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Klimagerechtigkeit

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Title: Globaler Widerstand gegen den fossilen Kapitalismus

By: Tadzio Müller

Release date: 26.07.2016

Download: DIB_Klimagerechtigkeit_02.pdf


Tadzio Müller, Jahrgang 1976, ist seit einem Jahrzehnt in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv,
war davor globalisierungskritisch unterwegs und beschäftigt sich als Aktivist vor allem mit dem Organisieren massenhaften zivilen Ungehorsams, zum Beispiel bei den erfolgreichen Ende-Gelände-Protestaktionen. Er arbeitet als Referent für Klimagerechtigkeit und Energiedemokratie bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Wir sitzen nicht alle im selben Boot: die Klimakrise als Gerechtigkeitskrise
Worum geht es beim Klimawandel? – Vor allem und zuerst um Gerechtigkeit! Denn das beste Symbol für diesen Prozess ist eben nicht der traurige Eisbär, sondern das 2005 vom Wirbelsturm Katrina teilweise zerstörte New Orleans. Dort gelang es der mehrheitlich wohlhabenden weißen Bevölkerung, sich vor den Fluten und dem darauf folgenden Chaos in Sicherheit zu bringen, weil sie – wieder: mehrheitlich – über Privatautos verfügten, mit denen sie die Stadt verlassen konnte. Die mehrheitlich arme Schwarze Bevölkerung blieb zum Großteil zurück und wurde über mehrere Wochen einem ebenso inkompetenten wie repressiven Katastrophenmanagement der Regierung ausgesetzt. Im Gedächtnis bleiben Bilder von Afroamerikaner_innen, die auf Dächern stehend den Helikoptern über der Stadt signalisieren, sie bräuchten Hilfe – und doch sträflich ignoriert werden.
Wir denken oft, wir säßen alle im berühmten „selben Boot“. Das ist leider falsch. Wenn wir alle im selben Boot – sagen wir mal, dem (Raum-)Schiff Erde – sitzen, dann gibt es doch auf diesem Schiff mehrere Klassen, und im Fall einer Havarie werden die unteren Decks zuerst geflutet, und wie auf der Titanic gibt es Rettungsboote vor allem für die, die sie sich leisten können. Ein weiteres Beispiel sind die steigenden Meeresspiegel: die steigen für alle, aber in Bangladesch saufen die Leute ab, während in Holland schwimmende Städte gebaut werden – mit den Ressourcen, die in Holland angehäuft wurden, während der globale Umweltraum entspannt als Müllkippe gebraucht wurde.
Zusammengefasst: Am Klimawandel leiden diejenigen, die am wenigsten dazu beigetragen haben, im Schnitt am meisten; und diejenigen, die am meisten dazu beigetragen haben, leiden im Schnitt am wenigsten darunter. Letztere haben nämlich zumeist ausreichende Ressourcen, um sich vor den Folgen des Klimachaos zu schützen. Diese Ressourcen, diesen Reichtum haben sie genau durch jene Aktivitäten angehäuft, die den Klimawandel vorangetrieben haben. Dieses zentrale Faktum, das übrigens für fast alle sogenannten „Umweltkrisen“ gilt, lässt sich vielleicht am besten als Klimaungerechtigkeit bezeichnen. Deswegen greift der Ruf nach bloßem Klimaschutz viel zu kurz. Was wir brauchen ist Klimagerechtigkeit.
Von der Umwelt- zur Klimagerechtigkeitsbewegung
Um den Anspruch und die Forderungen der Klimagerechtigkeitsbewegung zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte sozialer Kämpfe, genauer, der Entstehung der Umweltbewegung in den USA in den 1960er Jahren, die zuerst und vor allem eine Bewegung der weißen Mittelklasse für die weiße Mittelklasse war. Sie entstand in relativ privilegierten „weißen“ Stadtvierteln und Städten und kämpfte dafür, ihre Gemeinden frei von Luftverschmutzung zu halten und ihre Kinder nicht von Chemiebetrieben und Kraftwerken vergiften zu lassen. So nachvollziehbar diese Forderung auch war, sie hatte einen bedauernswerten Effekt: Anstatt solche Betriebe zu schließen und rückzubauen, wurden sie einfach verlegt – aus den reicheren Gemeinden in die ärmeren, in denen zumeist Afroamerikaner_innen, Hispanics, Native Americans und andere marginalisierte Gruppen lebten. Die Kämpfe der liberalen Umweltbewegung führten also mitnichten dazu, dass die von ihr monierten Probleme gelöst wurden – stattdessen wurden sie einfach auf der Leiter der sozialen Macht ein paar Stufen nach unten verlagert.

