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Degrowth in Bewegung(en)

Tierrechtsbewegung

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Title: Gegen die Ausbeutung von Tieren im Namen des Wachstums

By: Andre Gamerschlag und Miriam Boschmann

Release date: 05.07.2016

Download: DIB_Tierrecht.pdf


Andre Gamerschlag ist Sozialwissenschaftler mit Zusatzqualifikation Gender Studies, arbeitet als Dozent und Methodenberater und ist seit 2004 aktiv im Forschungsfeld Human-Animal Studies und in der Tierrechtsbewegung, unter anderem als früherer Vorsitzender von die tierbefreier e. V. Miriam Boschmann hat ihre politikwissenschaftliche Masterarbeit über die zeitgenössische Tierrechtsbewegung geschrieben und ist sowohl in dieser als auch zu den Themen Umwelt, Degrowth, Global Justice und Human Rights aktiv. Aktuell arbeitet sie in einer Kampagne gegen Rassismus.
Wir schreiben aus der Perspektive langjähriger veganer Tierrechtsaktiver, die jeweils auch in anderen, menschenbezogenen Bewegungen engagiert sind. Die Tierrechtsbewegung lässt sich in die Strömungen Tierrechte, Tierbefreiung und Veganismus unterteilen. Da die Grenzen fließend sind, sprechen wir in diesem Beitrag von einer gemeinsamen Tierrechtsbewegung. Wir sind bemüht, die Bandbreite innerhalb der Bewegung darzustellen, anstatt aus einer speziellen Tierrechtsposition heraus zu schreiben.
Die Bewegung fordert ein Ende der Nutzung von Tieren und einen Perspektivenwechsel, der sie als Individuen wahrnehmbar macht
Die Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung (im Folgenden: Tierrechtsbewegung) fordert, dass auch anderen Tieren Grundrechte zugesprochen werden. Dies kann im ethischen oder im juristischen Sinne gemeint sein. Ferner fordert die Bewegung, dass Tiere aus den gesellschaftlichen, institutionellen und kulturellen Herrschaftsverhältnissen befreit werden. Ziel dieser Bewegung ist somit die Überwindung aller menschlichen Praktiken, durch die das freie Leben von (anderen) Tieren beschnitten oder sogar beendet wird. Dies umfasst nicht nur die Gefangenschaft und Tötung für Lebensmittel, Kleidung und Tierversuche sowie die Gefangenschaft in Zirkussen, Zoos und teilweise im häuslichen Bereich. Bereits die Zucht und Domestikation anderer Tierarten wird abgelehnt.
Eine zentrale Parole der Bewegung lautet: „Tiere sind keine Ware.“ Andere Tiere sollen nicht länger als Waren und als Ressourcen angesehen werden, die aus Wirtschaftsinteressen und zur menschlichen Bedürfnisbefriedigung ausgebeutet werden können. Die Handlungskonsequenz aus dieser Forderung ist unter anderem eine vegane Lebensweise: Abgelehnt wird nicht nur der Konsum von Fleisch, sondern von allem, was von Tieren stammt (Milchprodukte, Eier, Honig, Seide, Wolle, Leder etc.) oder mit Hilfe von Tieren oder tierischen Produkten produziert wird (Saft- und Weinklärung mit Gelatine, an Tieren getestete Produkte, Einsatz von Arbeitstieren etc.). Die ursprüngliche Definition des Veganismus als Lebensstil umfasst auch andere Bereiche, bei denen Tiere in Gefangenschaft gehalten werden (Zoo, Zirkus, Aquarien etc.).
