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Degrowth in Bewegung(en)

Urban-Gardening-Bewegung

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Title: Auf der Suche nach einem neuen Natur-Kultur-Verhältnis

By: Christa Müller

Release date: 28.06.2016

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Christa Müller ist promovierte Soziologin und leitet die Münchener Forschungsgesellschaft anstiftung.
In den 1990er Jahren habe ich in Spanien, Lateinamerika und Westfalen zu Bauernbewegungen und Modernisierungsprozessen geforscht. Mit den Internationalen Gärten Göttingen entstand mein wissenschaftliches Interesse an der urbanen Gartenbewegung in Deutschland, die die anstiftung von Anfang an unterstützte und forschend begleitete. Wir forschen in der Tradition des Action-Research-Ansatzes, in dem die Subjekt-Objekt-Beziehung permanent befragt und zur Grundlage der Reflexion gemacht wird.
Der Text entstand ohne direkte Abstimmung mit Akteur*innen der Bewegung, jedoch in Kenntnis der vielen unterschiedlichen Stimmen. Meine Position ist primär eine beobachtende, ich spreche also nicht stellvertretend für andere. Die meisten urbanen Gartenprojekte agieren politisch, haben zum Beispiel das Urban Gardening Manifest unterschrieben, jedoch bedeutet dies nicht, dass jeder und jede Beteiligte das Gärtnern als Artikulation eines politischen Willens versteht. In Anlehnung an Hannah Arendt (1972) würde ich jedoch sagen, dass die Interaktion von unterschiedlichen Menschen an einem öffentlichen Ort (und dazu zählen die sich als offen verstehenden urbanen Gemeinschaftsgärten) per se politisches Handeln ist. Dennoch möchten manche Akteur*innen einfach nur in Kontakt mit der Natur sein, andere wollen Menschen treffen, sich ausruhen und ins Grüne schauen, wieder andere möchten einen Raum gestalten oder handwerklich tätig werden. Manche der Aktiven aber stecken ihre Energie in diese Projekte, um die Privatisierung des öffentlichen Raums zu verhindern, den öffentlichen Raum als Gemeingut zurückzuerobern und die Stadt zu begrünen (vgl. Müller 2011).
Kommerzfreie Naturräume für alle
Kernidee beziehungsweise zentrales Handlungsfeld der Urban-Gardening-Bewegung sind kommerzfreie Naturräume für alle. Die Aktivist*innen verwandeln Brachflächen, Parkgaragendächer und andere vernachlässigte Orte in eigener Regie in grüne, lebensfreundliche Umgebungen. Aus Europaletten, Industrieplanen und Bäckerkisten bauen sie mithilfe einer oftmals breiten Beteiligung aus dem Viertel mobile Gemeinschaftsgärten mitten in der Stadt. Sie halten Hühner und Bienen, imkern, säen, ernten, kochen, reproduzieren Saatgut, bauen Lehmöfen und Lastenfahrräder aus Schrottteilen, funktionieren Hafencontainer zu Werkstätten und Gartenbars um, eignen sich handwerkliches Wissen an und kultivieren Formen der Begegnung, die Pflanzen ebenso wie Menschen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkünfte einschließen.
