Wir schreiben als Aktive im Netzwerk Care Revolution, in dem wir seit 2014, unter anderem in der Regionalgruppe Freiburg, tätig sind.
Es handelt sich im Folgenden um unsere persönlichen Positionen. Gabriele Winker ist Autorin des Buchs
Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft und Professorin für Arbeitswissenschaft und Gender Studies an der Technischen Universität Hamburg. Matthias Neumann ist Verkäufer im Supermarkt und Politikwissenschaftler.
Care Revolution will mit einer grundlegenden gesellschaftlichen Neuausrichtung Sorge für sich und andere bedürfnisgerecht gestalten
Mit dem Konzept der Care Revolution setzen sich Aktivist_innen für ein gutes Leben ein, in dem alle Menschen ihre Bedürfnisse befriedigen können – und zwar umfassend, ohne jemanden auszuschließen und nicht auf dem Rücken anderer. Dabei stellt Care Revolution anknüpfend an Erkenntnisse feministischer Politik die grundlegende Bedeutung von Sorgearbeit (oder synonym: Care-Arbeit) ins Zentrum der gesellschaftskritischen Analyse und des politischen Handelns. Denn Menschen benötigen vom Augenblick ihrer Geburt an die Sorge anderer, ohne die sie nicht überleben könnten. Aber auch jenseits des Kinder- und Jugendalters und jenseits von Zeiten der Krankheit und Gebrechlichkeit sind Menschen alltäglich auf andere angewiesen. Die Möglichkeit, in einer schwierigen Situation konkrete Hilfe und Unterstützung zu erfahren, ist ein wesentliches Kriterium für ein gutes Leben. Dies gilt ebenso für die Möglichkeit, für andere sorgen zu können, ohne selbst unangemessene Opfer bringen zu müssen.
Sorgearbeit ist eine Tätigkeit, die alle Menschen ausführen. Sie kümmern sich um sich selbst, um ihre Gesundheit, um ihre Weiterbildung, kochen für sich oder für andere Menschen, erziehen Kinder, beraten Freund_innen, versorgen unterstützungsbedürftige Angehörige. Teils findet Sorgearbeit entlohnt in Care-Berufen statt, etwa durch Erzieher_innen oder Pflegefachkräfte. Meist allerdings wird sie von Frauen unentlohnt in Familien geleistet und häufig auch gar nicht als Arbeit wahrgenommen.
Derzeit stehen immer mehr Menschen vor der beständig schwieriger werdenden Aufgabe, den Balanceakt zwischen Erwerbsarbeit und unentlohnter Sorgearbeit für sich und andere zu meistern. Sie leben mit der dauernden Bedrohung, an den Anforderungen zu scheitern. In ihrer Erwerbsarbeit sind sie mit zunehmenden Flexibilitätsanforderungen der Unternehmen, kontinuierlich steigendem Leistungsdruck sowie mit Löhnen konfrontiert, die häufig für den Lebensunterhalt zu niedrig sind. Gemäß dem neoliberalen Credo der Eigenverantwortung sind sie aufgerufen, je individuell die hohen beruflichen Anforderungen mit den zunehmenden Aufgaben der Selbstorganisation und mit den gestiegenen Leistungsansprüchen in der familiären Sorgearbeit zu vereinbaren.
Verschärfend kommt in dieser Situation hinzu, dass aus Kostensenkungsgründen sozialstaatliche Unterstützungsleistungen, beispielsweise im Gesundheits- oder Bildungssystem, ab- statt ausgebaut werden. Unter dieser mangelhaften staatlichen Infrastruktur leiden vor allem viele Frauen, die meist neben ihrer beruflichen Tätigkeit die gesellschaftlich notwendige Arbeit für die Wiederherstellung der Arbeitskraft ausführen. Dabei kann in gut verdienenden Familien ein Teil dieser Arbeit an schlecht entlohnte und sozial nicht abgesicherte migrantische Haushaltsarbeiter_innen weitergegeben werden. Auf diese Weise lösen gut Verdienende ihr Problem auf dem Rücken jener, für die schon diese höchst prekäre Arbeit eine Verbesserung ihrer katastrophalen Lage bedeutet. Die staatliche Duldung dieser Arbeitsbedingungen in privaten Haushalten unterhalb gesellschaftlicher Mindeststandards verschärft eine globale Arbeitsteilung, die grundlegende Bedürfnisse von Sorgearbeitenden aus osteuropäischen Ländern und aus Ländern des globalen Südens ignoriert.