Dass Tiere zu Waren gemacht und ausgebeutet werden, ist nur eine Seite des Problems. Die andere, die kulturelle Seite ist, dass ihr Waren-Status mit ihrem Objekt-Status einhergeht. Im Alltagsdenken werden Tiere oder „das Tier“ als das Gegenteil von Menschen beziehungsweise von „dem Menschen“ gedacht. In der Philosophie wurde bis ins 20. Jahrhundert nahezu ungebrochen das Menschsein über das vermeintliche Nicht-Tiersein definiert, wodurch der Blick auf Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und anderen Tieren verdeckt blieb. Der Alltagsglaube an die Grundverschiedenheit von „Mensch“ und „Tier“ ist wissenschaftlich nicht mehr haltbar und widerspricht den aktuellen biologischen Erkenntnissen. Menschen sind nicht die Krone der Schöpfung, sondern Primaten, also Säugetiere, und somit eine Art von vielen. Zur Bezeichnung anderer Tiere sprechen Tierrechtsaktive daher in der Regel von „nichtmenschlichen Tieren“.
Die von uns ausgebeuteten Spezies sind in der Regel – mit artbezogenen und individuellen Unterschieden – intelligent, also in der Lage, ihre Umwelt und Zusammenhänge zu erkennen sowie Probleme zu lösen. Davon zeugen Lernverhalten, Werkzeuggebrauch und Entdeckung von Vorgängen. Beispiele dafür sind: Krähen, die Nüsse auf die Straße fallen lassen, damit Autoreifen sie knacken; Affen, die Nussknacker bauen; oder Schweine, die einfache Computerspiele erlernen können. Ferner sind die von uns ausgebeuteten Arten auch physisch wie emotional empfindungsfähig; ein drastisches Beispiel dafür ist das panische Verhalten der Mutterkühe bei und nach der Trennung von ihren Kälbern. Wurden Intelligenz und Empfindungsvermögen lange vor allem durch verhaltensbiologische Studien nachgewiesen, können sie heute auch neurologisch belegt werden. „Sie leiden so wie wir“ lautet eine weitere Parole der Bewegung. Kein Wesen, das Leid und Schmerz empfinden kann, sollte diesen ausgesetzt sein.
Indem Menschen als Subjekte und Tiere als Objekte gedacht werden, wird Tieren unterstellt, ihnen würden bestimmte Eigenschaften fehlen. Diese wiederum werden als Differenzkriterien herangezogen, um ihre Ausbeutung zu legitimieren. Beispiele dafür sind etwa Leidens- und Empfindungsfähigkeit, Intelligenz, Sozialverhalten und Sprachgebrauch. Dass die als relevant erachteten Kategorien einem historischen Wandel unterzogen sind, zeigt, dass es sich dabei nicht um eine rein beschreibende Feststellung biologischer Merkmale, sondern um gesellschaftlich gemachte Zuschreibungen und Wertungen handelt. So wurde die Intelligenz erst dann als Differenzkriterium herangezogen, als die Annahme des Fehlens von Schmerzempfindungen nicht mehr haltbar war. Und das jüngste Argument, andere Tiere hätten keinen Begriff vom Tod, wurde erst populär, als die Vorstellung fehlender Intelligenz nicht mehr zu überzeugen vermochte. Da Waren-Status und Objekt-Status miteinander verbunden sind, wollen Teile der Tierrechtsbewegung nicht nur die praktizierte Tierausbeutung überwinden, sondern auch den Blick auf und das Bild von anderen Tieren verändern. Sie sollen nicht als das Gegenteil von uns Menschen verstanden werden, sondern als evolutionäre Verwandte, die viele Eigenschaften mit uns teilen.
Damit unterscheidet sich die Tierrechtsbewegung von den nur auf den ersten Blick identischen oder ähnlichen Bewegungen um Tierschutz und Artenschutz. Denn die klassische Tierschutzbewegung will die Ausbeutung anderer Tiere nicht grundsätzlich beenden, sondern reglementieren: So sollen „humane“ Tötungsmethoden etabliert, Transportwege verkürzt und Haltungsbedingungen „artgerechter“ gestaltet werden. Die Artenschutzbewegung will die Artenvielfalt erhalten und setzt den Fokus daher auf bedrohte Spezies – nicht etwa auf das Wohl aller Arten oder der ihnen angehörigen Individuen. Die Forderungen der Artenschutzbewegung einerseits, der Tierrechtsbewegung andererseits können sogar im direkten Gegensatz zueinander stehen. Während jene einwandernde Tierarten aus Gründen des Artenschutzes unter Umständen bekämpft, geht es dieser um Grundrechte für jedes einzelne tierliche Individuum.