Widerstand gegen Umwelt- und Klimarassismus


Die Communities of Color, denen nun plötzlich eine ganze Reihe dreckiger Industrien aufgedrückt wurden, waren nicht einfach nur passive Opfer. Stattdessen organisierten sie sich, warfen der Umweltbewegung „Umweltrassismus“ (environmental racism) vor, und konstituierten sich selber als Bewegung für Umweltgerechtigkeit. Analytisch klingt das dann so: Wenn scheinbare Umweltprobleme nicht als soziale Probleme gesehen werden, wenn das Bewusstsein darüber fehlt, wie eine einzelne dreckige Fabrik in breitere soziale Strukturen von Herrschaft und Ausbeutung eingebettet ist, wird nicht nur deren Lösung unmöglich gemacht, bestehende soziale Ungleichheiten werden darüber hinaus noch vertieft.
Als die Debatte um den Klimawandel in den 1980er Jahren an Fahrt gewann, entwickelte sich eine Vorstellung von dem Problem als ein vor allem technisches: die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre galt es durch bestimmte Mechanismen zu reduzieren und zu beheben. Dies wiederum erleichterte in den 1990er Jahren die Entwicklung der sogenannten Marktmechanismen zur Bekämpfung des Klimawandels. Denn diesen liegt – ohne an dieser Stelle die gesamte kritische Debatte zu diesen beeindruckend ineffektiven umweltpolitischen Werkzeugen aufzumachen (Altvater/Brunnengräber 2007; Moreno/Speich Chassé/Fuhr 2015) – eine technische Logik zugrunde, die nicht auf gesellschaftliche Strukturen schaut: Weil jedes CO2-Partikel jedem anderen gleich ist, ist es egal, wer wo und unter welchen Bedingungen CO2 einspart.
Ökonomisch gesprochen ist es tatsächlich am besten, wenn dort eingespart wird, wo es am billigsten ist, und das geht am leichtesten im globalen Süden, wo alles im Schnitt billiger ist. Wir könnten dann zum Beispiel Entwicklungshilfeorganisationen Geld geben, die Wälder vor der Abholzung bewahren wollen, um so das Klima zu schützen, während wir hier im globalen Norden dafür weiter fossile Brennstoffe verfeuern können. Diese Idee hat jedoch einen großen Haken: In den Wäldern, die plötzlich vor exzessiver Rodung gerettet werden sollen, leben oft indigene Völker, die sich seit Jahrtausenden durch nachhaltige Waldnutzung hervorgetan haben. Und diesen drohte durch die Marktmechanismen, die während der 1990er Jahre im Rahmen des Kyoto-Protokolls verhandelt wurden, die baldige Vertreibung von ihren angestammten Ländereien, sogenanntes Greengrabbing (vgl. Heuwieser 2015). Im Rahmen dieser Verhandlungen wurde die Erzählung von der Umweltgerechtigkeit wieder aufgenommen: Gegen den „Klimarassismus“ der offiziellen Klimapolitik formulierte der US-amerikanische Indigenenaktivist und Gründer des Indigenous Environmental Network Tom Goldtooth, der selbst aus den Bewegungen für Umweltgerechtigkeit kommt, erstmalig die Forderung nach Klimagerechtigkeit. Damit hatte der Kampf begonnen, den Klimawandel als eine Frage der Menschenrechte und der Gerechtigkeit zu konstruieren.
Der nächste Schritt in der Entwicklung der Klimagerechtigkeitserzählung war die Veröffentlichung des Berichts „Treibhausgauner vs. Klimagerechtigkeit“ (Bruno u. a. 1999). Darin wurde der Fokus auf die fossilen Energiekonzerne gelegt; und anstelle individueller Lösungen (zum Beispiel ethischer Konsum) wurde auf eine große strukturelle Transformationen gesetzt; der Kampf um Klimagerechtigkeit wurde ganz explizit als ein globaler beschrieben. Der Bericht formulierte zudem den bis heute wichtigsten Orientierungsrahmen der Bewegung, nämlich die Kritik an den oben beschriebenen Marktmechanismen des Kyoto Protokolls als „falsche Lösungen“.

