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Post-Development

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Title: Beim globalen Umgang mit dem kolonialen Erbe geht es um mehr als Wachstumskritik

By: Daniel Bendix

Release date: 05.07.2016

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Ich bin Mitglied von glokal e. V., einem Berliner Verein für machtkritische Bildungsarbeit, der sich mit Nord-Süd-Beziehungen beschäftigt.
Diese versteht er als bis heute von ihrer kolonialen Geschichte und den darauf basierenden asymmetrischen und rassistischen Machtbeziehungen geprägt. glokal bietet unter anderem Seminare und Prozessbegleitungen für entwicklungspolitische Organisationen an, die ihre Arbeit in postkolonialer Hinsicht überprüfen und entsprechend verändern wollen.
Weiterhin arbeite ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Entwicklungspolitik und postkoloniale Studien der Universität Kassel.
Die Arbeit bei glokal und in der Wissenschaft verstehe ich auch als politisches Handeln im Sinne von Post-Development. Aktivistisch betätige ich mich vor allem in der Refugee-Bewegung und gegen Verdrängung im städtischen Raum.
Post-Development versteht „Entwicklung“ und „Entwicklungspolitik“ als unweigerlich mit Ungleichheit, Abhängigkeit und Herrschaft verknüpft und strebt jenseits dessen nach gesellschaftlichem Wandel
Kritik an „Entwicklung“ – verstanden als vermeintlicher Fortschritt durch kapitalistische Durchdringung von Gesellschaften und Inwertsetzung von Natur – ist nichts Neues. Die Durchsetzung kapitalistischer „Entwicklung“ hatte sowohl in Europa katastrophale Auswirkungen – besonders für Frauen und arme Landbevölkerungen – als auch in den kolonisierten Gebieten. Entsprechend gab es auch immer Widerstand dagegen, intellektuell wie aktivistisch.
Hegemoniale westliche Entwicklungsvorstellungen sowie Entwicklungszusammenarbeit beziehungsweise -politik von internationalen, aber westlich dominierten Institutionen wie Weltbank und IWF, von Regierungen aus dem Westen, aber auch von nationalen Regierungen in den sogenannten Entwicklungsländern werden ebenfalls seit langem kritisiert. Grundlegender und systematischer ist dies jedoch erst seit Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre der Fall, als sich die Post-Development-Schule formierte. Diese Fundamentalkritik an Entwicklung(spolitik) entspann sich in akademischen Kreisen, aber mit starker Nähe zu sozialen Bewegungen. Ihr geht es nicht um Reformen, die Politik im Namen von „Entwicklung“ weniger ausschließend, weniger zerstörerisch oder effizienter machen. Sie kritisiert Entwicklung(spolitik) auch in jenen Fällen, in denen sie nach eigenen Maßstäben erfolgreich ist. Sie hinterfragt vor allem die sich darin kristallisierenden dominanten Vorstellungen von gesellschaftlicher Veränderung und gutem Leben. Die Post-Development-Kritik wurde in letzter Zeit von Akteur*innen weitergeführt, die sich verstärkt auf postkoloniale beziehungsweise dekoloniale Kritik beziehen und die weiterhin auf Befreiung von Herrschaft aus sind.
Post-Development stellt in Frage, dass man Europas historischen Wandel ohne Kolonialismus verstehen könne. So werden ökonomischer Wohlstand und Europas Moderne in direkten Zusammenhang mit der Zerstörung und Entmenschlichung des Rests der Welt, mit – in Frantz Fanons Worten – „dem Schweiß und den Leichen“ der Kolonisierten gestellt (Fanon 1981: 79). Dies steht in gänzlichem Gegensatz dazu, wie Europa sich in seiner Selbstdarstellung konstruiert(e): nämlich als durch eigenen Antrieb, Rationalität, Zivilisiertheit und Fleiß an der Spitze menschlicher „Entwicklung“ stehend.