Aus dem reformistischen Tierschutz hat sich die radikale Tierbefreiung entwickelt
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Großbritannien und auch in Deutschland eine Tierschutzbewegung, innerhalb derer auch radikale, auf die Beendigung jeglicher Tierausbeutung gerichtete Positionen vertreten wurden. Die heutige, teilweise als zweite Welle bezeichnete Tierrechtsbewegung entwickelte sich ab den 1970er Jahren und gehört damit zu den sogenannten neuen sozialen Bewegungen, die mit und nach der Studierendenbewegung entstanden sind. Ihre Anfänge sind in zwei parallel verlaufenden, voneinander zunächst unabhängigen Entwicklungen zu suchen. Zum einen brachten einzelne Autoren das Thema Tierrechte in philosophische Debatten ein. Zum anderen wurde 1976 in Großbritannien die inzwischen internationale Untergrund-Tierrechtsbewegung Animal Liberation Front (ALF) gegründet. Zellen der ALF begannen mit der Befreiung gefangener Tiere sowie mit der Sabotage von Einrichtungen und Werkzeugen zur Tierausbeutung. Beide Entwicklungen lösten in vielen Ländern eine Radikalisierung des klassischen Tierschutzes aus, was sowohl Forderungen (Grundrechte für Tiere statt Reglementierung von Tierausbeutung) als auch Aktionsformen (mehr Akzeptanz für Gesetzesüberschreitungen) anbelangt. Gleichzeitig fand auch in der radikalen Linken und angrenzenden Bewegungen ein Wandel statt: Teile der Aktiven schlossen in ihre Forderungen für ausgebeutete Menschengruppen auch andere Tiere ein.
In Deutschland formte sich die Bewegung zu Beginn der 1980er Jahre. 1981 kam es im Rahmen einer Rechercheaktion in einem Tierversuchslabor zur ersten dokumentierten Tierbefreiung. Im Verlauf der 1980er und bis zu Beginn der 1990er erwuchs aus diesen Anfängen die heutige Tierrechtsbewegung, für die Veganismus zum Grundkonsens gehört und die sich für die Überwindung jeglicher Form von Tierausbeutung einsetzt. In den folgenden Jahrzehnten differenzierte sich die Bewegung aus. Neben Tierbefreiungszellen kamen legal arbeitende, auf Protestformen wie Demos und zivilen Ungehorsam oder auf Öffentlichkeits- und Aufklärungsarbeit ausgerichtete, lokale Gruppen und bundesweite Organisationen auf. Es bildeten sich Medien, Vernetzungsmöglichkeiten, neue Strategien und Methoden sowie ausdifferenzierte Tierrechtstheorien heraus. Vor allem methodisch bediente sich die Tierrechtsbewegung aus dem Fundus der anderen neuen sozialen Bewegungen: Unterschiedliche Formen der Kampagnenführung, der Aufklärungsarbeit, der Medien- und Öffentlichkeitsarbeit sowie Demonstrationen, ziviler Ungehorsam und direkte Aktionen sind Beispiele dafür.
Heute besteht die Tierrechtsbewegung in Deutschland aus vielen lokal oder regional tätigen Gruppen, Initiativen und Vereinen sowie aus bundesweit agierenden Netzwerken und Organisationen. Diese unterscheiden sich in ihrer Weltanschauung – etwa der Haltung zum Kapitalismus, den verwendeten Protestmitteln und inhaltlichen Schwerpunktsetzungen sowie hinsichtlich der Milieus der Aktiven und Zielgruppen. Da die verschiedenen Zusammenschlüsse relativ gut miteinander vernetzt sind, kann die Tierrechtsbewegung als eine Graswurzelbewegung bezeichnet werden. Neben dem Internet als immer wichtiger werdende politische Diskussionsplattform bieten das Tierrechtsmagazin TIERBEFREIUNG sowie Tagungen und Kongresse – von wechselnden Organisationsgruppen von der Basis her vorbereitet – Vernetzungsmöglichkeiten. Vernetzung findet auch im Rahmen diverser Kampagnen der Bewegung statt, die in der Regel von gruppenübergreifenden Teams organisiert werden und an denen ein Großteil der lokalen Gruppen beteiligt ist.