Eine globale Bewegung für Klimagerechtigkeit entsteht


Im Jahr 2002 treffen sich in Bali zum ersten Mal diejenigen Organisationen, die später zum Kern der Bewegung werden sollten, und artikulieren die „Bali Principles of Climate Justice“. 2004 kamen mehrere Gruppen und Netzwerke zusammen, die schon lange an einer Kritik an Marktmechanismen im Allgemeinen, und Emissionshandel im Besonderen arbeiteten, und gründeten im südafrikanischen Durban die Durban Group for Climate Justice. Zum endgültigen Durchbruch kam es dann auf der 13. Klimakonferenz in Bali im Jahr 2007. Der besagte Zusammenhang kritischer Organisationen provozierte einen offenen Konflikt mit dem politisch eher moderaten Climate Action Network, deren kuschelige Lobbystrategie sich inzwischen als ziemlicher Flop herausgestellt hatte. Aus dem Konflikt heraus entstand 2007 das Netzwerk Climate Justice Now!. In der Pressemitteilung, welche die Bildung dieses neuen Akteurs verkündete, wurde eine Reihe von Forderungen artikuliert, auf die sich die Klimagerechtigkeitsbewegung heute noch bezieht. Die Pressemitteilung, die später in eine Art Gründungsmanifest überführt werden sollte, forderte:

Um diese Ziele zu erreichen, bedient sich die Bewegung einer breiten Palette an Instrumenten, die vom Schreiben kluger Berichte und alltäglicher politischer Arbeit in besonders vom Klimawandel betroffenen Gemeinden über die ungehorsame Blockade von Kohlegruben bis hin zu den militanten Kämpfe der Ogoni im Niger-Delta reicht.
Zusammengefasst: Die Klimagerechtigkeitsbewegung ist eine Nachfahrin der Umweltgerechtigkeitsbewegung. Sie entstammt, wie diese, dem globalen Süden (siehe unten) und richtet den Blick weniger auf technische Veränderungen als auf gesellschaftliche Grundstrukturen. Ich würde folgenden Definitionsversuch wagen: Klimagerechtigkeit ist weniger ein Zustand – sprich die gerechte Verteilung der Kosten einer möglichen Lösung der Klimakrise – als ein Prozess: nämlich der Prozess des Kampfes gegen die gesellschaftlichen Strukturen, die Klimaungerechtigkeit verursachen.
Nimmt man diese breite Definition des Begriffes ernst, ist es sogar so, dass ein Großteil der Kämpfe für Klimagerechtigkeit gar nicht unbedingt unter der Fahne der Klimagerechtigkeit segelt, sondern vor allem Kämpfe um Land, Wasser und andere Grundbedürfnisse und für Menschenrechte darstellt.