Dem Gemüseanbau kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Er ermöglicht milieu- und kulturübergreifenden Austausch und dient zugleich dazu, die industrielle Nahrungsmittelproduktion und ihre Handelsketten zu hinterfragen, zu unterlaufen, zu verändern. Die Beschäftigung damit, wie Lebensmittel wachsen, welche Umgebungen und Formen der Zuwendung sie benötigen und wie sie verarbeitet werden können, wird kombiniert mit gesellschaftspolitischen Fragen: Wem gehört eigentlich der Boden? Welchen Vorstellungen von Teilhabe und Wohlstand soll er dienen? Und – eine zukunftsweisende Frage – von wo sollen die Nahrungsmittel und die Ressourcen für den Massenkonsum in Zukunft kommen? Die urbane Gartenbewegung greift damit Fragen einer nachhaltigen Umgestaltung von Gesellschaft auf. Sie tut dies in bemerkenswert unideologischer Weise und bearbeitet sie unmittelbar vor Ort. Urban Gardening ist damit nicht Ausdruck einer Verklärung von Landleben, sondern vielmehr der Suche nach einer anderen Stadt.
Ich verstehe unter Urban-Gardening-Projekten urbane Gärten neuen Typs, Gärten also, die nicht nach einem Refugium jenseits der lauten Stadt suchen, wie es die für die Epoche der Industriemoderne so typischen Kleingärten tun. Vielmehr wollen die Protagonist*innen der neuen Gärten mit der Stadt, mit der umgebenden Nachbarschaft kommunizieren und eigene Beiträge zu einer nachhaltigen Quartiersentwicklung leisten (vgl. Müller 2011). Der historische Vorläufer des urbanen Gemeinschaftsgartens ist darum auch nicht der Kleingarten, der eindeutig in der Kontinuität einer industriegesellschaftlichen Kolonisierung der Natur steht (auf Kante geschnittene Hecken, großzügiger Einsatz von Pestiziden etc., vgl. Kropp 2011). Der Gemeinschaftsgarten des neuen Typs bricht mit diesen Herrschaftstechniken. Darüber hinaus bedarf er geradezu des verdichteten urbanen Umfeldes, bedarf vor allem des öffentlichen Raums, zu dem er sich in Beziehung setzt und den er neu verhandeln möchte.
Der erste Gemeinschaftsgarten des neuen Typs entstand in Deutschland Mitte der 1990er Jahre in Göttingen und war eine Folge des Jugoslawienkrieges: Bosnische Frauen in den Migrationszentren vermissten vor allem ihre Gärten, mit denen sie zu Hause große Familien ernährt hatten. Hier ging es erstmals (auch) darum, über das Medium des gemeinschaftlichen Gärtnerns gesellschaftliche Themen zu bearbeiten, in diesem Fall, einen ressourcenorientierten Ansatz und neue Formen der Beheimatung zu erproben (vgl. Müller 2002). Die Subsistenzpraxis in Gärten verleiht den Beteiligten Souveränität, die es ihnen ermöglicht, anderen als Gleiche begegnen zu können. Anders als viele Integrationsprojekte bilden die Gärten in mehrfacher Hinsicht eine (keinesfalls mit einer Einbahnstraße zu verwechselnde) Passage zwischen dem Herkunfts- und dem Aufnahmeland sowie zwischen ihrer biografischen Vergangenheit und ihrer Gegenwart (vgl. Müller/Werner 2006). Gemeinschaftsgärten sind besonders geeignete Räume für interkulturellen Austausch. Über das gemeinsame Tätigsein gelingt es, Differenzen und Gemeinsamkeiten auszudrücken, zu deuten und wertzuschätzen. Die Gärtner*innen aus unterschiedlichen Herkunftsländern bringen ihre Kenntnisse ins Spiel und erwirtschaften Überschüsse, die sie verschenken können. Nicht zuletzt die Ökonomie der Gegenseitigkeit, die man nur kultivieren kann, wenn man etwas zu geben hat, erschließt fruchtbare Anschlüsse in andere gesellschaftliche Subsysteme.