Das Konzept der Entwicklung als einheitlicher Werdegang, auf dem Stufen erklommen werden können, wurde zur Zeit der „Aufklärung“ in Europa zentral. Es dient dazu, historisch-gesellschaftliche Vorgänge zu erklären und Weltregionen und Menschen hierarchisch einzuordnen. Dabei spielt insbesondere die für den Rationalismus und die Aufklärung kennzeichnende Annahme eine große Rolle, dass wahre Menschlichkeit erst durch die Unterwerfung und Kontrolle von Natur und Menschen – ein Charakteristikum von Kapitalismus – möglich sei. Grundlage war die von Wissenschaftlern der „Aufklärung“ oftmals vorgenommene Verknüpfung von „Entwicklung“ mit der Einteilung von Menschen in angeblich existierende Rassen mit je unterschiedlichem Vernunftvermögen. Dies definierte die kolonisierten Gebiete als zur Ausbeutung bestimmte primitive Vorformen Europas. Post-Development konzentriert sich auf diese düstere Seite der „Moderne“ und „Aufklärung“. Und es befragt Entwicklungsdenken danach, wessen Wissen darin als Wissen anerkannt wird und wessen Wissen als traditionell, überkommen, primitiv und abergläubisch abgewertet wird.
Durch gewaltsame Unterwerfung haben westliche Gesellschaften versucht, nicht westliche nach ihren Bedürfnissen und Vorstellungen zu formen. Hegemoniales lokales europäisches Wissen und gesellschaftliche Organisationsformen wurden so über den gesamten Erdball verbreitet. Eine solche Universalisierung beinhaltete die Zerstörung beziehungsweise Veränderung anderer Wissenssysteme und die gleichzeitige Installierung westlicher Apparate wie zum Beispiel eines spezifischen Bildungs- und Schulwesens oder der biomedizinischen Gesundheitsversorgung. Post-Development kritisiert, dass dies auch nach dem Kolonialismus, mit der Installierung entwicklungspolitischer Institutionen, auf internationaler und nationaler Ebene fortgeführt wurde. Das Streben nach Universalisierung bringt der Buchtitel „Wie im Westen, so auf Erden“ (Sachs 1993), eines der zentralen Post-Development-Bücher, auf den Punkt.
Der hegemonialen Vorstellung von „Entwicklung“ in Kombination mit europäischer Ausbeutung und Eroberung anderer Weltregionen entsprang die Annahme, dass Westler*innen die Aufgabe hätten, andere Gesellschaften zu „verbessern“. Post-Development kritisiert diese „institutionalisierte Besserwisserei“ (Lepenies 2014) der Entwicklungspolitik sowie Expert*innentum insgesamt. Dabei geht es auch grundsätzlicher um die Tendenz in der Entwicklungspolitik, die dominante europäische Erkenntnistheorie der positivistischen Rationalität und die Seinslehre der Trennung von Individuum und Gesellschaft beziehungsweise von Natur und Kultur als einzige legitime Grundlage von Wissensproduktion zu verstehen. Post-Development kritisiert also sowohl die größeren Prozesse der Kolonisierung, Verwestlichung und Durchkapitalisierung der Welt als auch den spezifischen Bereich der Entwicklungspolitik beziehungsweise -zusammenarbeit. Letztere werden als Fortführung einer kolonialen Praktik der Zerstörung, Missachtung und Marginalisierung der Wissens- und Glaubenssysteme ehemals kolonisierter Gesellschaften verstanden.
Post-Development bringt eine Sensibilität für die sprachliche Prägung von Wirklichkeit und für den Zusammenhang von Wissen und Herrschaft mit. Von alternativen Konzepten verspricht es sich daher auch andere Praktiken. Eine Umdeutung des Konzepts „Entwicklung“ scheint aus der Post-Development-Perspektive wenig aussichtsreich: aufgrund seiner Verankerung im westlichen Denken, seiner Zentralität für koloniale Herrschaft und seiner Materialisierung in internationalen und nationalen Institutionen. Eine Politik, die auf eine Verbesserung von Lebensbedingungen jenseits von kolonialer Herrschaft abzielt, sollte sich auf andere Konzepte beziehen: globale Gerechtigkeit, Solidarität, Gastfreundschaft und Befreiung von Herrschaft.