USA: Indigene und Communities of Color als Trägerinnen des Widerstands


Die Geschichte der Klimagerechtigkeitsbewegung in den USA begründet auch ihre Vorstellung von der gesellschaftlichen Basis des Projekts. Angebliche „Umweltprobleme“ treffen (im Schnitt) die gesellschaftlich Schwächsten am härtesten. In den USA sind das üblicherweise Communities of Color, wobei wiederum Native American Communities meistens zu den am stärksten marginalisierten zählen. Diee in den USA und Kanada auch als First Nations bezeichneten Gruppen sehen sich als Teile globaler indigener Netzwerke, die am stärksten von Umweltkatastrophen betroffen sind, zudem (im Schnitt) an jenen Orten der Welt leben, an denen sich die höchste Biodiversität konzentriert, und deren sozial-ökologische Praxen – zum Beispiel Waldnutzung – eine hohe Nachhaltigkeit aufweisen. Von ihnen hängt möglicherweise unser aller Überleben ab, denn von ihnen zu lernen könnte bedeuten, wirkliche Nachhaltigkeit zu lernen. Und deshalb sind es eben – oft indigene – sogenannte „frontline communities“ (Gemeinden/Gruppen an der Frontline) oder „affected communities“ (betroffene Gemeinden/Gruppen), welche die zentralen Trägerinnen des Widerstands, das berühmte „revolutionäre Subjekt“ der Klimagerechtigkeitsbewegung sind.
Zu diesen „frontline communities“, die in den USA oft Communities of Color sind, gesellen sich dann die üblicherweise weißen und/oder anderweitig privilegierten „allies“ oder Verbündeten (vgl. Moore/Kahn-Russel 2010). Hier treffen wir dann diejenigen sozialen Milieus an, die wir hierzulande seit dem Entstehen der sogenannten neuen sozialen Bewegungen ab 1968 in Hinblick auf Aktivist_innen erwarten: jünger, mobiler, gebildeter und oft etwas „zeckiger“ als der gesellschaftliche Durchschnitt.

Der Blick auf Europa: Die Rolle der Verbündeten und Unterschiede zur Klimabewegung