Seit Mitte der Nullerjahre differenziert sich das gemeinschaftliche Gärtnern kontinuierlich weiter aus. In großen Städten tauchen Guerilla-Gardening-Aktionen sowie von Anwohner*innen betriebene Nachbarschafts- und Kiezgärten in hochverdichteten Stadtvierteln auf, wie 2004 der Gemeinschaftsgarten Rosa Rose in Berlin-Friedrichshain. Den Initiator*innen dieses Gartens ging es dabei vor allem um die Besetzung und die Aneignung von brachliegenden Flächen, um sie selbst zu nutzen und um sie den wenig privilegierten Menschen des grünarmen Kiezes als Ort für gemeinsames Tätigsein zur Verfügung zu stellen. Als das Grundstück an einen Investor verkauft und bebaut wird, muss der Garten weichen. Dies geschieht in Form einer Umzugsparade, die einen Einblick in die performativen Politikformen des Urban Gardenings gibt (vgl. Werner 2011). Heute zeugt eine in den Boden eingelassene rosafarbene Gedenktafel in der Kinzigstraße von Rosa Rose.
2009 schließlich tritt der Prinzessinnengarten mit dem Prinzip des nomadischen Gärtnerns in mobilen Behältnissen auf die städtische Bühne. Mit dieser paradoxen Intervention erzielt der auf einer 6000 m² großen Brachfläche am Kreuzberger Moritzplatz angelegte Garten große mediale Aufmerksamkeit. Maßgeblich verantwortlich für die Faszination, die der Ort bei vielen Besucher*innen auslöst, ist die Ästhetik des Unfertigen, die nicht zuletzt durch Re-Use und Upcycling gebrauchter, häufig irgendwo gefundener Gegenstände entsteht. Hier geht es darum, Dinge ohne Geld- und Energieeinsatz wieder in Wert zu setzen, die gemäß der industriellen Logik des Produzierens, Konsumierens und Wegwerfens verbraucht und wertlos sind.
Zunehmend entstehen auch Gärten an Museen und Theatern. Hochreglementierte Räume werden durch offene und verspielte Räume ergänzt und auch relativiert. Die verwandelten Räume des DIY (Do it yourself) und DIT (Do it together) heben die Schranken zwischen Hochkultur, Institutionen und dem Alltagshandeln urbaner Akteur*innen auf. Das gilt in jeweils spezifischer Weise auch für Gemeinschaftsgärten an Flüchtlingsunterkünften, Firmengärten und offenen Studierendengärten an Hochschulen.
Urbane Gärten: offen für unterschiedliche soziale Herkünfte und Generationen
Die mehr als 500 urbanen Gemeinschaftsgärten (Karte) gehören zu den wenigen Orten in Deutschland, an denen Menschen verschiedener sozialer Herkünfte und Generationen zusammen aktiv sind. Gegründet werden viele der Projekte von zumeist gut ausgebildeten, jungen, ökologisch sensibilisierten und vernetzten Akteur*innen. Sie haben nicht zuletzt im Internet Erfahrungen von Machbarkeit gesammelt und sind – im Vergleich zu den Vorgängergenerationen der Nachkriegsjahrzehnte – in demokratischen Settings aufgewachsen. Familie, Schule und Web 2.0 vermitteln ihnen, dass alles möglich, die Zukunft offen und sie selbst aufgefordert sind, gestaltend einzugreifen. Wirk- und Handlungsmacht ist die Erfahrung ihres Lebens. Sie wollen die Stadt, in der sie leben, mitgestalten. Das im Internet praktizierte Teilen von Kenntnissen und die hieraus resultierende Wirksamkeitserfahrung migriert in die analogen Räume und wird dort zur Herausforderung für die etablierten Institutionen.
Die Akteur*innen nehmen die Schließung des öffentlichen Raums in den Blick und erweitern mit ihren Architekturen und Aktivitäten vorgefertigte und vorgeplante Stadträume. Sie leiten aus ihrer gemeinschaftlichen Praxis Anforderungen an eine zeitgemäße, demokratische Stadtplanung ab: Raum geben für Interaktionen zwischen Stadtnatur und Menschen, entsiegeln statt weiter versiegeln, Platz lassen für Begegnung und produktive Raumaneignungen. Diese Botschaften senden die Stadtgärtner*innen an die Stadtplanung, und sie tun dies nicht (nur) mit Worten, sondern mit ihren „Installationen“. Der Ort selbst ist die Botschaft; in ihm scheint eine konkrete Utopie auf. Man könnte auch sagen, hier wird mit der normativen Kraft des Faktischen gearbeitet, es werden öffentlich begehbare Tatsachen geschaffen, die vielleicht noch nicht von der Rechtsordnung anerkannt, von der politischen Ordnung jedoch durchaus wahrgenommen werden und dort die Routinen zunächst einmal stören.