Care Revolution als politische Strategie
Die naheliegende und bedürfnisgerechte Konsequenz ist, die nötige Arbeit in Familien und Institutionen gemeinsam und ohne Diskriminierung zu organisieren und zu erledigen. Für Care-Revolutionär_innen sind Achtsamkeit für die Bedürfnisse aller Menschen, Raum für Empathie und solidarisches Miteinander sowie wirkliche Demokratie in Politik und Ökonomie entscheidend. Mit folgenden Schritten ist es möglich, sich dem Ziel guter Sorge und eines guten Lebens zu nähern:
- Ausreichendes Einkommen für alle, um die eigene Existenz zu sichern: Das bedeutet zunächst einen substanziellen Mindestlohn ohne Ausnahmen, ein bedingungslos gezahltes Grundeinkommen und eine deutlich bessere Entlohnung der Arbeit in Care-Berufen.
- Ausreichende Zeit, um neben der Erwerbsarbeit die Sorge für nahestehende Menschen und für sich selbst bewältigen zu können und Zeiten der Muße übrig zu behalten: Das bedeutet zunächst eine massive Arbeitszeitverkürzung für Vollzeit-Erwerbstätige, besondere Erleichterungen für Menschen mit hohen Sorgeaufgaben und eine diskriminierungsfreie Verteilung von Sorgearbeit zwischen Männern und Frauen.
- Eine soziale Infrastruktur, die Sorge und Selbstsorge wirklich unterstützt: Das bedeutet zunächst ein ausgebautes und kostenlos nutzbares Bildungs- und Gesundheitssystem, finanzierbaren Wohnraum, kostenlosen öffentlichen Nahverkehr und die Unterstützung von Selbsthilfenetzwerken und Commons-Projekten. Über eine Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums ist dies realisierbar.
- Echte Teilhabe an gesellschaftlichen Entscheidungen: Das bedeutet eine umfassende demokratische Selbstverwaltung, beginnend im Care-Bereich. Umsetzbar ist dies über ein Räte-System, das der überregionalen Abstimmung und der demokratischen Kontrolle dient. Viele Care-Projekte wie Gesundheitszentren, Kitas oder Bildungsangebote lassen sich auch dezentral und durch Selbstverwaltung vor Ort, in den Stadtteilen und Nachbarschaften, gestalten.
- Diskriminierungsfreie Gesellschaft: Das bedeutet, dass es keinen Ausschluss, keine Benachteiligung und keine Privilegien beispielsweise wegen der Herkunft oder der Staatsangehörigkeit, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung, der körperlichen Leistungsfähigkeit oder der beruflichen Kompetenz gibt.
Das Ziel der Care Revolution ist eine solidarische Gesellschaft. Darunter verstehen Care-Revolutionär_innen eine radikal demokratisch gestaltete Gesellschaft, die an menschlichen Bedürfnissen und dabei insbesondere an der Sorge füreinander orientiert ist. In einer solchen solidarischen Gesellschaft lassen sich die Bedürfnisse aller in ihrer Verschiedenheit befriedigen, ohne dabei Menschen aus anderen Weltregionen zu diskriminieren. Entsprechend bedeutet Care Revolution, nicht weiter die Profitmaximierung, sondern stattdessen die Verwirklichung menschlicher Bedürfnisse ins Zentrum gesellschaftlichen und damit auch ökonomischen Handelns zu stellen.
