoretischen Ansprüche in der Praxis langfristig durchhalten lassen, wird schnell klar: Wer auf Dauer eine zukunftsfähige Alternative schaffen will, muss die richtige Balance finden zwischen dem Anspruch an sich selbst und andere und den erstaunlich hartnäckigen mentalen Infrastrukturen der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft, also den daraus entstandenen Gewohnheiten und Prägungen. Ansonsten scheitern idealistische Projekte sehr schnell an der harten Realität. Um sich langsam weiter in die angestrebte Richtung zu bewegen, schaffen erfolgreiche Ökodorfprojekte Bedingungen, die idealerweise dabei unterstützen, hinderliche mentale Infrastrukturen schrittweise zu erkennen und zu verändern, ohne zu überfordern. Hierbei kann auch der in linken Kreisen eher verpönte spirituelle Aspekt eine Hilfe sein. Aus spiritueller Praxis entlehnte Techniken für Gruppenprozesse und Selbstreflexion spielen in vielen Projekten eine Rolle.
Für eine Weiterentwicklung des Degrowth-Ansatzes scheinen solche Erfahrungsfelder unabdingbar. Matthias Schmelzer und Dennis Eversberg schreiben in ihrer Analyse der Degrowth-Bewegung:
Zentral ist die Suche nach Formen transformativer Praxis, die am eigenen Alltag ansetzen und auf eine Veränderung nicht nur der sozialen Strukturen, sondern auch und zunächst des eigenen Selbst als Teil derselben zielen. Es geht bei diesen Aktions- und Organisierungsformen darum, nicht nur reale Spielräume für ‚anderes‘ Handeln zu eröffnen, sondern dabei als Handelnde zugleich im Tun ‚etwas anderes zu werden‘, sich zu anderen, in und von nicht-wachstumsfixierten Praktiken erzeugten Subjekten zu machen.

(Eversberg; Schmelzer 2016)


Die schon konkret bestehenden ganzheitlichen Nischen oder Vorboten einer möglichen künftigen Postwachstumsgesellschaft können deshalb ein wertvolles Erfahrungsfeld sein für Degrowth sowie ein Forschungsfeld für funktionierende Übergangsstrategien und die Praxistauglichkeit theoretischer Degrowth-Ansätze. Für die Bildung von Allianzen mit Akteur_innen aus dem globalen Süden könnte das Global Ecovillage Network (GEN) mit seinen Erfahrungen in diesem Bereich ein wertvoller Partner für Degrowth sein. Umgekehrt kann Degrowth für Ökodörfer eine Orientierung bieten, an der sie praktische Einzelentscheidungen ausrichten und in den größeren gesellschaftlichen Kontext stellen können. Degrowth kann hier Sichtweisen mit einbringen, die im praktisch-lokalen Kontext leicht übersehen werden.

Als Pioniere des Wandels sichtbar werden – divers und gemeinsam


Bezüglich der allgemeinen Werte, an denen sich die Ökodorf-Bewegung orientiert, gibt es nicht nur große Schnittmengen mit Degrowth, sondern auch mit den anderen in dieser Publikation vertretenen sozialen Bewegungen. Während die Zusammenarbeit mit Transition-Town sehr eng ist, bestehen zu anderen Bewegungen losere Verbindungen. Punktuell sind Ökodorf-Aktive zum Beispiel in Bürgerenergie-Genossenschaften, in der Commons-Bewegung und der solidarischen Landwirtschaft engagiert.
Für die Zusammenarbeit mit Degrowth und anderen Bewegungen ist aus Ökodorf-Perspektive besonders wichtig, dass die verschiedensten Pioniere des Wandels als bunte und vielfältige gemeinsame Bewegung sichtbar werden und dadurch ihre Wirksamkeit und politische Schubkraft erhöhen. Dabei gilt es, die vielen Alternativen, die in gesellschaftlichen Nischen entstanden sind, stärker ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. So wünscht sich die Ökodorf-Bewegung in den kommenden Jahren eine stärkere Vernetzung und Zusammenarbeit, um der großen Anzahl derjenigen, die in verschiedenster Form für einen sozial-ökologischen Wandel eintreten, mehr Gehör zu verschaffen.
Degrowth im Praxistest: Lernfelder und Fallstricke
Von der Ökodorf-Bewegung aus betrachtet bewegt sich Degrowth noch zu sehr im theoretischen Bereich. Die Erfahrungen der Ökodörfer können hingegen zeigen, was passiert, wenn man die theoretischen Ideale konkret umsetzt und wie dies gelingen kann: Welche sozialen Veränderungen entstehen, und welche sind als Voraussetzung hierfür nötig? Wie ist es, sich als ganzer Mensch auf das Neue, Andere einzulassen und alle Lebensbereiche langfristig davon durchdringen zu lassen?