Die Theoriearbeit wurde inzwischen teilweise in das akademische Forschungsfeld Human-Animal Studies ausgelagert, das in den letzten fünf Jahren auch im deutschsprachigen Raum an Bedeutung gewonnen hat. In diesem Feld wird die soziale, kulturelle und historische Dimension der Verhältnisse zwischen Menschen und anderen Tieren untersucht.
Es ist feststellen, dass die Bewegung im Wandel begriffen ist. Waren in den ersten Jahrzehnten vor allem direkte Aktionen wie Befreiungen und Sabotagen sowie ziviler Ungehorsam wie etwa Jagdstörungen und Blockaden die wichtigsten Mittel der Bewegung, sind diese Aktionsformen heute fast verschwunden. Dafür ist die Bewegung im Rahmen von Kampagnenarbeit multimedialer geworden, mobilisiert für Telefonaktionstage auch Menschen außerhalb der Bewegung, erstellt bessere Aufklärungsmedien und macht professionellere Öffentlichkeitsarbeit. Die Gründe für diesen Wandel wurden bislang noch nicht untersucht.
Gemeinsam gegen die Ausbeutung von Mensch, Natur und Tier! Degrowth und die Tierrechtsbewegung teilen einige Ziele und Politikformen
Die Forderung nach Tierrechten ist eine Konsequenz aus der Forderung nach Menschenrechten. Davon zeugt etwa die Parole „Animal liberation, human rights – one struggle, one fight!“ Entstehungsgeschichtlich lässt sich dies unter anderem dadurch erklären, dass viele der ersten Tierrechtler_innen auch in anderen sozialen Bewegungen aktiv waren. Schon in der ersten Welle der Tierrechtsbewegung Ende des 19. Jahrhunderts waren viele Personen aktiv, die sich auch für eine sozialistische Wirtschaftsweise, für Frauenrechte oder Pazifismus engagierten. Auch in der zweiten Welle engagieren sich viele Aktive für die Belange von Frauen, Queers, Migrant_innen, Geflüchteten, für die Umwelt oder für eine bessere Alternative zum Kapitalismus. Auch auf der theoretischen Ebene wurden und werden die Emanzipation von Menschen und die Befreiung anderer Tiere miteinander verbunden. Anknüpfend an die Gleichheitsversprechen der bürgerlichen Revolutionen wird die Forderung erhoben, diese Versprechen auch auf andere Tierarten zu beziehen. Wurde etwa in der Französischen Revolution die Gleichheit der Menschen propagiert, ist es heute die Gleichheit der empfindungsfähigen Lebewesen. Das Zusammendenken und die Ablehnung sämtlicher Formen der Herrschaft, von Naturzerstörung über Tierausbeutung bis hin zu Formen zwischenmenschlicher Herrschaft, schlugen sich in der Tierrechtsbewegung der 1990er Jahre in dem Konzept „Unity of Oppression“ (Einheit der Unterdrückung) und heute in der Zielperspektive „Total Liberation“ (vollkommene Befreiung) nieder.
Gemeinsamkeiten zwischen der Tierrechts- und der Degrowth-Bewegung lassen sich sowohl auf theoretischer als auch auf realpolitischer Ebene finden. Im Folgenden werden Überschneidungen bei den Themenbereichen Mensch/Natur-Verhältnis, Herrschafts- und Kapitalismuskritik, Lebensstile und hinsichtlich der Forderungen an die Politik dargestellt.