Akteur_innen des Netzwerks
Care Revolution treten für mehr Zeit und Ressourcen zugunsten der entlohnten und nicht entlohnten Sorgearbeit ein
Im Netzwerk
Care Revolution sind Initiativen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und auch mit verschiedenartiger politischer Schwerpunktsetzung vertreten. Das Spektrum reicht von Initiativen pflegender Angehöriger über Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen und Elterninitiativen bis hin zu Organisationen von Migrant_innen, von
Ver.di- und
GEW-Betriebsgruppen im Bereich der Pflege und Erziehung über Organisationen aus den sozialen Bewegungen bis hin zu queer-feministischen und linksradikalen Gruppen. Im März 2014 fanden sich in Berlin erstmals sechzig solcher Initiativen zur Vorbereitung und Durchführung einer Aktionskonferenz zusammen, an der sich 500 Menschen beteiligt haben. Kurz danach haben diese und neu hinzugekommene Initiativen das Netzwerk
Care Revolution gegründet. Gegenwärtig ist das Netzwerk auf Deutschland, die Schweiz und Österreich begrenzt.
Beispiele im Netzwerk vertretener Gruppen
Ein bedeutsamer Teil der bei
Care Revolution vertretenen Initiativen kommt aus feministischen oder queer-feministischen Zusammenhängen. Manche haben bereits im Rahmen der Zweiten Frauenbewegung, seit den 1970er Jahren, für eine Aufwertung der nicht entlohnten Reproduktionsarbeit gekämpft. Heute wollen ältere und jüngere Aktive auch über Care-Kämpfe die feministische Agenda wieder grundsätzlicher gesellschaftskritisch fassen. Die Schwerpunkte dabei sind recht unterschiedlich. Beispielsweise thematisieren Care-Aktive die geschlechterungleiche Verteilung der Sorgearbeit und fordern deren Anerkennung als gesellschaftlich notwendige Arbeit ein. Andere sind in Gruppen tätig, in denen sie antikapitalistische Positionen mit feministischen verbinden und ihre eigene Lebenssituation im Zusammenhang mit strukturellen Krisen thematisieren. Letztgenannte haben Care Revolution in die Blockupy-Proteste eingebracht.
Women in Exile, die ebenfalls an der ersten
Care Revolution Aktionskonferenz teilgenommen haben, fordern die Unterbringung von Geflüchteten in Wohnungen statt in Lagern ohne Privatsphäre und Schutz vor Übergriffen. Diese Forderung erheben sie vordringlich für Frauen und Kinder, verbinden sie jedoch mit der nach Auflösung aller Lager. Dabei verknüpfen sie die Öffentlichkeitsarbeit für dieses Ziel mit der Aufklärung Geflüchteter über ihre Rechte und mit Stellungnahmen gegen Rassismus und das Migrationsregime.
In den letzten Jahren machten im Bereich der Care-Lohnarbeit Arbeitskämpfe Schlagzeilen, die in verschiedener Hinsicht neuartigen Charakter hatten. Beispielsweise forderten die
Ver.di-Betriebsgruppe und der Personalrat der Charité – Universitätsmedizin Berlin von dem Unternehmen, das die Berliner Uni-Krankenhäuser betreibt, einen Tarifvertrag zur Mindestpersonalbesetzung auf den Pflegestationen. Diesen Arbeitskampf unterstützte das Bündnis
Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus mit Solidaritätsaktionen; diese führte es explizit aus der Interessenlage potenzieller Patient_innen durch. Zum 1. Mai 2016 wurde nach über vier Jahren Auseinandersetzung dieser Tarifvertrag erkämpft. Ein zweites Beispiel sind die Auseinandersetzungen in kommunalen Kitas. In der Streikrunde 2015 wurde eine gesellschaftliche Aufwertung von Sorgearbeit in Kitas und Sozialdiensten gefordert, die sich auch in der Entlohnung niederschlagen müsse. In erhöhtem Maß und teils erfolgreich wurde dabei versucht, die Eltern als Bündnispartner_innen zu gewinnen.