Die Post-Development-Schule sieht Alternativen zu „Entwicklung“ vor allem in den Strategien lokaler, indigener Gemeinschaften sowie in einigen Graswurzelbewegungen des globalen Südens verwirklicht, welche sich gegen Entwicklungsprojekte stellen.
Im globalen Süden gibt es diverse Anstrengungen, alternative Konzepte des Verhältnisses von Menschen untereinander und gegenüber der Natur einzubringen. Es geht nicht um die Suche nach neuen universalistischen Rezepten, sondern vielmehr darum, dass gesellschaftliche Zusammenhänge eigene, den jeweiligen Kosmologien – Sichtweisen auf die Welt, auf die sich die Mitglieder einer Gesellschaft unbewusst geeinigt haben – verbundene Antworten darauf finden, wie jegliche Form imperialer Produktions- und Lebensweisen unterbunden werden kann.
Post-Development ist eine Perspektive, die durch und mit sozialen Bewegungen in Süd und Nord operiert
Post-Development ist nicht als eine soziale Bewegung zu verstehen. Vielmehr „operiert durch und mit sozialen Bewegungen“ (Escobar 2015: 456). Wenn man von den Texten der Post-Development-Kritiker*innen ausgeht, dann gehören vor allem die Kämpfe der Zapatistas, die anderer indigener Gruppen und afro-diasporischer Gemeinschaften in Lateinamerika zu Post-Development. Insgesamt ist ein starker Fokus auf Graswurzelbewegungen in Lateinamerika erkennbar, aber auch Indiens Adivasi-Bewegungen sind in der Diskussion präsent.
Initiativen wie beispielsweise Repair-Cafés, Urban Gardening und Tauschläden, die in Europa als Teil der Degrowth-Bewegung gefasst werden, stehen im globalen Süden nicht im Fokus der Betrachtung. Sie werden von den dortigen Post-Development-Autor*innen nicht als Post-Development eingeordnet. Im Süden sind die Post-Development-Akteur*innen also vor allem Gemeinschaften oder Initiativen im ländlichen Raum, die sich autonome Lebens- und Produktionsmuster erhalten wollen und dabei auf nicht westliche Kosmologien Bezug nehmen. Vielfach ist das verbunden mit ganz konkreten Kämpfen für Landrechte, ökonomische Unabhängigkeit und politische wie kulturelle Selbstbestimmung – auch ausgetragen mit Mitteln des zivilen Ungehorsams oder mit militanteren Formen des Widerstands. Die maßgeblichen Akteur*innen dieser Kämpfe verwenden in den seltensten Fällen das Label „Post-Development“. Dies geschieht eher durch aktivistisch mit ihnen verbundene Wissenschaftler*innen. Süd-Süd- und Süd-Nord-Zusammenarbeit besteht über Initiativen wie die Weltsozialforen und internationale Bewegungen wie Via Campesina, in der sich Kleinbäuer*innen und Landarbeiter*innen vernetzen.
Um ein Beispiel für eine Initiative zu nennen, durch die die Kerngedanken von Post-Development zum Tragen kommen: In Chiapas, Mexiko, gibt es seit einigen Jahren Proteste gegen das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) finanzierte Projekt „Gerechter Vorteilsausgleich bei der Nutzung biologischer Vielfalt“. In den Worten des BMZ geht es darin um Unterstützung der mexikanischen Regierung dabei, „die Wertschöpfung zu verbessern, traditionelles Wissen stärker zu nutzen und Neuerungen einzuführen“, sowie darum, Akteure in die Lage zu versetzen, „die internationalen Standards für die gerechte Aufteilung der Vorteile aus der Nutzung von genetischen Ressourcen zu erfüllen“ (BMZ o. J.). Die Vereinigung der traditionellen indigenen Heiler und Hebammen in Chiapas verurteilte das Projekt in einer Erklärung hingegen als neokoloniale Biopiraterie:
Für den deutschen Staat und unsere neoliberalen Regierungen stellen die Territorien, Ressourcen und Kulturen einen globalen Reichtum in toten Händen dar, die sich unrechtmäßig im Besitz von ausgegrenzten Völkern befinden. Für uns sind sie Brot des gemeinschaftlichen Lebens in den Händen jener, die sie geschützt und vermehrt haben, seit ewigen Zeiten: ihre ursprünglichen Verwalter, die indigenen Völker.

