Logo degrowth
Degrowth in Bewegung(en)

Umweltbewegung

Dib umweltverbaende 2 anti atom demo header

Title: Winning the campaign but losing the planet – Stärken und Schwächen der Umweltbewegung auf dem Weg in eine erwachsene Gesellschaft

By: Franziska Sperfeld, Kai Niebert, Theresa Klostermeyer und Hauke Ebert

Release date: 28.06.2016

Download: DIB_Umwelt.pdf


Die Verfasser*innen sind haupt- und ehrenamtlich in der Umwelt- und Naturschutzbewegung engagiert. Sie haben sich wissenschaftlich und praktisch mit den Herausforderungen der Bewegung in der Transformation beschäftigt.
Ihr Bezug zu Degrowth erwächst aus dem alle verbindenden Interesse, transformative Themen stärker auf der Agenda der Umweltbewegungslandschaft zu verankern. Die Verfasser*innen schreiben aus einer verbandsübergreifenden Perspektive.
Franziska Sperfeld leitet Projekte im Fachbereich Umweltrecht & Partizipation am Unabhängigen Institut für Umweltfragen e. V. (UfU), unter anderem zu Entwicklung und Zukunft der Umweltverbände. Prof. Dr. Kai Niebert leitet den Lehrstuhl Didaktik der Naturwissenschaften und der Nachhaltigkeit sowie das Anthropocene Learning Lab in Zürich. Seit November 2015 ist er Präsident des Deutschen Naturschutzrings (DNR). Theresa Klostermeyer leitet das Projekt Lust auf Zukunft des DNR. Dort befasst Sie sich mit den Dimensionen und Potenzialen einer sozial-ökologisch gerechten Transformation. Hauke Ebert ist Mitarbeiter im DNR-Projekt Lust auf Zukunft.
Die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen als Kernthema der Umwelt-, Natur- und Tierschutzbewegung
Die Wurzeln der Umweltbewegung liegen im bewahrenden Natur- und Heimatschutz, der sich schon seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts gegen die Folgen der Industrialisierung wandte und im Kern von einer romantischen Naturvorstellung getragen wurde. Verbände wie der Bund für Vogelschutz, der Bund Naturschutz Bayern oder die NaturFreunde gründeten sich um die Jahrhundertwende. In den 1960er Jahren wurden, vor allem angetrieben durch merkliche Verschlechterungen von Umweltmedien (Wasser, Luft, Boden etc.), auch Lebensbedingungen der Menschen in den Blick genommen. Die sich nun formende sogenannte „moderne“ Umweltbewegung durchlief dabei sechs Stadien:
Der Widerstand gegen Kernenergie war seit den 1960ern identitätsstiftend für die Umweltbewegung. In den 1970er und 1980er Jahren wurden Umweltschützer*innen oft mit einem verschrobenen Bild eines alternativen Lebensstiles verbunden, stilisiert durch formlose Wollpullis und verschrumpelte Äpfel. Die „moderne“ Umweltbewegung versuchte sich aktiv dagegen abzugrenzen.
Seit der Einführung des Nachhaltigkeitsprinzips infolge des Brundtland-Berichts 1987 sind darüber hinaus intra- und intergenerationelle Gerechtigkeit prägende Konzepte der Umweltbewegung. Die Publikationen „Zukunftsfähiges Deutschland“ und seine Fortsetzung „Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt“ vom BUND und von Misereor beziehungsweise von Brot für die Welt und dem Evangelischen Entwicklungsdienst waren identitätsstiftend in dieser Zeit. Denn sie vermochten es, das Konzept der Nachhaltigkeit auf die lokale Anwendung und den persönlichen Lebensstil herunterzubrechen. Beide Studien beschreiben bereits bedeutsame Konzepte dessen, was heute unter Degrowth verstanden wird: Sie entwerfen Leitbilder einer „Dematerialisierung“ und „Selbstbegrenzung“ und fordern eine ganzheitliche Wirtschaftsweise unter Betonung der Lebensweltökonomie. Auch die Bedeutung von regionalen und globalen Gemeingütern als Form der geteilten, verantwortungsvollen Nutzung und in Abgrenzung zu Privat- und staatlichem Eigentum ist integraler Bestandteil der Studien.