Auch selbstverwaltete Betriebe unterstützen die Gedanken der Care Revolution, beispielsweise die Pflegekräfte der
Tagespflege Lossetal, die ein Arbeitsbereich der
Kommune Niederkaufungen ist. In der Tagespflege für pflegebedürftige, insbesondere demente Menschen werden andere Mitglieder der Kommune, Nachbar_innen und Angehörige möglichst weitgehend beteiligt. Damit soll zum einen die Qualität der Pflege erhöht werden. Zum anderen drückt sich hier die gesellschaftliche Zielvorstellung aus, dass Menschen in Nachbarschaften sich gegenseitig unterstützen, während die Tagespflege ergänzend die erforderliche professionelle Arbeit einbringt.
In der familiären Pflegearbeit lässt sich die Initiative
Armut durch Pflege anführen, die der Verein
wir pflegen – Interessenvertretung begleitender Angehöriger und Freunde in Deutschland startete. Ziel der Initiative ist es, Betroffenen mit ihren Notlagen und ihren Forderungen eine Stimme zu geben und materielle Verbesserungen für pflegende Angehörige, etwa durch ein substanzielles Pflegegeld, durchzusetzen. Dabei wird in den Forderungen immer auch die Menschenwürde der Gepflegten angesprochen, die nicht von ihrer Leistungsfähigkeit abhängen darf. Ähnliche Ziele verfolgt, auf einem anderen Weg, der Verein
Nicos Farm: Kinder und Jugendliche, die aufgrund einer Behinderung auf lebenslange Pflege angewiesen sind, sollen ein menschenwürdiges Leben auch dann führen können, wenn ihre Eltern selbst auf Pflege angewiesen oder tot sind. Der Verein versucht hierzu ein Projekt mit Wohn-, Beschäftigungs- und Therapiemöglichkeiten in der Lüneburger Heide zu realisieren.
Rahmenbedingungen gemeinsamen Handelns
Die
Care Revolution Aktionskonferenz im März 2014 war ein Moment, in dem das Interesse aneinander sowie an den jeweiligen Bedürfnislagen und Bedrängungen ebenso spürbar wurde wie der Wunsch nach einer gemeinsamen Erklärung für das erfahrene soziale Leid. Bei der Konferenz wurde auch das Wissen um die verbreitete Durchsetzungsschwäche der einzelnen Initiativen deutlich sowie die Gründe dafür: weil in der jeweiligen Sorgearbeit kein ökonomischer Druck aufgebaut werden kann; weil die Arbeit häufig vereinzelt geleistet wird; und weil im neoliberalen Diskurs das Gelingen der Sorgeaufgaben in die individuelle Verantwortung gegeben wird. Vor allem zeigte sich in der Konferenz jedoch der Wunsch, diese Probleme durch gemeinsames Handeln anzugehen.
Die Kooperation der verschiedenen Initiativen ist jedoch nicht einfach: Zwar gibt es reale, vielfältige Kämpfe und Alternativprojekte rund um Sorgearbeit. Es gibt auch die Wahrnehmung der Gemeinsamkeiten und den Wunsch, sich gegenseitig zu unterstützen. Aber dennoch stehen die je eigenen, häufig existenziellen Kämpfe notwendigerweise im Zentrum des Handelns der Initiativen. Die mangelnde Flexibilität durch übernommene Sorgeverantwortung oder durch prekäre Lebensbedingungen, der Zeit- und Geldmangel vieler Care-Aktiver erschweren es, darüber hinaus gemeinsam zu handeln. Und noch fehlen die Erfahrungen, dass ein gemeinsames Auftreten tatsächlich zu mehr Erfolg führt. All dies verhindert gegenwärtig noch, dass Care Revolution als Bewegung in einer größeren Öffentlichkeit spürbar wird.