Viele der nach 1980 Geborenen sind gegenüber Autoritäten und Hierarchien kritisch eingestellt. Sie verlangen nach Transparenz, direkter Einflussnahme und freiem Zugang – jedoch nicht allein für sich selbst. Die Reklamierung des öffentlichen Raums für Commons- und Subsistenzpraxen geht einher mit einer konsequenten Praxis des Öffnens. Der Zugang ist frei. Es muss weder Eintritt gezahlt noch konsumiert werden. Nicht zuletzt mittels der pluralen baulichen Settings fühlt sich eine breite Vielfalt von Menschen angesprochen. Durch ihre räumlichen Arrangements wirken urbane Gemeinschaftsgärten anziehend auch für jene Menschen, die biografisch vertraut sind mit urbaner Landwirtschaft und mit temporären und informellen Landnahmen aus der Tradition des Hands-on-Urbanism (vgl. Krasny 2012); man denke nur an die Gastarbeiter*innen der 1960er und 1970er Jahre, die auf Brachflächen deutscher Städte informellen Stangenbohnen- und Gemüseanbau betrieben. Für Menschen aus ärmeren Weltgegenden sind Gartenprojekte aber nicht nur wegen des Zugangs zu landwirtschaftlichen Produkten attraktiv. Sie gestalten auch gemeinsam mit anderen einen offenen Ort, der Aufmerksamkeit erfährt. In anderen Kontexten ist ihnen dieser Zugang häufig schon deshalb versperrt, weil sie die (unsichtbaren) Eingangshürden nicht überwinden können. Michael J. Sandel verweist mit seinem Begriff der „VIP-Logen-Gesellschaft“ darauf, dass die Begegnung von Menschen unterschiedlicher sozialer Herkünfte im öffentlichen Raum immer seltener wird; der amerikanische Philosoph sieht in dieser Entwicklung ein fundamentales Problem für die Demokratie (Sandel 2012). Aus diesem Grund sind die urbanen Gärten keineswegs nur im Bereich der Stadtökologie oder des urbanen Aktivismus zu verorten, sondern auch als innovative Beiträge zu einer Neuorganisation des Zusammenlebens in einer immer stärker auf Milieuabgrenzung setzenden Gesellschaft zu verstehen.
Ein wichtiges Moment ist die Vernetzung der Projekte, denn erst so kann eine Bewegung entstehen. Überall bilden sich lokale und regionale Netzwerke von Gemeinschaftsgärten, zum Beispiel Solidarisches Gemüse in Hamburg, Grüne Oasen in Nordrhein-Westfalen oder das Netzwerk Urbane Gärten München. Vielerorts finden in urbanen Gärten Bauernmärkte statt, um die Bezüge zur regionalen Landwirtschaft sichtbar zu machen. Gleichzeitig ist die urbane Gartenbewegung international vernetzt und weist vielfache Anschlüsse zu anderen Bewegungen auf: der globalisierungskritischen Bewegung, der Kleinbauernbewegung, der Landlosenbewegung, der Recht-auf-Stadt-Bewegung, der Bewegung für Ernährungssouveränität und freies Saatgut und nicht zuletzt der Degrowth-Bewegung.
Viele der Projekte verstehen sich als offene Lern- und Bildungsräume, es finden Akademien, Webinare und praktische Kurse statt, zum Beispiel über Heilpflanzen, Lehmbau oder den Bau von kleinen Biogasanlagen. Vielerorts finden sich Hands-on-Bibliotheken: Ausgediente Glasschränke oder Einkaufswagen beherbergen das notwendige Wissenskompendium, das von A wie Anbau über P wie politische Aktion bis Z wie Zusammenarbeit reicht.