Die von der UN 1992 in Rio de Janeiro verabschiedete Nachhaltigkeits-Agenda (Agenda 21) hat ebenfalls viele positive Denkanstöße und Handlungsansätze in Politik und Praxis hervorgebracht. Rückblickend stellt sich jedoch die Frage, ob die angestoßenen Nachhaltigkeitskonzepte innerhalb eines globalen Wirtschaftssystems, das auf Warenzirkulation und Konsum setzt, überhaupt fruchten konnten.
Die neuesten Entwicklungen der Umwelt-, Natur- und Tierschutzbewegung zeigen vor allem eins: Die Bewegung ist ausdifferenziert und viele Organisationen agieren hochprofessionell, was sich vor allem in ihrer Kampagnen- und Mobilisierungsfähigkeit niederschlägt. Große Demonstrationen – zum Beispiel mit 100 000 Menschen für den Atomausstieg im Jahr 2010, mit 20 000–50 000 Teilnehmenden über sechs Jahre hinweg unter dem Motto „Wir haben es satt!“ sowie im breiten Bündnis mit Gewerkschaften und Globalisierungskritiker*innen gegen undemokratischen Freihandel (TTIP) mit 250 000 Unterstützer*innen – belegen dies. Solche Ereignisse sind auch Zeugnisse des fundamentalen Unwohlseins innerhalb der Gesellschaft angesichts lebensfeindlicher Praktiken und der Politiken, die diese fördern.
Die zentrale Kritik der Umweltbewegung richtet sich nach wie vor gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Thematisch wird dies sehr breit aufgefächert: von der Nutzung der Kernenergie über den Klimawandel, die Biodiversitätsverluste, die Verschwendung von Energie und Rohstoffen und die Verschmutzung der Umwelt bis hin zu den Auswirkungen von Wirtschaftspraktiken und Konsummustern. Der Schwerpunkt der Kritik liegt jedoch meist auf Symptomen der Umwelt- und Naturkrise und nur ansatzweise auch auf den dahinterliegenden Ursachen. Zwar haben einige Verbände sehr starke konzeptionelle Entwürfe für eine Transformation der Gesellschaft vorgelegt. Das heißt jedoch nicht, dass diese in der Breite der Bewegung rezipiert und gelebt werden.
Heterogenität, Ausdifferenzierung und Nischen
Die Umweltbewegung ist in jeder Hinsicht heterogen – es gibt sowohl eine Vielzahl an institutionellen Akteure*innen als auch verschiedenste Rechtsformen und Strukturen. Untersuchungen des Wissenschaftszentrums Berlin ermittelten bereits 1998 einen Bestand von 9200 Umweltschutzorganisationen. Die Vereinsstatistik weist für das Jahr 2014 allein 8665 eingetragene Vereine im Umwelt- und Naturschutz aus (vgl. Vereinsstatistik 2014). Darüber hinaus engagieren sich in Deutschland derzeit etwa 1 800 Umweltstiftungen, mit stark steigender Tendenz (vgl. Bundesverband Deutscher Stiftungen 2009: 5). Statistiken zu den anderen Rechtsformen, zum Beispiel zu gemeinnützigen GmbHs oder Genossenschaften, existieren nicht. Darüber hinaus gibt es Bürgerinitiativen ohne rechtlichen Status, die sich sehr häufig mit den Themen Umwelt, Naturschutz, Verkehr und Lärm sowie mit Stadtplanung auseinandersetzen und deren Mitgliederzahl auf über eine Million geschätzt wird (vgl. Wolling/Bräuer 2011:4 f.). Dies zeigt: die Umweltbewegung reicht über die großen Verbände mit ihren mehr als 5,5 Millionen Mitgliedern hinaus, wenngleich diese Schrittmacher und Rückgrat der Bewegung sind.