Care Revolution und Degrowth können gemeinsam für eine solidarische Gesellschaft kämpfen
Inhaltlich sehen wir einen wichtigen Anknüpfungspunkt zwischen Care Revolution und Degrowth darin, dass es beiden Konzepten um Perspektiven für ein gutes Leben geht. Das gilt auch, sofern wir dies beurteilen können, für die übrigen Bewegungen, die im Projekt
Degrowth in Bewegung(en) repräsentiert und zusammengeführt werden.
Auf den ersten Blick scheint allerdings ein grundlegender Widerspruch darin zu bestehen, dass Degrowth die Betonung auf ein Weniger legt: Es geht darum, weniger Ressourcenverbrauch mit einem guten, Bedürfnisse befriedigenden Leben für alle zu verbinden. Eine notwendige Schrumpfung des Wirtschaftswachstums soll keine Bedrohung des Lebensstandards, sondern eine Chance darstellen. Dagegen geht es den Akteur_innen im Rahmen von Care Revolution im Kern um ein Mehr: Mehr Zeit, mehr unterstützende soziale Infrastruktur und mehr materielle Sicherheit sind unabdingbare Voraussetzungen für eine Verbesserung der Lage Sorgearbeitender. In den Bereichen Gesundheit und Pflege, Bildung und Erziehung geht es entsprechend auch um mehr Personal und höhere Löhne.
Politisch interessant wird es dann, wenn es gelingt, die beiden Ziele – weniger gesellschaftlicher Ressourcenverbrauch und mehr Ressourcen für Care – zusammenzudenken. Dann geht es um ein Schrumpfen all jener Bereiche, die für Menschen und die ökologischen Grundlagen menschlichen Lebens zerstörerisch sind. Beispiele sind Rüstungsproduktion, Kohlekraftwerke oder die derzeitige Gestaltung des Individualverkehrs. Gleichzeitig geht es um ein Wachsen jener spezifischen Bereiche, die für Selbstsorge und Sorge füreinander notwendig sind und dafür die Rahmenbedingungen liefern. Es gilt also, Konzepte dafür zu entwickeln, wie eine Verringerung der Flächenversiegelung und ein großzügiger Kita-Ausbau miteinander vereinbar sind, wie eine Verringerung des Konsumgüterverbrauchs mit mehr materieller Sicherheit und Unterstützung für pflegende Angehörige einhergehen kann, wie mehr Personal im Gesundheits- und Bildungsbereich mit einer gesellschaftlichen Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit zusammengebracht werden kann. Allgemein gesprochen geht es darum, sich darüber Gedanken zu machen, wie eine Gesellschaft strukturiert sein kann, die menschliche Sorgebedürfnisse erfüllt und gleichzeitig die ökologischen Grundlagen menschlichen Lebens bewahrt.
Das Zusammendenken von Degrowth und Care Revolution scheint uns deswegen weiterführend, weil wir eine Parallele beider Konzepte darin sehen, dass sie an eine erstrebenswerte Gesellschaftsformation einen kompromisslosen Anspruch stellen: Sie muss ein gutes Leben ermöglichen – für alle Menschen weltweit und auch für nachfolgende Generationen. Diese Prämisse zieht nach sich, dass eine Gesellschaft, die dies nicht gewährleisten kann, zu verändern ist. Vor diesem Hintergrund können sich Degrowth und Care Revolution gerade dann treffen, wenn sie antikapitalistisch zugespitzt werden. Diese Überlegung lässt sich inhaltlich fortführen: Für den Degrowth-Ansatz ist der Gedanke zentral, dass eine Steigerung der Effizienz von Energie- und Ressourceneinsatz nicht ausreicht, um den Verbrauch hinreichend zu senken. Nicht nur die Produktionsprozesse werden sich ändern müssen, sondern auch der Produktionsumfang und die Weise der Nutzung von Konsumgütern. Mobilität, der Zugang zu Waschmaschinen, Werkzeug oder Bibliotheken, auch die Nutzung von Gärten werden viel stärker kollektiv geregelt werden müssen, um allen einen Zugang zu ermöglichen. Gelingt dies, bedeutet eine solchermaßen veränderte Wirtschaftsweise nicht Verzicht, sondern andere und gleichzeitig reichere soziale Beziehungen. Dies ist ein ganz ähnlicher, ebenfalls positiver Bezug auf die Interdependenz von Menschen wie bei den Überlegungen zu Sorge und Sorgearbeit im Rahmen der Care Revolution. Aufeinander angewiesen zu sein, ist grundlegender Bestandteil menschlichen Lebens. Deswegen ist es auch so enorm wichtig, im politischen Handeln und bei der Entwicklung gesellschaftlicher Alternativen auf menschliche Zusammenarbeit und Solidarität zu setzen.