Die Kernkompetenz der Ökodorf-Bewegung: Gemeinschaftsbildung und Kommunikation


Aus der langjährigen Erfahrung älterer Ökodorf-Projekte geht hervor, dass vor allem sehr aktive und engagierte Menschen im Laufe der Zeit ausbrennen. Es kommt eine gewisse Müdigkeit auf, wodurch die Gefahr besteht, in Routine zu verfallen und alten Mustern zu folgen. Aufgrund dieses Spannungsfeldes zwischen politischem Anspruch, gelebter Realität und den ganz konkreten persönlichen Bedürfnissen und Eigenheiten der beteiligten Menschen hat sich der starke soziale Fokus der Ökodorf-Bewegung entwickelt.
Die Projekte haben gelernt, dass die Pflege des Miteinanders und der Aufbau einer konstruktiven Kommunikationskultur zentral sind für den langfristigen Erfolg eines Projekts. So liegt die Kernkompetenz der Ökodorf-Bewegung im Bereich der Gemeinschaftsbildung und Kommunikation. Diese Kompetenz kann sie auch in andere soziale Bewegungen und politische Gruppen einbringen. Überall da, wo Menschen gemeinschaftlich etwas erreichen wollen, stehen zwischenmenschliche Belange oft einem langfristigen Erfolg im Weg. Gemeinschaftsbildende Techniken zum Beispiel aus der gewaltfreien Kommunikation oder der Tiefenökologie können hier eine andere Qualität von menschlicher Begegnung ermöglichen, aus der eine echte Verbindung und gegenseitiges Verstehen erwachsen können. Im Zuge ihrer langjährigen Entwicklung konnten Ökodorf- und Gemeinschaftsprojekte einen vielseitigen Erfahrungsschatz in diesen und anderen Techniken aufbauen.

Anspruch und Wirklichkeit: Setzt die Ökodorf-Bewegung ihre Ideale wirklich um und sind Degrowth-Konzepte zu naiv?


Auch in vielen Ökodorf- und Gemeinschaftsprojekten, die einen viel weiter reichenden praktischen Anspruch haben als Degrowth, gibt es häufig eine Diskrepanz zwischen theoretischem Anspruch und gelebter Realität. Angesichts der vielen unterschiedlichen Vorstellungen ist es oft schwer, in der Praxis auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Die Tatsache, dass Kommunikations- und Entscheidungsfindungsprozesse einen so großen Raum einnehmen, strengt viele Menschen an. Und es fehlt häufig an Personen, die die praktischen Tätigkeiten, auf die es im Projekt ankommt, langfristig verrichten und dafür Verantwortung übernehmen. Ohne diese Basis funktionieren die Projekte als Ganzes allerdings nicht. So wird die Menge an Zeit und Energie, die soziale Prozesse einnehmen, oft unterschätzt, wodurch wiederum zu wenig Raum bleibt für das Praktische, das doch eigentlich zentral sein sollte.
Aufgrund dieser Erfahrung sieht es die Ökodorf-Bewegung auch als ihre Aufgabe, zu naive Vorstellungen von einem Degrowth-kompatiblen Leben zu relativieren. Es bedeutet sehr viel harte Arbeit, ein vergleichsweise hohes Maß an regionaler gemeinschaftlicher Selbstversorgung zu erreichen, was Theoretiker_innen in der Regel unterschätzen.