Der europäische Flügel der Bewegung, der ohne die Tradition der Umweltgerechtigkeitskämpfe der USA auskommen muss und mit anderen gesellschaftlichen Strukturen zu tun hat, stellt sich noch einmal deutlich weißer und privilegierter dar als die Bewegung in den USA. Das ist in gewissem Maße durchaus folgerichtig: Im globalen Norden gibt es nun einmal weniger betroffene Gruppen oder „frontline communities“ – mit wenigen Ausnahmen wie den Dörfern, die in der Lausitz und im Rheinland immer noch dem Wahnsinn des Braunkohletagebaus zum Opfer fallen. Die meisten von uns agieren, global gesprochen, in der Rolle der Verbündeten.
In Europa unterscheidet sich die Klimagerechtigkeitsbewegung von der breiteren Klimabewegung vor allem durch zwei Elemente: erstens durch einen konzeptionellen Antikapitalismus, der sich in einer klaren Ablehnung jeglicher Spielarten des grünen Kapitalismus (green Economy; grüne Marktwirtschaft) ausdrückt (vgl. Müller/Kaufmann 2009); zweitens in einem Fokus auf die Taktik des (oft massenhaften) zivilen Ungehorsams und kontrollierten Regelbruchs im Gegensatz zu den eher legalistischen Taktiken der klassischen Umweltverbände. Beispiele für diese Art von Klimaaktivismus im globalen Norden sind die ungehorsamen Aktionen um die Klimagipfel in Kopenhagen (2009) und Paris (2015), aber vor allem die Besetzungen und Blockaden von Kohlekraftwerken und Kohlegruben, von Flughäfen und anderen Orten, an denen der Klimawandel produziert wird. Von den oben artikulierten zentralen Forderungen der Klimagerechtigkeitsbewegung ist eine zentral: „Leave it in the ground!“ – fossile Ressourcen müssen im Boden gelassen werden!
Klimagerechtigkeit und Degrowth: gemeinsam gegen das fossile Kapital!
Das Verhältnis zwischen der Bewegung für Klimagerechtigkeit und der 'Postwachstumsbewegung' – das sollte nach der Degrowth-Sommerschule 2015 beim Klimacamp im Rheinland niemanden überraschen – ist ein durchaus enges und gutes. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Sie haben einen gemeinsamen Gegner, nämlich das auf fossilen Brennstoffen basierende Energiesystem.
Vonseiten der Klimagerechtigkeitsbewegung ist das Argument ziemlich eindeutig: Der Klimawandel ist, wie oben erklärt, ein zutiefst ungerechtes Phänomen. Es gibt eine Reihe gesellschaftlicher Strukturen, die ihn verursachen, aber der zentrale Treiber des Klimawandels ist seit Beginn der industriellen Revolution ein auf fossilen Brennstoffen basierendes Energiesystem. Nachdem der COP21-Klimagipfel in Kopenhagen im Jahr 2009 der Klimabewegung und ihrem radikalen Klimagerechtigkeitsflügel zeigte, dass „von oben“ nicht viel gegen den Fossilismus zu erwarten ist, begannen diese Bewegungen, sich auf lokale und nationale Energiekämpfe zu konzentrieren (vgl. Müller 2012; Bullard/Müller 2011). Kämpfe für einen schnellen Kohleausstieg, gegen Fracking und den Ausbau von Gasinfrastrukturen und für den Ausbau von demokratisch kontrollierten, größtenteils dezentralisierten erneuerbaren Energien stellen heute den Kern der Klima(gerechtigkeits)bewegung dar.
Von der Degrowth-Seite her ist das Argument ein klein wenig komplizierter, dies aufgrund der „politischen Polyvalenz wachstumskritischer Denkmuster“ (Eversberg/Schmelzer 2016). Anders ausgedrückt gibt es im Postwachstumsspektrum eine ganze Reihe politischer Positionen, von denen einige mehr, andere weniger kapitalismuskritisch sind, manche die Umweltfrage mehr, manche weniger in den Blick nehmen. Jedoch beschreiben Eversberg und Schmelzer Degrowth als eine mehrheitlich „kapitalismuskritische Transformationsperspektive“, die sich von der Idee verabschiedet hat, dass nachhaltiges Wirtschaften im Rahmen einer kapitalistischen Ökonomie überhaupt möglich ist. Auch wenn es durchaus ökologieferne Gründe gibt, sich für die Postwachstumsfrage zu interessieren, so scheinen doch viele Menschen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, dies unter dem Eindruck der ständig eskalierenden sozial-ökologischen Krisen zu tun, mit denen wir in den letzten Jahren konfrontiert werden.