Mensch/Natur/Tier-Verhältnisse


Auf philosophischer Ebene schreiben viele Vordenker_innen der Degrowth-Idee der Natur einen inhärenten Wert zu, der unabhängig von ihrem Nutzen für die Menschheit gilt. Dieser Gedanke ist unter anderem dem indigenen Ansatz Buen Vivir aus Südamerika entlehnt und bildet die Grundlage für die Idee und Forderung „Rechte der Natur“. Die Menschheit wird dabei als Teil der Natur betrachtet. Äquivalent dazu versteht der Tierrechtsansatz Menschen als Teil der Tierwelt, deren Individuen einen inhärenten Wert und daher Rechte besitzen. Im Unterschied zum Konzept „Rechte der Natur“ geht es hier jedoch um die individuellen Grundrechte jedes einzelnen (menschlichen wie nichtmenschlichen) Tiers auf Leben, Unversehrtheit und Freiheit von Gefangenschaft. Die beiden Ansätze stehen in keinem Widerspruch zueinander, sondern ergänzen sich gegenseitig.

Herrschafts- und Kapitalismuskritik


Eine theoretische Gemeinsamkeit zwischen den jeweils radikaleren Strömungen der Tierrechts- und der Degrowth-Bewegung sind ihre herrschafts- und kapitalismuskritischen Ansätze. Bei beiden ist die individuelle und kollektive Praxis der Ausgangspunkt für gesamtgesellschaftliche Veränderungen, die somit von unten eingeleitet statt von oben bestimmt werden.
Der Tierbefreiungsgedanke hat zum Ziel, jegliche Formen von Herrschaft und Unterdrückung abzuschaffen – sowohl zwischen Menschen als auch durch Menschen gegenüber nichtmenschlichen Tieren. Hingegen zielt der Degrowth-Diskurs weniger auf Zwischenmenschliches als auf die institutionelle Ebene ab und fordert eine direkte/partizipatorische Demokratie.

Lebensstile reflektieren


Auf der praktischen Ebene ist beiden Bewegungen die Bereitschaft gemeinsam, grundlegend etwas am eigenen Lebensstil und am eigenen Weltbild zu ändern: Degrowth-Aktive sind bereit, ein suffizienteres Leben zu führen, das heißt, sich auf das tatsächlich Notwendige zu beschränken, um nicht unnötig Ressourcen zu verschwenden. Ebenso stellen überzeugte Tierrechtsaktive ihre gesamte Lebensweise auf vegan um, damit ihretwegen keine Tiere mehr leiden müssen. Teile beider Bewegungen gehen davon aus, dass die individuelle Konsumverweigerung als solche bereits ein politisches Zeichen setzt und Breitenwirksamkeit entfalten kann.

Forderung nach politischen Weichenstellungen


Auch auf realpolitischer Ebene lassen sich mehrere gemeinsame Anliegen herausarbeiten. Beide Bewegungen wünschen sich, dass die von ihnen propagierte Lebensweise einfacher und dadurch von mehr Menschen im Alltag umsetzbar wird. Im Degrowth-Diskurs wird daher Suffizienzpolitik gefordert: Die politischen Rahmenbedingungen sollen derart gestaltet werden, dass ein suffizienteres Leben möglich wird – beispielsweise indem gut ausgebaute Radwegenetze den Umstieg vom Auto auf das Fahrrad erleichtern. Die Tierrechtsbewegung möchte, dass eine vegane Lebensweise für alle Menschen möglich wird, egal, ob sie in der Vegan-Hauptstadt Leipzig oder in einem bayrischen Dorf leben und unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten. Auch dafür müssten auf politischer Ebene die Weichen gestellt werden – beispielsweise indem vegane statt tierische Lebensmittel subventioniert und Letztere stärker besteuert werden. Zudem braucht es ein zuverlässiges Etikettierungssystem, anhand dessen gewillte Konsument_innen vegane Produkte auch im normalen Supermarkt erkennen können.
Nicht nur die politischen Ansätze der beiden Bewegungen überschneiden sich, sondern auch deren konkrete Inhalte, beispielsweise in den Bereichen Klimawandel und Ressourcennutzung.
In den Bereichen Klimaschutz, Ressourcenschonung und globale Gerechtigkeit sollte sich die Degrowth-Bewegung dem Tierrechtsansatz öffnen