(COMPITSCCH 2011)


Im weiteren Sinn könnte man sagen, dass all jene Teil von Post-Development sind, die sich dafür einsetzen, die weltweit hegemoniale Vorstellung und Praxis von „Entwicklung“ aus dem Zentrum gesellschaftlichen Strebens zu verdrängen und anderen Kosmologien Platz einzuräumen. Dann gehören die Kämpfe in von Post-Development-Autor*innen vernachlässigten Regionen wie Australien, Afrika, Nordamerika und Asien dazu. Es lassen sich aber auch internationalistische Bewegungsnetzwerke in Deutschland wie die BUKO(Bundeskoordination Internationalismus), in den Wissenschaftsbetrieb intervenierende Einrichtungen wie das Fachgebiet Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien der Universität Kassel und feminIEsta an der Universität Wien sowie NGOs wie glokal oder Afrique-Europe-Interact als Akteur*innen klassifizieren, die Post-Development-Perspektiven umsetzen oder ihnen Geltung verschaffen. Strategien können neben der Solidarität mit Bewegungen im Süden umfassen, sich für globale Bewegungsfreiheit und das Recht auf Migration einzusetzen oder sich – jenseits des Hilfsgestus von Entwicklungshilfe – für einen angemessenen Umgang mit den Nachwirkungen einer 500-jährigen Kolonialgeschichte stark zu machen. Gegen die gesellschaftliche Verdrängung des Kolonialismus sind Initiativen wie No Humboldt 21!, Völkermord verjährt nicht! und die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) aktiv. Dabei geht es beispielsweise darum, Mahnmale für die Opfer kolonialer Gewalt zu errichten, geraubte Schädel, Gebeine und Kulturgüter zurückzufordern oder den umfassenden Einfluss des Kolonialismus auf unsere Gegenwart im Schul- und Universitätscurriculum zu verankern. Langjährige Lobbyarbeit (in den ehemals kolonisierten Gebieten sowie bei den ehemaligen Kolonialmächten), aber auch anwaltlicher Beistand scheinen Strategien zu sein, um die Frage der Entschuldigung und Reparationen für koloniales Unrecht angehen zu können. Eine tatsächliche Kompensation der jahrhundertelangen und fortwährenden Aneignung von Ressourcen, der Zwangsarbeit und der Zerstörung würde enorme Summen erfordern1 – und müsste konsequenterweise auch die Rückübertragung ganzer Landstriche beziehungsweise Kontinente beinhalten.
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1 1999 errechnete die African World Reparations and Repatriation Truth Commission eine Forderung von 777 000 000 000 000 US-Dollar. Siehe auch: www.colonialismreparation.org.