Und so kommen wir zu des Pudels Kern: Wenn es der Postwachstumsbewegung vor allem und zuerst um die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen geht, dann muss es ihr eben auch um den Kapitalismus gehen. Denn dieser hat einen eingebauten, mikroökonomischen Zwang zum dauerhaften Wachstum. Die Wachstumsdynamik kapitalistischer Produktion erklärt sich aber nicht aus den oft zitierten Messgrößen, etwa dem Bruttoinlandsprodukt, sondern aus dem mikroökonomischen Verhalten einzelner Unternehmen, die vom Marktzwang getrieben werden, heute Geld zu investieren, um morgen mehr Geld herauszubekommen – wer das nicht schafft, geht als Unternehmen unter. Wenn dies nicht bloße Spekulation ist, dann ergibt sich folgender Zusammenhang: Geld => Warenproduktion => Verkauf => mehr Geld, gefolgt von der Reinvestition zumindest eines Teils dieses Geldes. Oder in der Kurzfassung: G => W => G'-. Diese mikroökonomische Gleichung stellt die allgemeine Formel des Kapitals dar; sie drückt den Handlungszwang aus, in dem jede Unternehmerin jeden Tag steckt. Ökologisch betrachtet bedeutet dies, dass der zusätzliche Profit, der jeden Tag erwirtschaftet werden muss, irgendwoher, aus „der Natur“, kommen muss. Wenn jeden Tag mehr Arbeitskraft mithilfe von mehr Energie mehr Rohmaterialien in Waren verwandelt, dann bedeutet G => W => G'- auch einen stetigen Anstieg des globalen Ressourcenverbrauchs (vgl. Müller 2014). Dies ist das Wesen des Kapitalismus.
Und eben dieser Kapitalismus hätte sich nie so entwickelt, wäre vielleicht gar nicht entstanden, wenn er nicht im England des 18. Jahrhunderts eine quasi symbiotische Verbindung mit den fossilen Brennstoffen (damals der Kohle) eingegangen wäre (vgl. Malm 2016). Ich glaube zwar nicht, dass ein auf erneuerbaren Energien basierender Kapitalismus unmöglich wäre, aber der real existierende Kapitalismus heutiger Prägung, der schon mehrere „ökologische Grenzen“ überschritten hat, den hätte es ohne fossile Brennstoffe nie gegeben. Ob wir nun vom fossilen Kapital oder vom fossilistischen Kapitalismus sprechen: der Kapitalismus ist die Ursache des globalen Wachstumszwangs und sein Antriebsmotor sind die fossilen Brennstoffe – genau diejenigen fossilen Brennstoffe, die auch den Klimawandel vorantreiben.
Better together: die Schwächen der einen sind die Stärken der anderen
Die Klimagerechtigkeitsbewegung kann der Postwachstumsbewegung dementsprechend etwas an die Hand geben, das Letzterer gelegentlich fehlt: nämlich ein gemeinsames, antagonistisch strukturiertes Praxisfeld. Hier geht es gar nicht um die mittlerweile eher langweilige Frage, ob Postwachstum eine Bewegung ist – oder nicht, da sie keinen identifizierbaren Gegner hat. Ich akzeptiere das Argument von Eversberg und Schmelzer (2016), dass das Ziel der Postwachstumsbewegung eben nicht ein einzelner Sektor oder eine Institution oder ein uns äußerlicher Prozess ist, sondern die „imperiale Lebensweise“ als Ganzes, die uns im globalen Norden zumindest teilweise innerlich ist. Hier geht es nicht um einen akademisch zugeschriebenen Bewegungsstatus, von dem man sich ohnehin nichts kaufen kann – hier geht es um die Frage der Motivation der Teilnehmenden, der Notwendigkeit der Produktion von Konflikten, damit die Bewegung transformatorisches Potenzial jenseits von Feuilletondiskursen und nischenförmigen Alltagspraxen entfalten kann. Die Kampagne Ende Gelände, die 2015 über 1000 Menschen bei einer Aktion des massenhaften zivilen Ungehorsams, bei der friedlichen Besetzung eines Braunkohletagebaus, zusammenbrachte (und 2016 sogar 4000!), produzierte einen Konflikt, gewann ihn – und generierte so ein enormes Gefühl der kollektiven Ermächtigung (vgl. The Laboratory of Insurrectionary Imagination 2015). Es ist diese kollektive Ermächtigung, die eine Form der antagonistischen Identitätsbildung ermöglicht, ohne die eine große gesellschaftliche Transformation kaum möglich ist.