Augenfällig ist die Bezugnahme auf die Ressourcenkrise, sie zeigt sich in informellen Formen des Bauens und der Wiederinwertsetzung bereits vorhandener, häufig lokaler Materialien. Man reagiert nicht mit Verzichtsstrategien, sondern mit Umdeutung und Weiterverwertung, häufig kommen die Gegenstände nur in einem anderen Kontext zum Einsatz. Es geht nicht lediglich um eine Einsparung von Ressourcen. Die Suchbewegungen gelten vielmehr einem anderen Umgang mit den Dingen – und sie gelten einem guten Leben, und zwar einem mit weniger Materialverbrauch. Man sieht im bereits vorhandenen Material verheißungsvolle Ausgangspunkte für kreative Neuschöpfungen. So trifft man in urbanen Gemeinschaftsgärten auf charmante Lampenkonstruktionen aus Senfeimern, bepflanzte Einkaufswagen, aus Althölzern gezimmerte Outdoor-Küchen, Hochseecontainer, die zu Gartenrestaurants umgebaut werden und die fast schon ikonografischen Reissäcke sowie Europaletten-Beete, in denen Bohnen, Salate und Maispflanzen wachsen. Von allem ist genug vorhanden, man muss nur die Potenziale der Dinge erkennen, die in der Stadt im Überfluss und frei verfügbar sind. In immer ausgefeilteren Produkten, in immer mehr Wachstum sehen die Akteur*innen wenig Sinn, sie setzen auf Sichtung und Erschließung des Vorhandenen und bauen die Welten, in denen sie leben, in aller Ruhe um.
Urban Gardening ist eine Praxis von Degrowth
Degrowth und Urban Gardening sind keine getrennt voneinander existierenden Phänomene, sondern unterschiedliche Ausprägungen neuerer Strömungen, die einen gesellschaftlichen und zivilisatorischen Wandel verkörpern. Überall entstehen experimentelle Räume, in denen im Vergleich zu den Mainstream-Repräsentationen anders gedacht und anders gehandelt wird. Wir sehen eine stetig wachsende Vielfalt von kleinen, wendigen, anlassbezogenen Bewegungen und Aktionen auftauchen, die temporär oder lokal miteinander vernetzt sind, oder eben auch nicht. Sie hinterlassen eine räumliche Spur, weil sie Orte und Räume bespielen und diese dadurch verändern. In diesem Spiel stellt die sich stets ändernde Vielfalt der Akteurslandschaft ein riesiges Potenzial dar. Die einzelnen Aktivitäten wie gärtnern, bauen, demonstrieren oder reparieren sind eingebettet in ein vieldimensionales Geflecht, das größer ist als das jeweils eigene Projekt. Die Praxen des DIY und DIT in urbanen Gärten sind Ausdruck einer radikal-praktischen Erprobung neuer Lebensstile jenseits des noch hegemonialen industriellen Wachstumsparadigmas, das die in die Krise geratenen westlichen Gesellschaften nach wie vor kulturell und ökonomisch prägt. All diese Aktivitäten sind für sich genommen und besonders aber in ihrer Gesamtheit und Bezogenheit aufeinander Ausdruck einer zivilisatorischen Wende, die sich anbahnt. Sie alle versuchen, im Sinne des spekulativen Realismus – man verabschiedet den Konstruktivismus und wendet sich wieder stärker der Wirklichkeit zu (vgl. zum Beispiel Avanessian 2013) – neue Möglichkeiten in der Gegenwart zu entdecken, sie gehen davon aus, dass alles auf den Prüfstand gehört, und vor allem: dass alles immer auch anders sein könnte (vgl. ebenda und Baier/Müller/Werner 2013).
