Nach Alternativen zu suchen und einen Paradigmenwechsel zu fordern, das ist die zentrale Gemeinsamkeit der in diesem Projekt versammelten Bewegungen, Strömungen und Initiativen:
weg vom alleinigen Fokus auf Konkurrenz, Gewinnstreben, Ausbeutung und Wachstum hin zu mehr Kooperation, Solidarität und einer Orientierung an konkreten Bedürfnissen. Es geht darum, die Bedingungen für ein
gutes Leben für alle zu schaffen. Entgegen dem neoliberalen Dogma, es gebe keine Alternativen, zeigen sie: Es gibt tausend Alternativen, und viele weitere können entstehen.
In sozialen Bewegungen, (alternativökonomischen) Strömungen und Initiativen diskutieren Menschen über ein anderes, sozial gerechtes und ökologisch nachhaltiges Leben und Wirtschaften. Sie setzen sich auf unterschiedlichste Art und Weise dafür ein oder probieren es praktisch aus. An mehr und mehr Orten, in Praxisprojekten und sozialen Kämpfen schimmern Alternativen auf. Das wird oft an Fragen wie diesen deutlich: Wie könnte eine grundlegend bessere Gesellschaft gestaltet sein? Was können wir heute dafür tun, dahin zu kommen? Und wie passen unsere Alternativen zusammen?
Diese Fragen möchten wir diskutieren, und zugleich wollen wir die Bewegungen, Strömungen und Initiativen, die daran arbeiten, stärker miteinander in Austausch bringen. Deshalb haben wir einen strukturierten Vernetzungs- und Austauschprozess organisiert. Das Ergebnis ist die Multimedia-Publikation
Degrowth in Bewegung(en): Politisch Aktive und engagierte Wissenschaftler_innen reflektieren die Initiative, die Strömung oder Bewegung, in der sie selbst aktiv sind oder der sie sich verbunden fühlen. Die entstandenen Texte beleuchten deren Geschichte, Kernideen und Alternativvorstellungen, zentrale Aktivitäten, konkrete Praxis und Akteur_innen. Sie gehen auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Degrowth und zu anderen Bewegungen ein.
Die entstandenen Texte bieten einen (selbst-)kritischen Überblick und liefern Menschen, die nach Alternativen suchen, einen leichten Einstieg. Zudem vertiefen sie den Austausch zwischen verschiedenen Bewegungen, Strömungen und Initiativen, befördern das gegenseitige Lernen und die Entwicklung von politischen Strategien, um so gemeinsam Alternativen in ihrer Vielfalt zu stärken.
Wir haben dabei mit der folgenden Definition von
sozialen Bewegungen gearbeitet: Gemeinsam handelnde Akteur_innen haben (1) eine deutlich umrissene
kollektive Identität, sie sind (2) in hohem Maße
informell vernetzt und befinden sich (3) in
konflikthaften Beziehungen mit klar identifizierbaren Gegnern (della Porta; Diani 2006: 21). Ein Beispiel dafür wäre Klimagerechtigkeit. Strömung haben wir als weicheren Begriff hinzugefügt, weil die besagte Definition für einige vertretene Ansätze nicht ganz zutreffend war. Dies gilt insbesondere für den alternativökonomischen Bereich, wo das dritte Kriterium oft nicht gegeben ist. Beispielhaft dafür wäre Commons. Außerdem sind einige Autor_innen mit dabei, die eher Initiativen vertreten, zum Beispiel “artivism“.
Die sozialen Bewegungen und Strömungen, die hier versammelt sind, schlagen bei ihrer Suche nach Alternativen verschiedene Wege ein.
Manche konzentrieren sich darauf, die aktuelle Situation eher
theoretisch zu analysieren und zu kritisieren, um davon ausgehend alternative Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle zu erdenken. Beispiele hierfür sind die Plurale Ökonomik, die Kritik an der Entwicklungsidee (Post-Development), die Bewegung für ein bedingungsloses Grundeinkommen, die queer-feministische Ökonomiekritik oder das kapitalismuskritische Netzwerk
demonetize.it.
Andere sind grundlegend konstruktiv und
praktisch orientiert, sie fangen im Hier und Jetzt an, probieren in „Reallaboren“ Alternativen aus oder geben dazu ganz konkrete Anregungen. Dazu gehören zum Beispiel Ökodörfer, Urbane Gärten, Transition Towns, Permakultur, die Commons-Bewegung und auch die Solidarische Ökonomie.