Bundesweit wahrnehmbar sind Stiftungen und Verbände wie Greenpeace, der Naturschutzbund Deutschland (NABU), der Worldwide Fund for Nature (WWF), der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), die NaturFreunde, Robin Wood und die Deutsche Umwelthilfe (DUH). Viele Verbände organisieren sich unter dem Dach des Deutschen Naturschutzrings (DNR), den sie gemeinsam 1950 gegründet haben. Die Organisationsformen sind bereits in dieser vergleichsweise überschaubaren Gruppe divers: Der WWF agiert als Stiftung, ohne Mitglieder-/Aktivist*innenbasis; Greenpeace wird durch einen kleinen Kreis Mitglieder und vor allem international koordiniert und gesteuert, hat aber auch in den verschiedenen Bundesländern und Städten Gruppen und Aktionsteams; NABU und BUND arbeiten als Kampagnen- und Projektorganisationen sowohl auf Bundesebene als auch auf kommunaler und regionaler Ebene sowie in den Bundesländern basisdemokratisch organisiert.
Die verschiedenen Organisationsmodelle sind Ausdruck einer Ausdifferenzierung in der Umweltbewegung. Thematisch bespielen die großen Organisationen fast alle Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem Schutz der Lebensgrundlagen stellen – mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen. Daneben gibt es kleinere Organisationen, die ihre Nischen in einzelnen Themen gefunden haben. So werden beispielsweise Verkehrsthemen vom Verkehrsclub Deutschland (VCD) bearbeitet und Waldthemen durch die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald. Nach wie vor machen traditionelle Naturschützer*innen eine große Gruppe innerhalb der Umweltbewegung aus. Mit einer systemischen Sichtweise auf den Umweltraum beziehungsweise dem Nachhaltigkeitsgedanken haben sie sich allerdings teilweise modernisiert. Neben dem traditionellen Naturschutz greifen heute ein moderner pragmatischer Umweltschutz und eine politische Ökologiebewegung ineinander. Die Umweltbewegung der 1970er Jahre hatte ein eher linkslibertäres Profil. Heute sind in der Bewegung sowohl traditionalistisch-konservative, öko-kapitalistische, öko-sozialistische wie auch anarchistisch-libertäre Positionen vertreten (vgl. Brand 2008: 231).
Festzuhalten ist: Es gibt einen relativ unkonkreten Grundkonsens der Bewegung, die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten – aber die Gründe, aktiv zu werden, sind sehr individuell. Einen großen Anteil machen nach wie vor persönliche Betroffenheit, etwa von Infrastrukturentwicklungen, oder die sprichwörtliche „Liebe zur Natur“ aus. Das führt nicht selten zu Reibungen innerhalb der Umweltbewegung bei Zukunftsfragen und Themen des gesellschaftlichen Wandels, etwa in der Diskussion um Naturschutz versus erneuerbare Energien.
Reflexion der eigenen Wirksamkeit als Ausgangspunkt für gemeinsame Wege?
Die Umweltbewegung ist zunehmend ratlos, ob sie für die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen die richtigen Antworten parat hat. Die Selbstkritik lässt sich am besten in den Worten eines Vordenkers der amerikanischen Umweltbewegung ausdrücken: „Wir haben viele Siege errungen, aber wir verlieren den Planeten“ (Speth 2014). Smart CSOs (2015), ein internationales Netzwerk von Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher Organisationen, beschreibt die Schwächen der Umweltbewegung wie folgt:

Da die Umweltbewegung sehr heterogen ist, liegen auch die wirtschaftspolitischen Positionen weit auseinander. Dies manifestiert sich nicht unbedingt in Grundsatzpapieren, hier herrscht oft eine überraschende Einigkeit. Die Kooperationen mit Partner*innen aus der Wirtschaft, die Geschäftsmodelle, die thematische Schwerpunktsetzung etc. sind jedoch sehr divers. Entsprechend ist ein Kurswechsel in Richtung Postwachstumsgesellschaft nicht überall in der Bewegung prioritär. Der Glaube an technische Lösungen oder sogenannte Green-Growth-Strategien ist auch in Teilen der Umweltbewegung verankert. Allerdings setzt sich in größeren Kreisen der Bewegung zunehmend die Überzeugung durch, dass es existenziell ist, sich mit Szenarien für eine Postwachstumszeit zu beschäftigen, da der Wachstumszwang die Probleme der Naturzerstörung oft erst schafft oder sie verschärft. Wie oben beschrieben, sind die planetaren Grenzen originäres Arbeitsfeld der Umweltbewegung – folglich entwickelte sie viele Ansätze zu diesem Problemfeld: zum Beispiel ökologische Landwirtschaft, die Energiewende, die Wärmewende, die Forderung des Stopps zusätzlichen Flächenverbrauchs. Erfolge in diesen Bereichen gehen also auch auf die Umweltbewegung zurück.
Es gibt durchaus Impulse aus der Umwelt- und Naturschutzverbandsszene, die der Stoßrichtung der Degrowth-Bewegung entsprechen. So haben die Mitgliedsorganisationen des Deutschen Naturschutzrings (DNR) auf einem Transformationskongress im Jahr 2012 gemeinsam mit Gewerkschaften und Kirchen die Debatte um eine sozial-ökologische Transformation in die Breite getragen; bei den Besucher*innen handelte es sich nahezu ausschließlich um institutionell verankerte Akteur*innen. Festzuhalten ist jedoch auch, dass auf der mittlerweile vierten Degrowth-Konferenz, die 2014 in Leipzig stattfand, überraschend wenige Vertreter*innen etablierter Umweltverbände anzutreffen waren, dafür aber sehr viele junge Leute. Augenscheinlich liegt hier ein strukturelles Problem vor: Umweltverbände scheinen durch ihre Verfasstheit und ihren Habitus unattraktiv für die Klientel der Degrowth-Bewegung zu sein, und diese wiederum ist der Umweltverbandsszene fremd.
Aus den Umweltverbänden heraus sind bereits einige kleinere und größere Projekte entstanden, die eine sozial-ökologische Transformation vorantreiben wollen. Viele dieser Projekte wollen Postwachstum thematisieren, erforschen und erlebbar machen oder stützen die Transformation ganz praktisch in lokalen Gruppen. Was es jedoch nur sehr vereinzelt gibt, ist eine dezidierte, offen ausgesprochene Wachstumskritik in der Lobbyarbeit, der Öffentlichkeitsarbeit und den großen Kampagnen der Bundesverbände.
Post-Wachstum ist kein originäres Thema der Wirtschafts- und Gesellschaftskritik der Umweltbewegung. Daher wird es nötig sein, sich – wie bereits beim Transformationskongress 2012 oder in einzelnen Projekten – Bündnispartner*innen mit dem entsprechenden wirtschaftspolitischen Know-how zu suchen oder Themenallianzen zu schmieden. Für die Degrowth-Bewegung wiederum ist das Fachwissen der Umweltbewegung Gold wert, wenn detaillierte Konzepte gefragt sind, wie nachhaltige Praxis funktionieren kann. Große wie kleine Umweltorganisationen werfen außerdem ihre Erfahrungen im politischen Raum in die Waagschale, ebenso ihre Erfahrungen in der Übersetzung schwieriger Materie in handhabbare Routinen und in die breite Basis.
Hat die Degrowth-Perspektive Kompass-Qualitäten für die Umweltbewegung?
Unsere – inzwischen kaum mehr soziale, sondern nur mehr kapitalistische – Marktwirtschaft funktioniert nur aus einem Grund: Sie basiert auf permanenter Ausbeutung. Entweder wir beuten die Natur aus, indem wir sie mit CO2, Müll oder Schadstoffen verschmutzen; oder wir beuten die Menschen aus, indem wir sie für Hungerlöhne arbeiten lassen; oder wir agieren zulasten der Menschen in der Zukunft, indem wir einen ökologischen wie sozialen Schuldenberg hinterlassen. Alle drei Varianten sind nicht zukunftsfähig.