In Debatten um Degrowth taucht Post-Development selten auf, obwohl Degrowth zum Teil darauf aufbaut
Bis dato gibt es wissenschaftlich wenige Unternehmungen, Post-Development und Degrowth zusammenzudenken. Arturo Escobar (2015), einer der Wegbereiter von Post-Development, versteht beide als Transformationsdiskurse. Ihm zufolge hatten die Post-Development-Debatten Einfluss auf die Anfänge der Degrowth-Bewegung. So war Serge Latouche, einer der wichtigsten Begründer der französischen Degrowth-Variante Décroissance, stark von der Fundamentalkritik am Entwicklungsbegriff beeinflusst. Schrumpfung des Nordens und Rückgang der Dominanz über den Süden sind ihm zufolge für eine Entfaltung des globalen Südens notwendig. Autor*innen aus dem Süden tauchen in den Degrowth-Debatten auffällig selten auf.
Die jüngste großangelegte Degrowth-Aktion hat sich insofern ganz direkt von Post-Development inspirieren lassen, als das Ende Gelände-Bündnis (gegen Kohleabbau) den Slogan „Leave it in the ground“ wählte. Auch wenn dies nicht explizit gemacht wurde, war der Bezug zur Yasuní-Initiative offensichtlich, die wiederum in Zusammenhang steht mit der gesetzlichen Verankerung von Buen Vivir in Ecuador. 2007 machte die ecuadorianische Regierung den Vorschlag, die Ölquellen im Biosphärenreservat Yasuní nicht auszubeuten, wenn sie zumindest die Hälfte der entgangenen Einnahmen von der internationalen Staatengemeinschaft erstattet bekäme. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) unter Dirk Niebel war daran beteiligt, diesen Vorstoß ins Leere laufen zu lassen.
Der Post-Development-Kritik zufolge sollten Aktivist*innen im Westen in der eigenen Gesellschaft politisch aktiv werden und unter anderem imperiale Politik bekämpfen; von Interventionen im Süden, die in einer kolonialen sowie entwicklungspolitischen Tradition stehen, sollten sie absehen. Für Deutschland hieße das auch, die Kapazität, imperial zu intervenieren, zurückzufahren, also beispielsweise antimilitaristisch zur „Abwicklung des Nordens“ (Spehr 1996) beizutragen, aber auch die Möglichkeit der ökonomischen Verfügung über Arbeitskraft des globalen Südens zu verringern. Es kann aber auch bedeuten, anti-imperiale Bestrebungen im Süden zu unterstützen – so geschehen durch das in der BRD aktive Ya-Basta-Netz, das den oben beschriebenen Widerstand in Chiapas gegen BMZ-Aktivitäten und gegen die mexikanische Regierung unterstützt.
Mit dem Widerstand gegen koloniale Denkweisen und Strukturen geht Post-Development über Wachstumskritik hinaus, Degrowth lenkt den Blick auf Überkonsumption und -produktion