Im Gegenzug kann die Postwachstumsbewegung der Klimagerechtigkeitsbewegung etwas anbieten, was dieser fehlt: eine Erzählung, die in Teilen Europas und des globalen Nordens starken Anklang findet. Beweisstück 1: Die vierte Degrowth-Konferenz hat es geschafft, etwa 3000 Leute in Leipzig zu versammeln, während keine andere soziale Bewegung, die ich kenne, (selbst in Berlin) mehr als 2000 Leute zusammenbringen kann; ich wage zu behaupten, dass eine Konferenz zu Klimagerechtigkeit es schwer hätte, auch nur 1000 Teilnehmende anzuziehen. Sicher ist dieser Erfolg auch der unglaublich guten Arbeit der Organisator_innen zu verdanken. Er ist aber auch ein Indiz dafür, dass die Degrowth-Erzählung auch für andere als die auf Bewegungs-Events „üblichen Verdächtigen“ attraktiv ist. (Dieser Eindruck wird dadurch bestärkt, dass viele der Teilnehmenden noch nie zuvor auf einer sozialen Bewegungskonferenz waren.) Beweisstück 2: Die wichtige (wenn auch politisch recht irrelevante) parlamentarische Enquete-Kommission zum Thema „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ von 2011 bis 2013 zeigt, dass Wachstumskritik selbst konservative und liberale kulturelle Milieus „infiziert“ hat. Beweisstück 3 (aus meiner eigenen Erfahrung): Wenn ich versuche, meinen konservativen Großvater von der Klimagerechtigkeitserzählung zu überzeugen, davon, dass der Reichtum, den wir im globalen Norden angehäuft haben, in Wirklichkeit ein großer Schuldenberg ist, den wir dem globalen Süden zurückgeben sollten, ignoriert er mich normalerweise. Wenn ich ihm den vielleicht zentralen Punkt der Degrowth-Argumentation darlege, dass es nämlich kein unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten geben kann, ist er gezwungen zuzustimmen. Auf dieser Basis können wir dann eine kapitalismuskritische Konversation starten. In dieser Erzählung steht mein Großvater stellvertretend für viele Menschen im globalen Norden, die wenig mit „Klimagerechtigkeit“ am Hut haben, die aber das Unbehagen teilen, das die Degrowth-Bewegung zu formulieren in der Lage ist.
Strategie, Strategie, Strategie!
Die Klimagerechtigkeitsbewegung hat politisch im Mai 2016 einen neuen Höhepunkt erreicht. Bei der zweiten Runde von Ende Gelände, dieses Mal eingebettet in eine globale Kampagne namens Break Free from Fossil Fuels, in deren Rahmen auf fünf Kontinenten Aktionen gegen fossile Brennstoffe und für Energiedemokratie durchgeführt wurden, haben wir eine Reihe signifikanter Erfolge erzielt. Mit etwa 4000 Teilnehmenden bei einer ungehorsamen Klimaaktion mit hohem taktischem und strategischem Anspruch haben wir neue Maßstäbe gesetzt; die internationale Beteiligung bei der Aktion selbst und die internationale Koordinierung derselben im Rahmen der Break-Free-Kampagne erinnern an den Grad der Internationalisierung, der die globalisierungskritische Bewegung so inspirierend machte. Noch wichtiger jedoch ist die Tatsache, dass wir dieses Mal nicht in der Kohlegrube geblieben sind, sondern auf den taktischen und politischen Rückzug der Gegenseite aus der Grube (Vattenfall und das brandenburgische Innenministerium) reagiert haben, indem wir, unsere politische und moralische Stärke ausspielend, die Blockade auf die Schiene getragen haben. „Auf die Schiene“ meint dabei jene Bahnschienen, die in der Lausitz das Kohlekraftwerk Schwarze Pumpe mit der Braunkohle aus drei Tagebauen versorgen. Diese Schienenblockade war deshalb so wichtig, weil wir im globalen Norden den Planeten weniger durch Primärressourcenextraktion (wie das Abbaggern von Braunkohle), sondern durch den Ausbau unserer industriellen und Dienstleistungssektoren zerstören: Hier geht’s also vor allem um Kraftwerke, Fabriken und Serverfarmen, nicht um Gold- und Kohleminen.
Warum schreibe ich darüber, am Ende dieses Texts? Weil hier etwas passierte, was in den sozialen Bewegungen, die ich kenne, sehr selten passiert: Die eigene Stärke wird realistisch eingeschätzt, und es werden Taktiken und Strategien entwickelt, welche diese Stärke realistisch ins Verhältnis zum Ausmaß der Herausforderung setzen. Wenn ich also einen Wunsch an die beiden Bewegungen artikulieren könnte (eine etwas merkwürdige Aufgabe, zugegeben, weil mir beide Identitäten nicht fremd sind): Lasst uns strategisch planen, lasst uns klug handeln, nicht bloß expressiv. Denn wir sind wenige, mit knappen Ressourcen, und wir müssen enorme Effekte erzielen (Kapitalismus abschaffen, Klima retten etc. ...). Daher: Strategie, Strategie, Strategie. Ohne die ist alles Mist.