Die Symptome dieses Ausbeutungssystems wurden in verschiedene Zuständigkeiten verwiesen: Die Ressourcenausbeutung wurde zum Problem der Umweltverbände, der Ungerechtigkeit nahmen sich Gewerkschaften und Sozialverbände an. Diese verengende Arbeitsteilung muss durch eine systemische Herangehensweise an Umweltprobleme – zum Beispiel mit einer Degrowth-Perspektive – aufgehoben werden. Das Gewicht der Umweltbewegung kann von Nutzen sein, denn die Umweltverbände waren schon einmal in der Lage, gesellschaftliche Großprojekte wie den Atomausstieg oder die Energiewende zu initiieren. Erfolgreich waren sie aber immer nur dann, wenn sie sich mit anderen gesellschaftlichen Kräften zusammengeschlossen haben.
Damit Degrowth nicht als Eliteprojekt für eine kleine Umwelt-, Natur- und Tierschutz-Community wahrgenommen wird, ist eine faire Ressourcenverteilung Voraussetzung. Eine breitere gesellschaftliche Mehrheit wird nur dann einen Wandel akzeptieren, wenn dadurch nicht noch mehr Ungerechtigkeiten entstehen. Das ist die politische Dimension. Wir brauchen damit verbunden jedoch auch unbedingt eine Sprache und ein Denken, das den Wandel für andere gesellschaftliche Gruppen anschlussfähig macht. Postwachstum, Entschleunigung, negatives Wachstum, Degrowth, Décroissance – unter diesen Schlagworten sucht auch die Umweltbewegung nach einem Begriff, der die Transformation des Wirtschaftssystems begreifbar macht. Anders als bei erfolgreichen Kampagnen der Umweltverbände liegen bisher aber zu wenig konkrete politische oder auch nur begriffliche Alternativen vor. Degrowth stellt kein alternatives Konzept dar, sondern kritisiert ein bestehendes. Das Problem dabei ist: Sobald wir eine Idee verneinen, stärken wir sie gedanklich. Das ist im Falle der Wachstumskritik besonders dramatisch, da Wachstum als Idee kulturell sehr positiv aufgeladen ist: Oben gilt als besser als unten; mehr gilt als besser als weniger. Diese Ideen zu verneinen, schürt Ängste, vor allem bei denjenigen, die schon heute vom Wachstum abgehängt sind.
Die Umweltbewegung hat sich aus dem Antrieb heraus gegründet, Schlimmeres zu verhindern und entstandene Umweltschäden zu kompensieren. In diesem Sinne hat sie lange Zeit aufklärerisch gewirkt. Nun muss sie zwei Übergänge zugleich schaffen, um systemisch wirksam zu werden: Sie muss zu einer Gestaltungsbewegung werden, und sie muss die gesamte Gesellschaft in den Blick nehmen. Dafür muss sie wissen, wo sie Deutschland, Europa und den Zustand des Planeten in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren sehen will.
Was die Umweltbewegung dafür dringend braucht, ist ein Kompass, der anzeigt, welche ihrer Aktivitäten die Einleitung eines Systemwandels unterstützen. Mit der Degrowth-Perspektive verbinden sich deshalb einige Chancen für die Umweltbewegung: Degrowth hat klarere Leitlinien und könnte so dem Nachhaltigkeitsdreieck – mit seinen Eckpunkten Wirtschaft, Soziales und Umwelt – sowie der noch sehr vagen Vorstellung von einer großen Transformation schärfere Konturen verleihen. Damit kann auch das lange Zeit unbearbeitete Thema der Verteilungsgerechtigkeit und können Fragen der sozialen Teilhabe eingebunden werden, was den Raum für einen wichtigen gesamtgesellschaftlichen Diskurs öffnet und zudem das Potential hat, die Lebensstil-Entwürfe der Umweltbewegung für sehr viel mehr Menschen attraktiv, lebbar und bezahlbar zu machen.