Dabei entstehen auch neue Konzepte und Stile von Politik. Politik manifestiert sich heute weniger in Theorien, Verlautbarungen, Forderungen und utopischen Formulierungen, sondern in den neu entstehenden Räumen selbst sowie in dem dort stattfindenden transformativen Handeln: im Gärtnern, Kochen, Lebensmittelretten, Machen, Reparieren, Umbauen, Wiederverwerten, Öffnen. Der neue Stil des Politischen besteht darin, die Welt zu reparieren, also praktisch zu transformieren (vgl. Baier/Hansing/Müller/Werner 2016). Nicht mehr Kritik ist der dominierende Modus der Resonanz auf das, was anders sein sollte, sondern Diagnose des Problems, Ideen zur Behebung und praktische Umsetzung – und das alles nicht allein, sondern gemeinsam mit anderen, mit vielen anderen. Man fühlt sich zuständig und „übernimmt“ (vgl. ebenda).
Oft wird gegen das Urban Gardening vorgebracht, dass eine Stadt auf diese Weise niemals ernährt werden könne. Abgesehen davon, dass dies noch nicht ausgemacht ist, geht es darum auch (vorläufig) gar nicht. Die Bedeutung der Gartenbewegung liegt in der Wertschätzung der kleinbäuerlichen Wirtschaft und der Subsistenzproduktion nebst Erfahrung und Einübung einer Logik, die nicht auf Verwertung, sondern auf Versorgung ausgerichtet ist. Urban Gardening ist – wie Degrowth – Plattform und Erfahrungsraum der Erkenntnis, dass die Nahrungsmittelfrage eine zentrale gesellschaftliche Frage ist, und im Übrigen eine, die keineswegs gelöst ist. Die Gartenbewegung macht deutlich, dass die Versorgung mit den lebensnotwendigen Dingen nicht mehr länger an die Industrie oder den Markt delegiert werden sollte. Urbane Gärten und viele andere Projekte der Urban-Food-Bewegung liefern alltagstaugliche Anregungen für eine nachhaltige und ethisch motivierte Praxis des Produzierens und Konsumierens. Alle gemeinsam stellen die Bedeutung regionaler Versorgungszusammenhänge heraus, das kann man an den vielerorts stattfindenden Volxküchen (VoKüs) oder Küchen für alle (Küfas), veganen und vegetarischen Lebensstilen und einer Hinwendung zur regional-saisonalen Küche erkennen. Es geht darum, nach allen Seiten hin fruchtbare Anschlüsse zu finden und damit einen eigenen Beitrag zu leisten für eine plurale Ökonomie im unmittelbaren Umfeld sowie für eine solidarische und ökologische Weltwirtschaft. Dafür sind Reflexion, politische Debatten, aber vor allem eine Ausdifferenzierung der Praxen (etwa in Richtung Open-Source-Ecology) erforderlich.
Ein Ansatz in diese Richtung war die gemeinsame Formulierung und Veröffentlichung des Urban Gardening Manifest, in dem sich urbane Gärten als Teil einer Commons-Bewegung positionieren. Das Manifest betont, wie wichtig ein frei zugänglicher öffentlicher Raum ohne Konsumzwang für eine demokratische Stadtgesellschaft ist und lässt keinen Zweifel daran, dass Urban Gardening mehr ist als die individuelle Suche nach einem hübsch gestalteten Rückzugsort. Der Appell ist vielmehr Ausdruck einer kollektiven Bewegung, die mit neuen Impulsen für die Zukunft der Städte auf sich aufmerksam macht.
Öffnung für alle Schichten, Kulturen und Naturen
Zwei Anregungen könnten aus meiner Sicht instruktiv sein für die Debatten, Perspektiven und Praxen des Degrowth: Zum einen könnte man/frau die Verfasstheit der modernen Gesellschaft mit ihrer (genderkonnotierten) Trennungsstruktur von Subsistenz und Ware, von unbezahlter und bezahlter Arbeit, von Natur und Kultur etc. noch intensiver reflektieren.