Klimawandel und „Nutztiere“


Insbesondere das Themenfeld der Agrarpolitik hat viel Kooperationspotential. Die Herstellung tierischer Produkte trägt in gravierendem Maße zum Klimawandel bei: Laut Berechnungen des World Wide Fund For Nature (WWF) und von Worldwatch aus dem Jahr 2009 entstehen über die Hälfte der gesamten Treibhausgasemissionen weltweit durch die „Nutztier“-Haltung (vgl. BUND 2013: 31; Worldwatch 2009: 11). Insbesondere die Produktion von Milch und Kuhfleisch ist aus klimapolitischer Sicht fatal, da Kühe durch Ausstoßen von Methangas enorm zur Erderwärmung beitragen. Bio macht da auch keinen großen Unterschied.
Beispielsweise ist laut Berechnungen des Vereins Öko-Institut aus dem Jahr 2007 ein Kilo Biorindfleisch neunzigmal klimaschädlicher als ein Kilo konventionelles Gemüse (vgl. Fritsche/Eberle 2007: 5)! Um klimapolitische Ziele im Sinne des Degrowth-Ansatzes zu erreichen, müsste demnach die Produktion von tierischen Produkten größtenteils eingestellt werden. Damit wäre zwar das Ziel der Tierrechtsbewegung, die Tierausbeutung komplett zu beenden, noch nicht erreicht. Dennoch würde eine stark verringerte Tierproduktion weniger Tierleid bedeuten. Hier könnten die beiden Bewegungen also zumindest einen Teil der Wegstrecke gemeinsam zurücklegen.

Ressourcenschonung und vegane Ernährung


Regionalisierung der Produktion ist ein zentrales Bestreben der Degrowth-Bewegung. Oft wird ein vermeintlicher Konflikt zwischen Regionalisierung und veganer Ernährungsweise inklusive Sojaimport aus Lateinamerika ausgemacht. Bei genauerem Hinsehen existiert dieser Widerspruch jedoch nicht. Erstens sind regionale Tierprodukte nur so lange regional, wie auch das Tierfutter zur Gänze regional hergestellt wird. In der Realität ist das selten der Fall, da das Kraftfutter in Form von Soja größtenteils aus Übersee importiert wird. Zweitens stammt das für vegane Produkte verwendete Soja entgegen der allgemeinen Annahme überwiegend aus dem europäischen Raum. (Zudem ist eine vegane Ernährung nicht auf Sojaprodukte angewiesen.)
Drittens ist der Gemüse- und Getreideanbau weitaus weniger flächenintensiv als die Tierhaltung: Für die Produktion einer Kilokalorie in Form von Rindfleisch müssen zuvor zwanzig Kilokalorien aus Kraftfutter (oder vierzig aus Grünfutter) an das Rind verfüttert werden (vgl. Sezgin 2015: 27). Schließlich benötigen die Tiere nicht nur Platz zum Leben, sondern auch ihr Futter muss angebaut werden. Diese Flächen können dann nicht für den Anbau von Nahrungsmitteln für Menschen genutzt werden. Wenn wir uns in Deutschland ausschließlich von regionalen Produkten ernähren wollten, könnten wir uns tierische Lebensmittel schon deshalb nicht leisten, weil wir nicht ausreichend Ackerflächen haben, um das Tierfutter herzustellen. Auch aus Welternährungsperspektive macht es Sinn, die knappen fruchtbaren Böden auf direktem Wege für den Anbau menschlicher Nahrungsmittel zu nutzen. Zu guter Letzt werden sowohl die Böden als auch das Wasser durch die „Nutztier“-Haltung verseucht und langfristig unbrauchbar. Eine nachhaltige regionale Produktion beziehungsweise eine suffiziente Lebensweise sollte auch deshalb ohne tierische Produkte auskommen.