Eine große Zerreißprobe für die Umweltbewegung sind die Brüche innerhalb des Wandels. Diese werden an der Energiewende besonders deutlich: Renommierte Naturschützer*innen erklären öffentlich ihren Austritt aus großen Umweltverbänden und gründen eigene monothematisch auf Naturschutz ausgerichtete Verbände, weil für sie die Balance zwischen Naturschutz und klimafreundlicher Energiegewinnung bei jenen nicht mehr stimmt. Hier wird deutlich, wie sehr es manche (über)fordert, dass zum Zwecke des nachhaltigen Umgangs mit begrenzten planetaren Ressourcen nicht das eine gegen das andere ausgespielt werden darf. Die Degrowth-Forderung nach mehr Suffizienz könnte hier einend wirken. Denn nicht jede Kilowattstunde aus Kohlestrom, jedes Barrel Erdöl, die heute verbraucht werden, kann und soll zukünftig durch Windräder oder mehr Bioethanol auf Kosten von Mensch und Natur ersetzt werden. Die Komplexität führt in Teilen der Bewegung zu einer Abwehrhaltung („Nur purer Artenschutz zählt“), aber auch Überforderung („Was sollen wir denn noch alles machen?“) und Abwiegelung („Das machen wir doch alles schon“) sind zu finden.
Was ist nun also von der Umweltbewegung zu erwarten? Während einige Organisationen es sich zum Ziel gesetzt haben, die sozial-ökologische Transformation ihren Mitgliedern, Unterstützer*innen und Fördermittelgeber*innen zu kommunizieren, werden andere weiterhin den ausgetretenen Pfaden folgen. Eine Bestandsaufnahme und Neujustierungen in der Arbeit der großen und kleinen Organisationen sind notwendig: Was von dem, was wir tun, ist transformativ? Was hingegen stützt das auf Wachstum ausgelegte Wirtschaftssystem? Diese Fragen stünden idealerweise am Anfang. Dieser Perspektivwechsel kann den Blick auf die eigene Wirksamkeit ändern und einen Wandel in den Organisationen auslösen.
Die großen Frage bleiben zunächst bestehen: Wie wird Degrowth fortan in der Breite der Bewegung rezipiert? Ist es übersetzbar und taugt zu einem ganz neuen Bewegungsmoment auch für die Umweltbewegung – und zwar jenseits von einer wissenschaftlichen Diskussion und netten Nischenprojekten, denen ein Hang zu unpolitischem neuem Öko-Biedermeier vorgeworfen wird?
Ziel: nachhaltiges Anthropozän gestalten
Die Umweltbewegung hat in den letzten Jahrzehnten viel erreicht: Sie hat die Zahl der ausgewiesenen Schutzgebiete in Deutschland ausgeweitet, den Tierschutz als Staatsziel im Grundgesetz verankert und den Ausstieg aus der Atomenergie durchgesetzt. Sie hat es geschafft, Umwelt-, Natur- und Tierschutzpolitik als Zukunftspolitik zu einem festen Bestandteil der öffentlichen Debatte werden zu lassen. Gleichzeitig erleben wir jedoch, wie – als Folge ungebremsten Wachstums – der Artenschwund auch in Deutschland dramatische Ausmaße angenommen hat, der Flächenverbrauch viel zu groß ist und keine Antworten auf den bereits überschrittenen Peak Oil (das globale Ölfördermaximum) gefunden sind. Diese Entwicklungen zeigen, dass es noch immer – vielleicht auch mehr denn je – vorausschauend denkende Menschen im Umwelt-, Natur- und Tierschutz braucht. Aber ihre Aufgabe hat sich verändert. Es geht heute nicht mehr unbedingt darum, Anerkennung dafür zu schaffen, dass Umwelt-, Natur- und Tierschutzpolitik einen Platz in der Gesellschaft finden. Heute geht es darum, zu einer Gestaltungsbewegung zu werden und für langfristig wirksamen Umwelt-, Natur- und Tierschutz zu streiten. Doch wie kann die Umwelt-, Natur- und Tierschutzbewegung zu einer wirksamen Gestaltungsmacht werden?
Im Jahr 2016 wird die Menschheit wahrscheinlich auch offiziell in eine neue Erdepoche eintreten: Die Anthropocene Working Group innerhalb der International Commission on Stratigraphy (ICS) will 2016 ihr Urteil fällen, ob der Mensch die Warmzeit verlassen und die Menschenzeit (Anthropozän) betreten hat. Die offizielle Anerkennung des Menschen als geologische Kraft könnte, zusammen mit der physischen Unmöglichkeit unendlichen Wachstums, dazu führen, dass die Verantwortung des Menschen politisch auf die Agenda gesetzt wird. Eine wichtige Erkenntnis, die dem Menschen seine Gestaltungs- und Zerstörungskraft vor Augen führt, ist die große Beschleunigung bei der (Über-)Nutzung natürlicher Ressourcen: Spätestens seit den 1950er Jahren weisen alle Daten steil nach oben, nur leicht gebremst durch kleinere und größere Wirtschaftskrisen (vgl. Steffen u. a. 2015). Umwelt-, Natur- und Tierschutzverbände sehen hier eine gute Argumentationsgrundlage, um wissenschaftlich basiert politischen Handlungsdruck zu erzeugen.