Wieder andere werden als
konfliktorientierte soziale Bewegungen und Initiativen auf der Straße, am Arbeitsplatz und bei direkten Aktionen aktiv, Beispiele sind flucht- und migrationspolitische Kämpfe, die Bewegung für Klimagerechtigkeit oder gegen Kohle, Care Revolution, die Globalisierungskritik, die Bewegung für ein Recht auf Stadt, die Gewerkschaften und die Umweltbewegungen.
Viele Bewegungen und Initiativen setzen auf unterschiedlichen Ebenen an, nutzen verschiedenste Strategien und zeichnen sich durch eine Mischung aus Theorie, praktischem Umsetzen im Hier und Jetzt und Aktivismus aus – in unterschiedlicher Schwerpunktsetzung.
Schließlich zeigt sich eine große Bandbreite bei der Frage nach dem Verhältnis von Degrowth und den verschiedenen Strömungen und Bewegungen. Dieses näher zu bestimmen, ist Ziel des Projektes und wird in ein Schlusskapitel, das wir im Herbst 2016 schreiben werden, Eingang finden.
Was meint Degrowth eigentlich?
Degrowth ist eine Perspektive und eine im Entstehen begriffene soziale Bewegung, die in den vergangenen Jahren eine Vielzahl an Alternativdiskussionen und Projekten rund um alternatives Wirtschaften zusammengebracht hat. Die Kernidee von Degrowth ist eine Wirtschaftsweise und Gesellschaftsform, die das Wohlergehen aller zum Ziel hat und die ökologischen Lebensgrundlagen erhält.
Das Erreichen globaler sozialer und ökologischer Gerechtigkeit, so die Grundüberzeugung, setzt eine Reduktion der zerstörerischen Wirtschaftsaktivität im globalen Norden voraus. Degrowth kritisiert das aktuelle wirtschaftliche und gesellschaftliche Leitprinzip „höher, schneller, weiter“ und die damit einhergehenden Phänomene wie Beschleunigung, Überforderung und Ausgrenzung sowie die Zerstörung des Ökosystems Erde. Daher werden eine grundlegende Veränderung der wachstumsorientierten Produktions- und Lebensweise wie auch ein umfassender kultureller Wandel als notwendig erachtet. Die Transformation soll, aus Degrowth-Perspektive, auf Werten wie Achtsamkeit, Solidarität und Kooperation basieren.
Einen Raum für gegenseitiges Lernen schaffen
Von der Kernidee von Degrowth fühlen sich viele politisch Aktive angesprochen. Dies zeigte unter anderem die Degrowth-Konferenz, die 2014 in Leipzig stattfand. Auf der fünftägigen bewegungspolitischen und wissenschaftlichen Konferenz versammelten sich Akteur_innen unterschiedlichster sozialer Bewegungen und Strömungen. Sie fanden dort – und beim Austausch im Nachgang der Konferenz – viele Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. Neben diesen produktiven Anregungen kamen auch viele Fragen oder Missverständnisse auf. Hier will
Degrowth in Bewegung(en) ansetzen, deshalb haben wir dieses Projekt ins Leben gerufen.
Trotz vieler Überschneidungen gibt es sowohl in Degrowth-Kreisen als auch in anderen sozialen Bewegungen viel Unkenntnis, aber auch Skepsis, Vorurteile und Missverständnisse, was die jeweils anderen Perspektiven, Ausgangslagen, Traditionen, Strategien und Akteur_innen betrifft.
Degrowth in Bewegung(en) möchte daher einen Raum für gegenseitiges Lernen schaffen. Dies ist umso wichtiger, als die Gefahr besteht, dass verschiedene Bewegungen Fehler der anderen wiederholen und über dieselben „alten“ Fallstricke stolpern.
Besonders von Menschen aus dem alternativökonomischen Spektrum wird Degrowth bisweilen als ein Konzept beziehungsweise als ein Vorschlag gesehen, der integraler Bestandteil anderer Perspektiven und sozialer Bewegungen ist oder werden könnte. Aber auch dies, die Einbindung von Degrowth-Ideen und -Praxen, scheitert oft an Vorurteilen und Missverständnissen. An dieser Stelle kann
Degrowth in Bewegung(en) zu mehr gegenseitigem Verstehen beitragen.