Globale Gerechtigkeit


Auch Aspekte globaler Gerechtigkeit spielen eine Rolle: Um in Europa eine Überproduktion an billigen Tierprodukten zu ermöglichen, wird Tierfutter in Form von Soja zu einem Großteil in Südamerika angebaut. Dafür werden dort Kleinbäuer_innen sowie Indigene gewaltsam von ihrem Land vertrieben, mit Glyphosat vergiftet und die letzten Regenwälder abgeholzt. Die Gewinne aus dem Sojaanbau kommen primär Großgrundbesitzern und Agrarkonzernen zugute. Diese industriellen Monokulturen schaffen kaum Arbeitsplätze, da die Produktion stark automatisiert ist. In der Folge sammeln sich ehemalige Kleinbäuer_innen arbeitslos in den Slums der Großstädte. Wenn globale Gerechtigkeit ein ernsthaftes Anliegen der Degrowth-Bewegung ist, wäre es daher angebracht, zumindest eine drastische Schrumpfung der Produktion tierischer Erzeugnisse in Europa zu fordern.

Von Degrowth lernen


Andersherum kann sich die Tierrechtsbewegung von der Degrowth-Bewegung inspirieren lassen: beispielsweise davon, wie man Gruppen mit verschiedenen Hintergründen, Motivationen, Anliegen und Praktiken unter dem Dach einer gemeinsamen Bewegung vereinen kann. Von der umfassenden Wirtschaftskritik des Degrowth-Diskurses könnte die Tierrechtsbewegung zudem lernen, neue, gesamtgesellschaftliche Alternativen zu entwickeln. An die Stelle altbackener und oft inhaltsleerer Antikapitalismus-Slogans könnten Konzepte treten, die neue Zielgruppen ansprechen. Ein Austausch könnte also für beide Bewegungen fruchtbar sein.
Eine gemeinsame Bewegung ist möglich, wenn auch die Bedürfnisse von Tieren berücksichtigt werden
Viele Tierrechtsaktive sind auch in anderen sozialen Bewegungen aktiv und setzen sich beispielsweise ebenso für Geflüchtete oder generell für Menschenrechte ein. Dennoch wird ihnen immer wieder vorgeworfen, sie würden sich ausschließlich um Tiere kümmern, während so viele Menschen leiden müssen ... Dass es viele Überschneidungen zwischen dem Wohl von Mensch, Natur und Tier gibt, wurde anhand der Themenfelder Mensch/Natur-Verhältnis, Herrschafts- und Kapitalismuskritik, Suffizienzpolitik, Klimawandel, Ressourcennutzung und globale Gerechtigkeit beispielhaft dargelegt.
Gegenseitiger Respekt für die Anliegen anderer Aktiver ist die Basis für eine gemeinsame Bewegung. Wenn Tierrechtler_innen sich auch weiterhin in anderen sozialen Bewegungen einbringen sollen, muss daher zumindest auf deren vegane Lebensweise Rücksicht genommen werden, wenn gemeinsame Veranstaltungen stattfinden. Diesbezüglich hat sich in den vergangenen Jahren bereits viel getan. So gab es beispielsweise auf der Degrowth-Konferenz 2014 in Leipzig zu jeder Mahlzeit veganes Essen für alle.
Andersherum sollten auch Tierrechtler_innen toleranter gegenüber anderen Schwerpunktsetzungen werden. Schließlich gibt es viele wichtige Themen und vieles läuft falsch in dieser Welt. Jede_r muss für sich eigene Prioritäten setzen. Gesellschaftliche Phänomene wie etwa Speziesismus, Rassismus, Antisemitismus und Sexismus sind tief in unserer Kultur verankert. Auch ein konsequent ökologischer Lebensstil ist in unserer Gesellschaft schwer umsetzbar. Den wenigstens von uns gelingt es, in allen Bereichen gleichermaßen reflektiert zu sein und konsequent zu handeln. Wem gelingt es schon, nie zu fliegen oder Auto zu fahren, anderen Geschlechtern und Menschen anderer Kulturkreise konsequent vorurteilsfrei zu begegnen und nie Produkte aus ausbeuterischer Herstellung zu konsumieren? Die Tierrechtsbewegung sollte daher solidarisch auf andere Bewegungen zugehen und den Austausch befördern. Sonst wird sie in ihrer Nische verbleiben, und nichtmenschliche Tiere werden sich nie ihres Objekt-Status entledigen können.
Doch was auch immer es sein mag, wofür es sich nach eigenem Dafürhalten zu kämpfen lohnt: Wenn es eine gemeinsame emanzipatorische Bewegung geben soll, dürfen vor den Belangen der nichtmenschlichen Tiere nicht die Augen verschlossen werden. Schließlich haben sie sehr ähnliche Bedürfnisse wie Menschen! Auch wenn Tierrechte nicht das zentrale Thema von Degrowth sind, so ergeben sich bei allen Unterschieden einige zentrale thematische Überschneidungen, die ein gewisses Kooperationspotential bieten. Darüber hinaus sollten sich beide Bewegungen solidarisch aufeinander beziehen.