Wie viel Radikalität ist möglich und wie viel Anpassung an den Mainstream ist nötig?


Wie der Degrowth-Bewegung geht es auch der Ökodorf-Bewegung darum, ihre Ziele und Werte in die Gesellschaft hineinzutragen, diese zu inspirieren und so politisch Einfluss zu nehmen. Ökodörfer haben die Erfahrung gemacht, dass dies nur möglich ist, wenn sie nicht durch zu große Radikalität abschreckend wirken. Denn ansonsten bleiben sie auf eine Nische beschränkt und haben es schwer, darüber hinaus zu wirken. Auch aufgrund der Erfahrung, dass sich sehr radikale Ansätze nur schwer dauerhaft umsetzen lassen, haben sich Ökodörfer etwas mehr an den Mainstream angeglichen und wurden dadurch für diesen attraktiver. So wirken sie zwar mehr in die Gesellschaft hinein, ziehen aber auch eine andere Klientel an, wodurch die Gefahr besteht, dass auch die Ausrichtung und Ziele der Projekt näher an den Mainstream heranrücken.
Eine Frage, die sich daraus für Degrowth ergibt und die auch die Ökodorf-Bewegung für sich nicht eindeutig beantworten kann, lautet: Wie viel Radikalität ist möglich und wie viel Anpassung an die Gesamtgesellschaft ist nötig, um möglichst viele Menschen für die eigenen Ziele zu mobilisieren?
Eine breite soziale Bewegung als sozial-ökologische Alternative zum rechten Populismus
Aus der Ökodorf-Perspektive ist es wichtig, sich nicht als Teil verschiedener Bewegungen zu verstehen, sondern als Teil einer breiten emanzipatorischen Bewegung, die es bereits gibt, auch wenn sie als solche noch nicht sichtbar ist. Gerade in Zeiten von Pegida, AfD & Co ist es unabdingbar, für mehr politische Schubkraft zu sorgen, um den rechten Scheinalternativen echte und humane Alternativen entgegenzusetzen. Wo den klassischen Parteien jegliche Fantasie zu fehlen scheint, den multiplen Krisen des Kapitalismus zu begegnen, darf es für die sogenannte „Mitte der Gesellschaft“ nicht nur die Wahl geben zwischen der Aufrechterhaltung des Status quo einerseits und dem Populismus vom rechten Rand andererseits. Damit eine emanzipatorische Alternative jedoch eine Chance hat, als realistische Option wahrgenommen zu werden, braucht sie dringend ein gemeinsames Dach, unter dem sich alle wiederfinden können.
Rechten Scheinalternativen etwas entgegensetzen (Raute Film)
Bei der Herausbildung eines solchen Daches für eine vielfältige und bunte Bewegung kann die Ökodorf-Bewegung dazu beitragen, stärker auf das Verbindende als auf das Trennende zu schauen – wie es in vielen Ökodorf-Gemeinschaften bereits Praxis ist. Unsere Chance liegt darin, uns in all unserer Verschiedenheit als unterschiedliche Instrumente im gleichen Orchester zu sehen, die zusammen ein Konzert geben. Dann können wir sehr stark sein und die Welt verändern.
Wir sind bereits dabei.