Anregungen von Post-Development für Degrowth


Degrowth kann von Post-Development lernen, so zum Beispiel in Hinblick auf die Rolle von „Traditionen“. Post-Development misst diesen emanzipatorisches Potenzial bei und versteht sie nicht im Sinne eines „Back-to-the-Roots“. Sie bedeuten vielmehr eine Wertschätzung von gemeinschaftlichem Wissen und gemeinschaftlichen Lebensformen, von Kosmologien und Praktiken, die dem Kapitalismus und (Neo-)Kolonialismus im Weg stehen oder standen. So könnte Degrowth etwa von den Kämpfen der Landbevölkerung gegen die Privatisierung von Wiesen, Wald und Wasser in den Anfängen des Kapitalismus lernen beziehungsweise sich auf diese beziehen. Zudem kann Post-Development jenen Tendenzen in der Degrowth-Bewegung entgegenwirken, die westlichen Fortschritt fetischisieren und davon überzeugt sind, dass technische Lösungen das Mittel zur Überwindung einer destruktiven Wirtschafts- und Lebensweise sind.
Auf der anderen Seite wurde Post-Development als der „letzte Zufluchtsort für den edlen Wilden“ kritisiert: Der Vorwurf lautete, lokale Traditionen zu romantisieren, deren repressive Aspekte zu legitimieren und Anstrengungen von armen Bevölkerungsgruppen, sich Anteile an der kapitalistischen Moderne zu sichern, nicht ernst zu nehmen. Sich paternalistisch gegenüber marginalisierten Menschen zu verhalten, kann wiederum auch Teilen der Degrowth-Bewegung vorgeworfen werden. Vorsicht sei geboten, wenn bürgerliche Vorstellungen von Suffizienz glorifiziert und – zumeist implizit – Konsumstile oder Essensgewohnheiten von armen Menschen in Europa abgewertet werden. Hier müssten auch die befreienden Dimensionen von technischem Fortschritt, Industrialisierung und Individualisierung in den Blick genommen werden. Pragmatische, nicht auf Reinheit bedachte Umgangsformen mit den Realitäten kapitalistischer Globalisierung, wie beispielsweise bei den Zapatistas offensichtlich, könnten zum Vorbild genommen werden.
Für diese Fragen scheint mir die von Aram Ziai (2006) vorgeschlagene Unterscheidung zwischen reaktionären und radikaldemokratischen Post-Development-Perspektiven auch für Degrowth-Positionen hilfreich: Die eine Sichtweise romantisiert traditionelle Kulturen, konzipiert Kulturen als statisch, lehnt die Moderne völlig ab und propagiert die Rückkehr zur Subsistenzwirtschaft; die andere bewertet lokale Gemeinschaften und kulturelle Traditionen skeptischer, formuliert die Kritik an der Moderne vorsichtiger, basiert auf einer konstruktivistischen Sichtweise auf Kultur und verzichtet auf Skizzen zukünftiger Gesellschaftsformationen.
Von den jüngeren post- und dekolonial inspirierten Arbeiten zu Entwicklung und Entwicklungspolitik kann vor allem die historisierende Perspektive für Degrowth handlungsleitend sein. Dabei sollte einbezogen werden, dass Europas „Entwicklung“ ohne (Neo-)Kolonialismus nicht zu denken ist. So kann die Post-Development-Perspektive hilfreich sein, um transnationale Vernetzungen kritisch in den Blick zu nehmen und der technologieaffinen Degrowth-Strömung unangenehme Fragen zu stellen: Wer holt die Ressourcen für Solarzellen, für den Computer, an dem neueste Degrowth-Ideen entwickelt werden, oder für das Handy, dessen App mir die nächste Foodsharing-Möglichkeit anzeigt, wo unter welchen Bedingungen aus dem Boden? Und wer baut die Geräte unter welchen Arbeitsbedingungen zusammen? Wie oben erwähnt, geht es aber nicht nur um materielle Ausbeutung, sondern auch um Vorstellungen davon, wie richtige „Entwicklung“ definiert wird. Teile der Degrowth-Bewegung grenzen sich vom vermeintlich primitiven außereuropäischen Anderen ab – heute in Gestalt von nicht auf erneuerbare Energien setzenden, Industrialisierung pushenden und Konsumismus abfeiernden Ländern des Südens –, um sich selbst als fortschrittlich zu begreifen.
Mit der rassismuskritischen, machtsensiblen Brille von Post-Development kann darüber hinaus der Blick auf die Frage gelenkt werden, wie es eigentlich um Inklusion in der Degrowth-Bewegung bestellt ist: Wie werden Geflüchtete und migrantisch-diasporische Initiativen in Degrowth eingebunden und mitgedacht – personell, aber auch was deren vielleicht divergierende Perspektiven auf „Entwicklung“ angeht?