Zum anderen kann aus meiner Sicht die Bedeutung einer Praxis, in der die vermeintlich „anderen“ einen Platz finden, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden – nicht zuletzt macht sie aus den Orten des DIY offene Räume und schafft allerbeste Voraussetzungen, Stadtbewohner*innen unterschiedlicher Herkünfte und Bildungshintergründe in die Transformationsprozesse einzubeziehen. Gerade auch angesichts der aktuellen Migrationsbewegungen erweisen sich Räume, die einschließen und nicht ausschließen, als zentrale Ressource. Die modernen Stadtgesellschaften stehen vor der Aufgabe, entwurzelten Menschen das Ankommen und den Neuanfang zu erleichtern, (interkulturelle) Gemeinschaftsgärten haben hier bereits Erfahrungen gesammelt und Konzepte entwickelt, die ohne Leitkulturfantastereien oder folkloristische Engführungen auskommen.
Die Vision: eine zivilisatorische Wende
Die aus meiner Sicht größte zu überwindende Illusion ist die dualistische Trennung von Natur und Kultur. In den letzten fünf Jahrhunderten hat sie die Kolonisierung von Natur und von menschlichen Gemeinschaften (die zu Zwecken ihrer Ausbeutung zu Natur erklärt wurden) gerechtfertigt. Heute können wir Natur als ein komplexes System von Interaktionen erkennen, wie es zum Beispiel Bruno Latour mit seinem Konzept von Nat/Cult (Nature/Culture) vorschlägt; mit diesem versucht der französische Soziologe sowohl die kulturelle Bedingtheit der Natur als auch die Natureingebundenheit von Menschen begrifflich zu fassen (vgl. Latour 2014). Schon in den 1990er Jahren entwarf Latour eine gesellschaftliche Perspektive, die die fragilen, vielfältigen Netzwerke in einem lebendigen Kosmos von menschlichen und nicht menschlichen Wesen in den soziologischen Blick rückt.
Die urbane Praxis des gemeinschaftlichen Gärtnerns kann man im Lichte dieser Vision deuten: Visuell irritiert sie die Trennung von Stadt und Land, und es entsteht eine ökologische Sensibilität, die sowohl im Verhältnis zu den Dingen als auch im Verhältnis zu Pflanzen und Tieren ihren Ausdruck findet. Ich möchte das kurz veranschaulichen am Beispiel des 2014 erschienenen Handbuchs zum Lernen in urbanen Gärten (Halder u. a. 2014). Das im Do-it-yourself-Siebdruck gestaltete Cover des Handbuchs von Berliner Gartenaktivist*innen lässt sich mit ein wenig Bildhermeneutik als ein eigenes Universum lesen: Maispflanzen umwuchern eine Hochhauslandschaft, Tomaten sprießen auf Dächern und eine überdimensionierte Maiskolben-Heuschrecke schaut sich in aller Ruhe im urbanen Biotop um. Im Buchinnern treffen wir auf eine Gießkanne mit Vogelbeinen und einen Menschen mit Zwiebelkörper: Bruno Latours „Parlament der Dinge“ lässt grüßen: Hier sind Pflanzen und Tiere keine Ressourcen, sondern selbst Akteur*innen, die ein Recht auf ihnen gemäße Umwelten in der Stadtgesellschaft haben.
Heute experimentieren die neuen urbanen Interventionist*innen mit dieser erweiterten Vorstellung von Natur/Gesellschaft. In ihren Räumen lernen Menschen in Mensch-Ding-Tier-Pflanze-Kohabitationen voneinander und von den Parallelwelten der Europaletten, der Stauden, Hühner und Bienen. Im Gewusel des Miteinanders entsteht freier Raum, um das gesellschaftliche Verhältnis zur Natur neu auszuhandeln. Die Akteur*innen stellen fest, dass die Dinge, die sie nähren, oft aus anderen Quellen stammen als aus ihnen selbst.