In Dialog treten
Der Name des Projektes ist Programm: Degrowth ist in Bewegung, bewegt sich auf andere zu, tritt in Dialog und will bewegter sein als bisher. Deshalb fragen wir nach Anregungen aus anderen Bewegungen an die Degrowth-Bewegung. Gleichzeitig findet sich Degrowth in anderen Bewegungen, Strömungen und Initiativen wieder, wird dort konstruktiv und kritisch diskutiert und teilweise integriert. In welcher Weise dies geschieht, wollen wir mit diesem Projekt in Erfahrung bringen. Wir wollen Degrowth nicht in den Vordergrund drängen, als
wichtigste Perspektive und Bewegung setzen oder als diskursives Dach, das alle anderen Perspektiven unter sich versammelt, darstellen. Vielmehr wollen wir die große Dynamik um die Leipziger Degrowth-Konferenz 2014 herum nutzen, um verschiedene Akteur_innen miteinander in Austausch zu bringen und um voneinander zu lernen.
Dabei geht es ausdrücklich nicht um eine rein intellektuelle Selbstreflektion, die einem abstrakten Erkenntnisinteresse oder akademisch-distanzierter Kritik dient. Vielmehr zielt das Projekt darauf, mit bestehenden sozialen Bewegungen und alternativökonomischen Projekte in einen konstruktiven Dialog zu treten, kritische Diskussions- und Veränderungsprozesse anzustoßen und aktiv nach gemeinsamen Perspektiven, Strategien und konkreten Handlungsmöglichkeiten zu suchen.
Mehr als eine Publikation
Hinter den Texten, Videos, Bildern und Audio-Aufnahmen, die wir als ein Ergebnis von
Degrowth in Bewegung(en) präsentieren, steht ein einjähriger Vernetzungs- und Austauschprozess. Dieser nahm seinen Anfang mit einem Workshop vor Beginn des Schreibprozesses, an dem im Herbst 2015 fünfzehn Autor_innen teilnahmen. Bei diesem Workshop haben wir das Projekt als Ganzes diskutiert und in wechselnden kleinen Arbeitsgruppen (World Café) Antworten auf fünf Kernfragen (siehe unten) gesucht. Außerdem wurde die Liste der Autor_innen beziehungsweise der Bewegungen/Strömungen erweitert.
Es folgte ein mehrmonatiger Schreib- und Editionsprozess, an dessen Ende die 35 hier versammelten Texte stehen.
Alle Beiträge sind in möglichst zugänglicher Sprache geschrieben und beantworten in jeweils fünf Kapiteln folgende Fragen:
- Was ist die Kernidee eurer sozialen Bewegung oder Strömung (wichtigste Kritiken am herrschenden System, zentrale Argumente, Alternativvorstellungen etc.), wie hat sie sich historisch entwickelt und was ist die Vorstellung sozialen Wandels?
- Wer ist in der sozialen Bewegung oder Alternativdiskussion aktiv und was machen diese? (Wie ist die soziale Schichtung, wie sind sie organisiert, an welchen Orten, wer sind die Protagonist_innen, und welche Gruppen, Bündnisse oder Netzwerke gibt es?)
- Wie seht ihr das Verhältnis zwischen eurer Bewegung und Degrowth und wie könnte beziehungsweise sollte es sich in den nächsten Jahren entwickeln? Wie ist das Verhältnis zu anderen sozialen Bewegungen? (Verhältnis bezieht sich auf Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Konfliktpunkte, Allianzen etc.)
- Welche Anregungen hat eure Bewegung an die Degrowth-Perspektive? (Was sind Leerstellen, unterbelichtete Bereiche und unterschätzte Probleme bei Degrowth, welche Themen, Fragen, Probleme werden einseitig oder gar nicht diskutiert und bearbeitet?) Welche Anregungen hat die Degrowth-Perspektive an eure Bewegung?
- Ausblick und Raum für Vision, Anregung und Wünsche: Welche Möglichkeiten seht ihr aus Perspektive eurer Bewegung oder Strömung für den Ausbau einer starken gemeinsamen emanzipatorischen sozialen Bewegung im aktuellen polit-ökonomischen Kontext? Wie müsste eine größere soziale Bewegung ausschauen, der ihr euch anschließen würdet?