Links


> Animal Equality Germany e.V.
> Animal Rights Watch e.V.
> Die tierbefreier e.V.
> Tierrechtsbewegung - allgemeine Bewegungsinformationen
> Tierrechtstermine - gemeinsamer Bewegungsterminkalender

Verwendete und weiterführende Literatur


BUND/HBS/Le Monde Diplomatique 2013. Fleischatlas 2013. Zugriff: 22.06.2016. <http://www.bund.net/fileadmin/bundnet/publikationen/landwirtschaft/140328_bund_landwirtschaft_fleischatlas_2013.pdf>
Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) 2012. Mensch und Tier (Aus Politik und Zeitgeschichte 8-9/2012). <www.bpb.de/system/files/pdf/IJX3TP.pdf?hc_location=ufi>
Donaldson, Sue; Kymlicka, Will 2013. ZOOPOLIS – Eine politische Theorie der Tierrechte. Berlin: Suhrkamp.
Franzinelli, Emil; Gamerschlag, Andre (Hrsg.) 2014. Tierbefreiung. Beiträge zu Profil, Strategie und Methoden der Tierrechtsbewegung . Münster: Compassion Media.
Fritsche, Uwe R.; Eberle, Ulrike 2007. Treibhausgasemissionen durch Erzeugung und Verarbeitung von Lebensmitteln (Arbeitspapier, Öko-Institut e. V.). Zugriff: 21.06.2016. <http://www.oeko.de/oekodoc/328/2007-011-de.pdf>
Goodland, Robert; Anhang, Jeff 2009. Livestock and Climate Change. Zugriff: 21.06.2016. <http://www.worldwatch.org/files/pdf/Livestock%20and%20Climate%20Change.pdf>
Petrus, Klaus 2013. Tierrechtsbewegung – Geschichte, Theorie, Aktivismus. Münster: Unrast.
Rude, Matthias 2013. Die Befreiung von Mensch und Tier in der Tierrechtsbewegung und der Linken. Stuttgart: Schmetterling.
Sezgin, Hilal 2014. Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen. München: C.H.Beck.
Sezgin, Hilal 2015. Tiere nutzen. In: Atlas der Globalisierung 2015. Le Monde Diplomatique/Kolleg Postwachstumsgesellschaften. 22-27. <http://monde-diplomatique.de/atlas2015>

00 Degrowth in Bewegung(en)

01 Einleitung

02 15M – from an autonomous perspective

03 Anti-Kohle-Bewegung

04 Artivism

05 Attac

06 Buen Vivir

07 Care Revolution

08 Commons-Bewegung

09 Degrowth

10 Demonetarisierung

11 Ernährungssouveränität

12 Flucht- und migrationspolitische Bewegung

13 Freie-Software-Bewegung

14 FUTURZWEI

15 Gemeinwohl-Ökonomie

16 Gewerkschaften

17 Grundeinkommensbewegung

18 Jugendumweltbewegung

19 Klimagerechtigkeit

20 Offene Werkstätten

21 Ökodorf-Bewegung

22 Peoples Global Action

23 Plurale Ökonomik

24 Post-Development

25 Post-Extraktivismus

26 Queer-Feministische Ökonomiekritik

27 Radical ecological democracy

28 Recht auf Stadt

29 Solidarische Ökonomie

30 Tierrechtsbewegung

31 Transition-Initiativen

32 Umweltbewegung

33 Urban-Gardening-Bewegung

34 Abschlusskapitel