Anregungen von Degrowth für Post-Development


Zur Zeit sehe ich drei Impulse, die von der noch jungen Degrowth-Bewegung ausgehen können. Erstens hat Degrowth gezeigt, wie innerhalb kürzester Zeit eine Bewegung systematisch aufgebaut beziehungsweise zusammengeführt werden kann. Konzertierte Aktionen wie die Degrowth-Konferenzen, aber auch die Degrowth-Sommerschule in Kombination mit der massenmobilisierenden Aktion Ende Gelände haben in kurzer Zeit ermöglicht, dass sich Menschen unter einem Dach zusammenfinden und einen gemeinsamen Diskussions- und Aktionsraum schaffen.
Zweitens beschäftigt sich Post-Development bislang nicht mit der Frage, wie Überkonsumption und -produktion zurückgefahren werden können. Im globalen Süden richtet sich der Widerstand gegen das Eindringen von Kapitalismus in Territorien, Lebensweisen und gesellschaftliche Bereiche, die bis dato noch nicht vollständig davon eingenommen sind. Degrowth hingegen richtet sich explizit gegen Ressourcenverbrauch und Konsummuster des globalen Nordens, die sich als untragbar für den Planeten erwiesen haben. Nun ist diese „imperiale Produktions- und Lebensweise“ (Brand/Wissen 2011) zwar vornehmlich im Norden beheimatet, sie wird aber auch von expandierenden Ober- und Mittelschichten im Süden praktiziert. Bis dato hat sich Post-Development zudem vor allem auf den ländlichen Raum konzentriert, wohingegen sich Degrowth viel mit der Frage, wie eine gesellschaftliche Transition in Städten aussehen kann, auseinandersetzt. Die zweite begrüßenswerte Anregung, die Degrowth liefert, ist also, den globalen Norden systematisch hinsichtlich seines Entwicklungsproblems in den Blick zu nehmen sowie Vorschläge für urbane Transformationen von unten zu machen.
Drittens präsentiert Degrowth sehr konkrete Ansätze, wie auf der Ebene von größeren Zusammenhängen wie Städten, Regionen und ganzen Staaten anders gewirtschaftet und gelebt werden kann. Hier sind Transition-Towns zu nennen oder makroökonomische Konzepte wie die „steady state economy“. Auch die Energiewende in Deutschland kann als ein praktischer Versuch angesehen werden, Nachhaltigkeit auf demokratische Weise (Stichwort Energiegenossenschaften) umzusetzen, auch wenn kein gesellschaftstransformierendes Moment zu erkennen ist, denn das Ganze findet unter kapitalistischen Vorzeichen statt und der Suffizienzaspekt wird weitgehend ausgespart. Die Versuche, gesamtgesellschaftliche Fragen angesichts real existierender gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse in reformerischer Manier anzugehen, könnten für die Post-Development-Perspektive inspirierend sein.
Post-Development und Degrowth können Hand in Hand gegen kapitalistische und koloniale Herrschaft in Nord und Süd, Stadt und Land eintreten
Diskursiv betrachtet kann Degrowth oder Postwachstum kein geeignetes Dach bieten, um Post-Development Unterschlupf zu gewähren. Hier erscheint mir die Perspektive von Post-Development als umfassender Diskurs besser geeignet, denn Wachstum ist nur eines der westlichen Konzepte, die Post-Development aufs Korn nimmt. Daneben werden dominante Konzepte von Fortschritt, Moderne, Rationalität und das westliche dichotome Denken an sich in Frage gestellt.
Degrowth könnte folglich als eine ausbaufähige Post-Development-Perspektive im Norden verstanden werden. Degrowth und Post-Development können aber auch als Ansätze gedacht werden, die sich an unterschiedliche Gesellschaften und gesellschaftliche Schichten richten beziehungsweise sich auf unterschiedliche Problemkontexte beziehen. Somit könnten sie auch neben- und miteinander stehen bleiben. Degrowth gälte dann für den globalen Norden (alle umfassend, die von Kolonialismus und Kapitalismus profitieren und auf Kosten des globalen Südens leben) und Post-Development für den globalen Süden. So böten Post-Development und Degrowth eine komplementäre Position gegen asymmetrische Globalisierung, ungleiche Machtverhältnisse und Eliten aus Nord und Süd, die ihre eigenen Annahmen anderen aufzwingen.
Die umfassende Beschäftigung mit dem herrschaftssichernden Konzept und der Praxis von „Entwicklung“, die Post-Development unternommen hat, kann auch hilfreich sein, um auf gegenwärtige Herausforderungen in Europa zu reagieren. Post-Development entwickelte sich unter anderem als Reaktion auf die von Weltbank und IWF in den 1980ern vorangetriebenen „Strukturanpassungsmaßnahmen“, die Staaten dazu zwangen, den Sozialstaat abzubauen und eine neoliberale Politik durchzusetzen. Die Parallelen zum Umgang der Troika mit der griechischen Gesellschaft, aber auch die Politik der EU in Portugal, Italien und Irland sind frappierend. Hier können die diskurs- und graswurzelsensiblen Ansätze von Post-Development Einsichten in die komplexen Wirkungen dominanter Konzepte von „Entwicklung“ auf die Subjektivitäten der verantwortlichen Akteur*innen wie auch auf die betroffenen Gesellschaften bereitstellen. Die radikaldemokratischen Perspektiven aus dem Post-Development können dabei aber auch linke Politik herausfordern, denn sie räumen den Entscheidungen der jeweils betroffenen Menschen Priorität ein, selbst wenn diese aus linker Perspektive reaktionär erscheinen mögen.