Die Texte sind entlang der jeweiligen Bewegungen alphabetisch geordnet. In Bezug auf Degrowth beantworten wir, die Editor_innen, die ersten beiden Fragen zusammen mit Dennis Eversberg von der Universität Jena. Den übrigen drei Fragen werden wir uns – in Form eines Fazits – in einer späteren Phase des Projektes
Degrowth in Bewegung(en) widmen.
Zur Frage der Auswahl
Alle hier versammelten Bewegungen, Strömungen und Initiativen haben einen emanzipatorischen Anspruch; alle sind an einem guten Leben für alle orientiert und arbeiten theoretisch oder praktisch an positiven Alternativen.
Natürlich liefert die Zusammenschau im Rahmen des Projektes
Degrowth in Bewegung(en) keinen vollständigen oder abgeschlossenen Überblick. Einbezogen haben wir erstens jene Bewegungen und Strömungen, in denen sich in den letzten Jahren bereits mehr oder weniger starke Verbindungen zu deutschsprachigen Degrowth-Diskussionen entwickelt haben. Diese sind teilweise global vernetzt oder aktiv wie zum Beispiel die globalisierungskritische Bewegung oder Ökodörfer- und Commons-Initiativen. Trotzdem leben die meisten Autor_innen im deutschsprachigen Raum, und der Fokus der meisten Texte liegt auf Diskussionen und Aktivitäten in diesem. Wir möchten jedoch dazu anregen, die Idee weiterzutragen und in internationale Dialoge im Sinne von
Degrowth in Bewegung(en) zu treten.
Zweitens haben wir solche Bewegungen, Strömungen und Initiativen ausgewählt, mit denen wir oder einige Autor_innen einen stärkeren gegenseitigen Austausch wünschen, da wir ihn für fruchtbar halten und Gemeinsamkeiten erahnen. Wir hoffen, diesen bei möglichen zukünftigen Projekten weiter auszubauen.
Wie geht es weiter?
Nach der Veröffentlichung der Texte, Audio-Aufnahmen und Videos auf dem Degrowth-Webportal wird das Projekt
Degrowth in Bewegung(en) mit einem Treffen im Herbst 2016 fortgeführt werden. Dort wollen wir zusammen mit den beteiligten Autor_innen neu gewonnene Erkenntnisse austauschen und ein Fazit ziehen. 2017 werden die Texte in Buchform einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Bei einem Treffen im Frühjahr desselben Jahres wollen wir mit weiteren Vertreter_innen verschiedener Bewegungen und Strömungen diskutieren.
Bevor wir euch und Ihnen viel Spaß beim Lesen und Reflektieren wünschen, möchten wir uns noch bei einigen Menschen bedanken, die uns bei Degrowth in Bewegung(en) unterstützt haben.
Zunächst gilt unser Dank all jenen, die als Zweitlektor_innen Texte redigiert haben: Dennis Eversberg, Max Frauenlob, Hanna Ketterer, Kai Kuhnhenn, Christopher Laumanns, Steffen Liebig, Anne Pinnow, Christoph Sanders, Christin Schmidt und Felix Wittmann. Ebenfalls danken wir den Übersetzerinnen Laura Broo, Mercè Ardiaca Jové, Isabel Frey und Christiane Kliemann sowie Gill Laumanns und Santiago Killing für das englische Lektorat. Ganz besonders möchten wir Julia Roßhart für das sprachlich-stilistische Lektorat und Korrektorat sämtlicher Texte danken. Wir bedanken uns ebenfalls sehr herzlich bei Marc Menningmann und Caro Hempe sowie Christoph Hoeland, die die Video- und Audiobeiträge für das Projekt erstellt haben.
Wir hoffen, mit
Degrowth in Bewegung(en) einen Beitrag zu einer starken emanzipatorischen Bewegung zu leisten, die eine sozial-ökologische Transformation und ein gutes Leben für alle ermöglichen kann, die schon hier und jetzt Alternativen lebbar macht, gemeinsam erkämpft und immer wieder neu erträumt.
Wir wünschen viel Freude und inspirierende Erkenntnisse beim Lesen!
Corinna Burkhart, Matthias Schmelzer und Nina Treu im Juni 2016
Links
> Was ist Degrowth?
> Über die Schwierigkeit und Notwendigkeit von Bündnissen zwischen sozialen Bewegungen
Verwendete und weiterführende Literatur
della Porta, Donatella/Diani, Mario 2006.
Social Movements: An Introduction. Oxford: Blackwell Publishing.