Die große Beschleunigung bringt allerdings auch eine andere brisante Erkenntnis ans Licht: Während die wissenschaftliche Evidenz einen exponentiell zunehmenden Einfluss des Menschen auf die Erdsysteme aufzeigt und damit in der Tat die Dringlichkeit politischen Handelns unterstreicht, wird gleichzeitig die homöopathische Wirkung bisheriger Politik deutlich. Die Daten zur großen Beschleunigung zeigen eindrücklich auf, dass die bisherige Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik, die in den 1970er Jahren in Schwung kam und mit dem Erdgipfel in Rio Anfang der 1990er Jahre weiter Fahrt aufnahm, an der Zerstörung keinen Deut ändern konnte. Wenn es zu einer Abschwächung der globalen Trends kam, dann waren ökonomische Krisen die Ursache: Die Ölkrisen der 1970er Jahre, der Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur im Osten oder auch die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2009 ließen die Kurven des Ressourcenverbrauchs jeweils leicht abflachen. Die politischen Erfolge von Umwelt-, Natur- und Tierschutzverbänden konnten, so wichtig sie lokal auch gewesen sein mögen, die Beschleunigung des Ressourcenverbrauchs nicht aufhalten, sondern ihn höchstens räumlich oder zeitlich verlagern.
Deutlich werden dabei die Grenzen der Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Entwicklung, wenn sich die gestaltenden Akteur*innen nur in ihren jeweils begrenzten Disziplinen und Sphären organisieren: in Ministerien, geordnet nach Politikfeldern, in einzelnen Verbänden (auf der Ebene der Zivilgesellschaft), in einzelnen Fachbereichen (in der Wissenschaft). So versucht das Umweltministerium mit einem Budget von 3,8 Milliarden Euro, die Umweltqualität zu verbessern, während das Wirtschafts- und Arbeitsministerium 52 Milliarden Euro umweltschädliche Subventionen ausschüttet. So propagieren Umweltverbände nachhaltig-vegan-biologische Lebensstile, ohne den Anspruch beispielsweise der Caritas im Blick zu haben, Menschen überhaupt satt zu bekommen. Und so zeigen Umweltwissenschaftler*innen in einem Hörsaal die planetaren Grenzen auf, haben aber keinen Einfluss auf die BWLer*innen im Nachbarhörsaal, die weiterhin Wachstumsmodelle lehren und lernen. Unter diesen Bedingungen kann eine Gesellschaft, die sich vom Wachstumszwang befreit und nachhaltig wird, nicht Realität werden.
Um Aussicht auf Erfolg zu haben, muss sprachlich wie konzeptuell ein alternatives, positiv besetztes Konzept gedacht werden, das zudem nicht nur eine gesättigte Wohlstandsschicht anspricht. Dabei muss die Bewegung in der Öffentlichkeit deutlicher machen, dass es ihr gerade auch um (Verteilungs-)Gerechtigkeit, um Ausgleich, um die Rechte der Schwächeren, um eine Fülle von Gutem geht, und dass die angestrebten Alternativen von einem selbstzerstörerischen und hochgradig ungerechten Pfad auf einen Weg führen sollen, der im Sinne aller sein kann. Wir brauchen keine Wirtschaft, die schrumpft, und kein negatives Wachstum. Wir brauchen eine Gesellschaft, und damit eine Wirtschaft, die begreift, dass sie der Wachstumsabhängigkeit entkommen kann – die erwachsen wird.
Das werden wir nur erreichen, wenn wir auch unsere Vorstellung von Nachhaltigkeit verändern. Es war der größte Fehler der Umweltbewegung, zu glauben, dass Ökologie, Ökonomie und Soziales – gleichberechtigt nebeneinanderstehend – getrennt politisch bearbeitet werden können. Denn sobald es ernst wird, drängt das Streben nach Wirtschaftswachstum die Umwelt und den Menschen an den Rand. Um aus der Wachstumsabhängigkeit auszubrechen, müssen wir Nachhaltigkeit verstehen als ein Wirtschaften, das den Menschen heute und morgen dient und Armut und Hunger beseitigt. Aber das kann nur innerhalb der planetarischen Grenzen stattfinden.