Links


> Ende Gelände
> Sozial-ökologischer Umbau bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung
> Beautiful Touble – A Toolbox for Revolution

Verwendete und weiterführende Literatur


Bruno, Kenny; Karliner, Joshua; Brotsky, China 1999. Greenhouse Gangsters vs. Climate Justice. San Francisco: Transnational Resource and Action Center. Zugriff: 11.07.2016. <http://www.corpwatch.org/article.php?id=1048>
Dietz, Kristina; Müller, Tadzio; Reuter, Norbert; Wichterich, Christa 2014. Mehr oder weniger? Wachstumskritik von links (Reihe: Materialien). Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung. <http://www.rosalux.de/publication/40728/>
Eggers, Dave 2011. Zeitoun. London: Penguin Books.
Elmar Altvater; Achim Brunnengräber (Hrsg.): Ablasshandel gegen Klimawandel? Hamburg: VSA.
Eversberg, Dennis; Schmelzer, Matthias 2016: Über die Selbstproblematisierung zur Kapitalismuskritik. Vier Thesen zur entstehenden Degrowth-Bewegung. Forschungsjournal Soziale Bewegungen 1/2016: 9-17. Zugriff: 11.07.2016. <http://forschungsjournal.de/node/2821>
Focus on the Global South . What’s missing in the climate talks? Justice! Zugriff: 11.07.2016. <http://focusweb.org/node/1301>
Heuwieser, Magdalena 2015. Grüner Kolonialismus in Honduras. Wien: Promedia-Verlag.
Kaufmann, Stefan; Müller, Tadzio 2009. Grüner Kapitalismus: Krise, Klima und kein Ende des Wachstums. Berlin: Karl Dietz.
Moreno, Camila; Speich Chassé, Daniel; Fuhr, Lili 2015. Carbon Metrics. Global abstractions and ecological epistemicide. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung. <https://www.boell.de/sites/default/files/2015-11-09_carbon_metrics.pdf>
Müller, Tadzio 2012: Von Energiekämpfen, Energiewenden und Energiedemokratie. LuXemburg 1/2012: 6-15. <http://www.zeitschrift-luxemburg.de/von-energiekampfen-energiewenden-und-energiedemokratie/>
Russell, Joshua Kahn; Moore, Hilary 2011: Organizing Cools the Planet: Tools and Reflections on Navigating the Climate Crisis. Oakland: PM Press.
The Laboratory of Insurrectionary Imagination 2015. Drawing A Line in the Sand: The Movement Victory at Ende Gelände Opens up the Road of Disobedience for Paris. Zugriff: 11.07.2016. <https://labofii.wordpress.com/2015/08/23/drawing-a-line-in-the-sand-the-movement-victory-at-ende-gelande-opens-up-the-road-of-disobedience-for-paris/>
Foto im Header: 2014 People's Climate March NYC, CC BY-NC-ND 2.0, Stephen Melkisethian

00 Degrowth in Bewegung(en)

01 Einleitung

02 15M – from an autonomous perspective

03 Anti-Kohle-Bewegung

04 Artivism

05 Attac

06 Buen Vivir

07 Care Revolution

08 Commons-Bewegung

09 Degrowth

10 Demonetarisierung

11 Ernährungssouveränität

12 Flucht- und migrationspolitische Bewegung

13 Freie-Software-Bewegung

14 FUTURZWEI

15 Gemeinwohl-Ökonomie

16 Gewerkschaften

17 Grundeinkommensbewegung

18 Jugendumweltbewegung

19 Klimagerechtigkeit

20 Offene Werkstätten

21 Ökodorf-Bewegung

22 Peoples Global Action

23 Plurale Ökonomik

24 Post-Development

25 Post-Extraktivismus

26 Queer-Feministische Ökonomiekritik

27 Radical ecological democracy

28 Recht auf Stadt

29 Solidarische Ökonomie

30 Tierrechtsbewegung

31 Transition-Initiativen

32 Umweltbewegung

33 Urban-Gardening-Bewegung

34 Abschlusskapitel