Ein gemeinsamer Suchprozess mit anderen Bewegungen ist eine ausgesprochen schöne Vorstellung, ebenso wie gemeinsame Kämpfe. Unter dem Thema „solidarische Gesellschaft – solidarisches Leben“, das die Notwendigkeit von Veränderungen gesellschaftlicher Institutionen ebenso wie Veränderungen der persönlichen Lebensweise berührt, können sich sowohl Care Revolution als auch Degrowth wiederfinden. Beide analysieren die Zerstörung des Menschen als soziales Wesen und der Ökosysteme im Kapitalismus und stellen dem die Prinzipien einer solidarischen Gesellschaft gegenüber. Insofern sind beide im Kern antikapitalistische Projekte. Wenn diese Vermutung zutrifft, stellt sich auch beiden Bewegungen die Frage nach der gesellschaftlichen Transformation: Wie lassen sich die einzelnen Kämpfe, Experimente und politischen Veränderungen bis zu dem Punkt verdichten, an dem eine solidarische Alternative zum Kapitalismus Realität werden kann? Eine solche Suche nach Strategien der Transformation sehen wir als Teil eines gemeinsamen Projektes bedürfnisorientierter sozialer Bewegungen.
Die Stärke von Care Revolution liegt darin, dass sehr heterogene Initiativen gemeinsam umfassende gesellschaftliche Veränderungen einfordern
Eine Stärke der Initiativen, die sich auf das Konzept der Care Revolution beziehen, ist ihre Heterogenität; das Thema Care spricht unmittelbar Menschen in ganz unterschiedlichen Milieus, mit unterschiedlichen politischen Vorstellungen, Lebenskonzepten und Wünschen an. Dass diese Vielfalt mit gegenseitigem Respekt und Neugier aufeinander vereinbar ist, war auf der ersten Aktionskonferenz im März 2014 eindrucksvoll erfahrbar.
Unseres Erachtens hängt dies damit zusammen, dass gerade der Care-Bereich gemeinsame – soziale sowie politische Milieus übergreifende – Anknüpfungspunkte bietet. Denn in der Sorge werden unmittelbar lebensnotwendige Bedürfnisse angesprochen, gleichzeitig wird hier die Absurdität besonders offensichtlich, Menschen nach dem Prinzip maximaler Rentabilität heilen, lehren, beraten oder pflegen zu wollen. So kommen Menschen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen und in verschiedenartigen Lebenssituationen zu der Erkenntnis, dass Gesellschaft zumindest im Bereich Care völlig neu gestaltet werden müsste. Dazu kommt, dass gerade in Care-Bereichen eine Alternative verhältnismäßig einfach vorstellbar ist, da die für die Unterstützung notwendige soziale Infrastruktur größtenteils dezentral realisiert werden kann, im Stadtteil oder im Dorf. Kitas, Gesundheitshäuser oder soziale Zentren lassen sich in Formen direkter Demokratie organisieren. So können sich alle Betroffenen unmittelbar an den Aushandlungen über die Gestaltung der Sorgeeinrichtungen beteiligen. Diese Chance eröffnet sich vor allem auch deswegen, weil sich hier Sorgearbeitende unterschiedlicher Art auf Augenhöhe treffen: sowohl beruflich als auch in den Familien oder in der Selbstsorge Engagierte. Sie können sich wechselseitig als Expert_innen erleben, die von unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessenlagen aus das gemeinsame Ziel verfolgen, Sorge gut zu organisieren. Im Care-Bereich und in Kämpfen um bessere Sorgebedingungen gemachte Erfahrungen können auch eine umfassende Vergesellschaftung, die über den Care-Bereich hinausgeht, realistischer und wünschbarer erscheinen lassen. Alle Bereiche der Produktion und der Gestaltung des Zusammenlebens aus dem Rahmen von Kapitalverwertung und Marktkonkurrenz zu befreien, ist nicht zuletzt eine Bedingung für den Schutz der ökologischen Lebensgrundlagen.