Links


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Verwendete und weiterführende Literatur


Bendix, Daniel; Ziai, Aram 2015. Emanzipation durch Entwicklungspolitik? Einige Überlegungen zu Fragen globaler Ungleichheit. Momentum Quarterly – Zeitschrift für sozialen Fortschritt 4(3): 161-173. <https://www.momentum-quarterly.org/index.php/momentum/article/view/112>
BMZ . Gerechter Vorteilsausgleich bei der Nutzung der biologischen Vielfalt in Mexiko. Zugriff: 27.06.2016. <http://www.bmz.de/de/themen/biodiversitaet/arbeitsfelder/gewinne/projekt_mexiko/index.html>
Brand, Ulrich; Wissen, Markus 2011. Sozial-ökologische Krise und imperiale Lebensweise. Zu Krise und Kontinuität kapitalistischer Naturverhältnisse. In: VielfachKrise im finanzdominierten Kapitalismus. Demirović, Alex; Dück, Julia; Becker, Florian; Bader, Pauline (Hrsg.). Hamburg: VSA. 78-93.
COMPITSCCH 2011. Die Biopiraterie kommt in unser Land zurück. Getarnt als Entwicklungszusammenarbeit wird in den „Werften“ des institutionalen Konservatismus ein Panzerschiff ICBG Alemán gebaut. Zugriff: 27.06.2016. <http://www.biopiraterie.de/fileadmin/pdf/Biopiraterie_ICBG_aleman_dt.pdf>.
Escobar, Arturo 2015. Degrowth, postdevelopment, and transitions: a preliminary conversation. Sustainability Science 10(3): 451-462.
Fanon, Frantz 1981. Die Verdammten dieser Erde (erstveröffentlicht: 1961). Frankfurt: Suhrkamp.
glokal e. V. 2013. Mit kolonialen Grüßen … Berichte und Erzählungen von Auslandsaufenthalten rassismuskritisch betrachtet. Berlin: glokal e. V. Zugriff: 27.06.2016. <http://www.glokal.org/publikationen/mit-kolonialen-gruessen/>
Lepenies, Philipp 2014. „La rage de vouloir conclure“: Wissensvermittlung als Entwicklungsengpass oder warum Experten so arbeiten, wie sie es tun. In: Im Westen nichts Neues? Stand und Perspektiven der Entwicklungstheorie. Ziai, Aram (Hrsg.). Baden-Baden: Nomos. 213-234.
Sachs, Wolfgang (Hrsg.) 1993. Wie im Westen so auf Erden. Ein polemisches Wörterbuch zur Entwicklungspolitik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Spehr, Christoph 1996. Die Ökofalle. Nachhaltigkeit und Krise. Wien: Promedia.
Ziai, Aram 2006. Zwischen Global Governance und Post-Development. Entwicklungspolitik aus diskursanalytischer Perspektive. Münster: Westfälisches Dampfboot. Zugriff: 27.06.2016. <https://www.uni-kassel.de/fb05/fileadmin/datas/fb05/FG_Politikwissenschaften/Entwicklungspolitik/Forschung/Ziai__Zwischen_GG_und_PD.pdf>

00 Degrowth in Bewegung(en)

01 Einleitung

02 15M – from an autonomous perspective

03 Anti-Kohle-Bewegung

04 Artivism

05 Attac

06 Buen Vivir

07 Care Revolution

08 Commons-Bewegung

09 Degrowth

10 Demonetarisierung

11 Ernährungssouveränität

12 Flucht- und migrationspolitische Bewegung

13 Freie-Software-Bewegung

14 FUTURZWEI

15 Gemeinwohl-Ökonomie

16 Gewerkschaften

17 Grundeinkommensbewegung

18 Jugendumweltbewegung

19 Klimagerechtigkeit

20 Offene Werkstätten

21 Ökodorf-Bewegung

22 Peoples Global Action

23 Plurale Ökonomik

24 Post-Development

25 Post-Extraktivismus

26 Queer-Feministische Ökonomiekritik

27 Radical ecological democracy

28 Recht auf Stadt

29 Solidarische Ökonomie

30 Tierrechtsbewegung

31 Transition-Initiativen

32 Umweltbewegung

33 Urban-Gardening-Bewegung

34 Abschlusskapitel