Links


> Movum – Briefe zur Transformation, herausgegeben vom BUND, der Deutschen Umweltstiftung, euronatur, dem Forum Öko-Soziale Marktwirtschaft und dem Deutschen Naturschutzring
> Stadt.Land.Glück – Blog des BUND über Projekte zur kommunalen Suffizienzpolitik
> WELTbewusst erLEBEN – konsumkritische Stadtführungen von Jugendlichen für Jugendliche (BUNDjugend)
> Beweg:günde – Wanderungen zu Orten des sozial-ökologischen Wandels (Naturfreundejugend und BUNDjugend)
> Portal zur ökologischen Gerechtigkeit/Lust auf Zukunft – Vernetzungsportal von Projekten für sozial-ökologische Gerechtigkeit und Transformation (Deutscher Naturschutzring)
> Freiraumeroberung – Projekt zu interkulturellen Aspekten einer sozial-ökologischen Transformation (NaturFreundejugend und Aleviten)
> Greenpeace: Wachstums-AG und Wachstumspalaver – Thesenpapier mit Konsequenzen für die eigene Arbeit und Checkliste für Kampagnen, Positionierungen und Veränderungen bei GP selbst (S. 13)

Verwendete und weiterführende Literatur


Brand, Karl-Werner 2008. Umweltbewegung. In: Die Sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Roth, Roland; Rucht, Dieter. Frankfurt am Main: Campus Verlag. 219-244.
Bundesverband Deutscher Stiftungen. 2009. Umweltstiftungen stellen sich vor. Berlin: Bundesverband Deutscher Stiftungen e. V.
Krause, Johannes u. a. 2015. Eine Lernreise zur großen Transformation. Reisebericht. Zugriff: 23.02.2016. <http://www.impuls.net/wp-content/uploads/2016/01/Berlin_SmartCSOs_Lab-Reisebericht.pdf>
Smart CSOs Lab 2015. REimagining activism. A practical guide for the Great Transition. Zugriff: 07.04.2016. <http://www.smart-csos.org/images/Documents/re.imagining_activism_guide.pdf>
Sperfeld, Franziska; Zschiesche, Michael 2014. Umweltverbände als relevante Akteure nachhaltiger Transformationsprozesse. Berlin: Unabhängiges Institut für Umweltfragen.
Speth, Gus 2014. A Memoir, Reflections on race, environment, politics and living on the frontline of change. White River Junction (Vermont)
Steffen, Will u. a. 2015. The Trajectory of the Anthropocene: The Great Acceleration. The Anthropocene Review 1/2015: 81-98.
Rucht, Dieter 2014. Über die Wirkmacht von Umweltverbänden. UfU Themen und Informationen 75: 16-23.
Klostermeyer, Theresa 2014. DNR-Workshop bei der Degrowth-Konferenz. Zugriff: 24.02.2016. <http://www.nachhaltigkeits-check.de/node/410>
Wolling, Jens; Bräuer, Marco 2011. Bürgerinitiativen: Ihre Funktion aus Sicht der Bevölkerung und ihre kommunikativen Aktivitäten. Zugriff: 24.02.2016. <http://www.db-thueringen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-23329/ilm1-2011200354.pdf>
Bild im Header: Anti-Atom-Demo am 26. März 2011 (Foto: CC BY-NC 2.0, Anti-Atom-Demo)

00 Degrowth in Bewegung(en)

01 Einleitung

02 15M – from an autonomous perspective

03 Anti-Kohle-Bewegung

04 Artivism

05 Attac

06 Buen Vivir

07 Care Revolution

08 Commons-Bewegung

09 Degrowth

10 Demonetarisierung

11 Ernährungssouveränität

12 Flucht- und migrationspolitische Bewegung

13 Freie-Software-Bewegung

14 FUTURZWEI

15 Gemeinwohl-Ökonomie

16 Gewerkschaften

17 Grundeinkommensbewegung

18 Jugendumweltbewegung

19 Klimagerechtigkeit

20 Offene Werkstätten

21 Ökodorf-Bewegung

22 Peoples Global Action

23 Plurale Ökonomik

24 Post-Development

25 Post-Extraktivismus

26 Queer-Feministische Ökonomiekritik

27 Radical ecological democracy

28 Recht auf Stadt

29 Solidarische Ökonomie

30 Tierrechtsbewegung

31 Transition-Initiativen

32 Umweltbewegung

33 Urban-Gardening-Bewegung

34 Abschlusskapitel