Außerdem denken wir, dass gerade, was die Erfahrungen mit Commons angeht, Care-Revolution-Aktivist_innen viel von Bewegungsansätzen lernen können, wie sie im Projekt
Degrowth in Bewegung(en) versammelt sind. Anders als im Care-Bereich, wo es diesbezüglich erst Ansätze gibt, existieren dort bereits vielfache Projekte, in denen Menschen in Gemeinschaft bereits im Kleinen ein Stück lebenswertere Zukunft aufbauen und leben. Wir denken hierbei an Angebote zur gemeinschaftlichen Reparatur, an FabLabs (offene, mit Fabbern, so genannten 3-D-Druckern, ausgestattete Werkstätten), Gemeinschaftsgärten oder die vielfältigen Projekte solidarischer Landwirtschaft.
Bedürfnisorientierte Bewegungen können gemeinsam eine lebenswerte Alternative zum Kapitalismus entwickeln, indem sie ihre Alternativprojekte und Transformationsstrategien verbinden
Die unterschiedlichen Bewegungen oder Praxisbereiche, die sich in
Degrowth in Bewegung(en) treffen, scheinen uns zentrale Gemeinsamkeiten aufzuweisen: Die Zentralität menschlicher Lebensbedürfnisse, Achtsamkeit gegenüber dem Leben überhaupt, die Bedeutung reicher sozialer Beziehungen und die gleichberechtigte Gestaltung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stellen – mit ganz unterschiedlichen Betonungen – einen gemeinsamen Kern dar. Von diesem Kern aus lassen sich die jeweiligen Folgen kapitalistischer Entwicklung kritisieren, die das Ökosystem ebenso wie den Menschen als soziales Wesen zerstören. Von hier aus lassen sich Projekte solidarischen Lebens diskursiv und praktisch verbinden, es lassen sich einzelne Kämpfe aufeinander beziehen und gesellschaftliche Alternativen formulieren.
Diese Bezüge aufeinander zu stärken, ist vielleicht das, was am dringendsten ansteht: Es geht darum, dass die verschiedenen Bewegungen im Austausch eine lebenswerte Alternative zum Kapitalismus entwickeln und dass sie in ihren Projekten einer achtsamen und solidarischen Lebensweise sowie in ihren politischen Auseinandersetzungen einen gemeinsamen Fokus finden. Gelingt dies, können die Bewegungen gemeinsam etwas erreichen, was jede einzelne nicht kann.