Links


> anstiftung: Urbane Gärten (mit einer Karte urbaner Gemeinschaftsgärten)
> Stadtacker
> Urban Gardening Manifest
> Nachbarschaftsakademie des Prinzessinnengartens (Berlin)
> Eine andere Welt ist pflanzbar (Texte und Filme von Ella von der Haide zu Gemeinschaftsgärten)

Verwendete und weiterführende Literatur


Arendt, Hannah 1972. Vita activa oder Vom tätigen Leben. München/Zürich: Piper.
Avanessian, Armen (Hrsg.) 2013. Realismus. Jetzt. Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert. Berlin: Merve.
Baier, Andrea; Müller, Christa; Werner, Karin 2013. Stadt der Commonisten. Neue urbane Räume des Do it yourself. Bielefeld: transcript.
Baier, Andrea; Hansing, Tom; Müller, Christa; Werner, Karin 2016. Die Welt reparieren. Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis. Bielefeld: transcript.
Halder, Severin u. a. (Hrsg) 2014. Wissen wuchern lassen. Ein Handbuch zum Lernen in urbanen Gärten. Neu-Ulm: AG Spak Bücher.
Helfrich, Silke, Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.) 2012. Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat. Bielefeld: transcript.
Krasny, Elke (Hrsg.) 2012. Hands-on Urbanism 1850–2012. Vom Recht auf Grün. Wien: Turia+Kant.
Kropp, Cordula 2011. Gärtner(n) ohne Grenzen: Eine neue Politik des „Sowohl-als-auch“ urbaner Gärten? In: Urban Gardening. Müller, Christa (Hrsg.). München: oekom. 76-87.
Latour, Bruno 2014. Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Berlin: Suhrkamp.
Müller, Christa (Hrsg.) 2011. Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt. München: oekom.
Müller, Christa; Werner, Karin 2006. Von der Kultur zur Interkultur – Begriffliche Grundlagen der modernen Migrationsgesellschaft (Skripte zu Migration und Nachhaltigkeit 4). München: Stiftung Interkultur. (2003 als Feature für den Hessischen Rundfunk.) Link zum Skript der Sendung
Müller, Christa 2002. Wurzeln schlagen in der Fremde. Die Internationalen Gärten und ihre Bedeutung für Integrationsprozesse. München: oekom.
Sandel, Michael J. 2012. Was man für Geld nicht kaufen kann – die moralischen Grenzen des Marktes. Berlin: Ullstein.
Werner, Karin 2011. Eigensinnige Beheimatungen. Gemeinschaftsgärten als Orte des Widerstandes gegen die neoliberale Ordnung. In: Urban Gardening. Müller, Christa (Hrsg.). München: oekom. 54-75.

00 Degrowth in Bewegung(en)

01 Einleitung

02 15M – from an autonomous perspective

03 Anti-Kohle-Bewegung

04 Artivism

05 Attac

06 Buen Vivir

07 Care Revolution

08 Commons-Bewegung

09 Degrowth

10 Demonetarisierung

11 Ernährungssouveränität

12 Flucht- und migrationspolitische Bewegung

13 Freie-Software-Bewegung

14 FUTURZWEI

15 Gemeinwohl-Ökonomie

16 Gewerkschaften

17 Grundeinkommensbewegung

18 Jugendumweltbewegung

19 Klimagerechtigkeit

20 Offene Werkstätten

21 Ökodorf-Bewegung

22 Peoples Global Action

23 Plurale Ökonomik

24 Post-Development

25 Post-Extraktivismus

26 Queer-Feministische Ökonomiekritik

27 Radical ecological democracy

28 Recht auf Stadt

29 Solidarische Ökonomie

30 Tierrechtsbewegung

31 Transition-Initiativen

32 Umweltbewegung

33 Urban-Gardening-Bewegung

34 Abschlusskapitel