Links


> Experiment Selbstversorgung – Blogprojekt
> Global Ecovillage Network (GEN-International)
> GEN-Europe (deutsch)
> GEN-Deutschland
> Sieben Linden

Verwendete und weiterführende Literatur


GEN 2014. What is an Ecovillage? Zugriff: 02.06.2016. <http://gen.ecovillage.org/de/article/what-ecovillage>
GEN Deutschland : Projekt „Urbane Resilienz und neue Gemeinschaftlichkeit“. Zugriff: 06.06.2016. <http://gen-deutschland.de/aktivitaeten/uba/index.htm>
GEN Europe 2015. refuGEN – GEN Takes Action regarding the Refugee Crisis on the Island of Lesvos. Zugriff: 03.06.2016. <http://gen-europe.org/activities/news/news-detail/artikel/refugen/index.htm>
Eversberg, Dennis; Schmelzer, Matthias 2016. Über Selbstproblematisierung zu Kapitalismuskritik: Die Degrowth-Bewegung. Zugriff: 03.06.2016. <https://www.degrowth.info/de/2016/01/ueber-selbstproblematisierung-zu-kapitalismuskritik-die-degrowth-bewegung/>
Hopkins, Rob 2014. Rob Hopkins: Transition Town is the practical manifestation of a postgrowth society (Video). Zugriff: 02.06.2016. <https://www.degrowth.info/en/2014/07/rob-hopkins-transition-town-is-the-practical-manifestation-of-a-postgrowth-society/>
Joubert, Kosha Anja; Dregger, Leila. 2015. Ökodörfer weltweit: Lokale Lösungen für globale Probleme. Neue Erde.
Kunze, Iris 2010. Gemeinschaften als Experimente nachhaltiger Ökonomie. In: Wirtschaft in der Zeitenwende. Zur Vision einer Maßwirtschaft der Lebensfülle und Schritte zu ihrer Verwirklichung. Ideen und Impulse für eine integrale Ökonomie der Zukunft. Fein, Elke (Hrsg.). Freiburg im Breisgau: Institut für integrale Studien. 86-95. < http://www.ifis-freiburg.de/sites/www.ifis-freiburg.de/files/img_ifis/Wirtschaft_in_der_Zeitenwende_DOKUMENTATION.pdf>
Kunze, Iris 2009. Soziale Innovationen für eine zukunftsfähige Lebensweise. Gemeinschaften und Ökodörfer als experimentierende Lernfelder für sozial-ökologische Nachhaltigkeit (Dissertation). Münster: Ecotransfer-Verlag. <http://repositorium.uni-muenster.de/document/miami/e550e7ad-e78b-44c5-ad66-0c02e073d5ec/diss_kunze.pdf>
Lambing, Julio 2014. Ökologische Lebensstil-Avantgarden: Eine kurze Analyse sozial-ökologischer Gemeinschaften und ihres Innovationspotenzials (Hrsg: European Business Council for Sustainable Energy ). <http://www.e5.org/downloads/Oekodorf/e5JulioLambingOekologischeLebensstilAvantgarden.Dez.2014.pdf>
GEN-Europe e. V. 2014. Ökodörfer als Modelle gelebter Nachhaltigkeit (Broschüre). Zugriff: 06.06.2016. <http://gen-europe.org/fileadmin/_migrated/content_uploads/Broschuere-Oekodoerfer-als-Modelle-gelebter-Nachhaltigkeit.pdf>

00 Degrowth in Bewegung(en)

01 Einleitung

02 15M – from an autonomous perspective

03 Anti-Kohle-Bewegung

04 Artivism

05 Attac

06 Buen Vivir

07 Care Revolution

08 Commons-Bewegung

09 Degrowth

10 Demonetarisierung

11 Ernährungssouveränität

12 Flucht- und migrationspolitische Bewegung

13 Freie-Software-Bewegung

14 FUTURZWEI

15 Gemeinwohl-Ökonomie

16 Gewerkschaften

17 Grundeinkommensbewegung

18 Jugendumweltbewegung

19 Klimagerechtigkeit

20 Offene Werkstätten

21 Ökodorf-Bewegung

22 Peoples Global Action

23 Plurale Ökonomik

24 Post-Development

25 Post-Extraktivismus

26 Queer-Feministische Ökonomiekritik

27 Radical ecological democracy

28 Recht auf Stadt

29 Solidarische Ökonomie

30 Tierrechtsbewegung

31 Transition-Initiativen

32 Umweltbewegung

33 Urban-Gardening-Bewegung

34 Abschlusskapitel