Dazu haben alle Teilbewegungen etwas beizutragen. Wenn etwa Migrantinnen unter miserablen Arbeitsbedingungen pflegebedürftige Menschen zu Hause betreuen, eröffnet dies für eine solidarische, bedürfnisorientierte Bewegung verschiedene Bezugspunkte: das Recht der Pflegebedürftigen, gut betreut zu werden, das Recht Angehöriger, mit der Pflege nicht alleine gelassen zu werden, das Recht der migrantischen Pflegerin auf gute Arbeitsbedingungen und gute Entlohnung, die Rechte der Kinder oder Angehörigen der Migrantinnen und der Menschen, die in den Heimatländern die Pflege übernehmen. Es kommt darauf an, alle diese berechtigten Ansprüche wahrzunehmen, die das hiesige Pflegesystem ebenso wie die ungleiche globale Arbeitsteilung berühren. Kommen Bewegungen, die etwa Migration, die Gestaltung der Pflege oder globale Arbeitsteilung als Schwerpunkte haben, in engere Zusammenarbeit, können sie sich bei einer umfassenden Wahrnehmung der Situation unterstützen.
Auch die solidarische Umgestaltung von Städten und Dörfern erfordert gemeinsames Handeln. Die Organisation einer kollektiven sozialen Infrastruktur im Stadtteil erfordert perspektivisch, den Care-Bereich der Kapitalverwertung zu entziehen. Gemeinschaftsgärten brauchen den freien Zugang zu Flächen. Experimente kollektiven Wohnens, gemeinsam genutzte Reparaturwerkstätten, Gemeinschaftsküchen oder Polikliniken dürfen nicht dadurch begrenzt oder verhindert werden, dass ihre Mietzahlungen eine hinreichende Rendite abwerfen müssen. Die Zurückdrängung von privatem Autoverkehr braucht einen entsprechend ausgebauten Nahverkehr und Überlegungen, wie der Zersiedlung und der räumlichen Trennung von Wohnen und Erwerbsarbeit begegnet werden kann. In der Zusammenführung der vielen einzelnen Projekte könnte ein neues, stärker konturiertes Bild lebenswerter Orte entstehen; in der Diskussion der notwendigen Voraussetzungen lässt sich klarer bestimmen, wie eine gesellschaftliche Alternative funktionieren kann.
Indem die sehr unterschiedlichen Akteur_innen verschiedener Einzelbewegungen sich treffen und politisch miteinander aktiv werden, können sie sich darin unterstützen, Alternativen ohne alte und neue Ausschlüsse zu denken und zu praktizieren.
Links
> Interview mit Gabriele Winker zum Buch „Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft“
> Netzwerks Care Revolution – Homepage
> Netzwerk Care Revolution – Kooperationspartner_innen (inklusive sämtlicher im Text genannten Gruppen und Initiativen)
> Netzwerk Care Revolution – regionale Gruppen
> Video „Her mit dem guten Leben für alle weltweit! Für eine Care Revolution“ (Information und Mobilisierung zur Aktionskonferenz Care Revolution in Berlin 2014)
> Videodokumentation der Aktionskonferenz Care Revolution in Berlin 2014
Verwendete und weiterführende Literatur
Biesecker, Adelheid; Wichterich, Christa; Winterfeld, Uta v. 2012.
Feministische Perspektiven zum Themenbereich Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität. Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung.
<http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/Biesecker_Wichterich_Winterfeld_2012_FeministischePerspe.pdf>
Fried, Barbara; Schurian, Hannah (Hrsg.) 2015.
Um-Care. Gesundheit und Pflege neu organisieren. Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung.
<http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Materialien/Materialien13_UmCare_web.pdf>
Praetorius, Ina 2015.
Wirtschaft ist Care. Oder: Die Wiederentdeckung des Selbstverständlichen. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung (Schriften zu Wirtschaft und Soziales 6).
<https://www.boell.de/sites/default/files/2015-02-wirtschaft-ist-care.pdf>
Winker, Gabriele 2013. Zur Krise sozialer Reproduktion. In:
Care statt Crash. Sorgeökonomie und die Überwindung des Kapitalismus. Baumann, Hans u. a. (Hrsg.). Zürich: Edition 8. 119-133.
<http://www.tuhh.de/t3resources/agentec/sites/winker/pdf/Krise_sozialer_Reproduktion.pdf>
Winker, Gabriele 2015.
Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft. Bielefeld: Transcript.
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