Der Text wurde verfasst von Dagmar Embshoff, Clarita Müller-Plantenberg und Giuliana Giorgi, alle aktiv beim Forum Solidarische Ökonomie e. V.
Dagmar ist Geografin, Initiatorin des Forums Solidarische Ökonomie, Mitgründerin des Netzwerks Solidarische Landwirtschaft und Autorin. Clarita ist emeritierte Professorin für Soziologie an der Universität Kassel, sie war von 1981 bis 2009 Leiterin des Fachgebietes Soziologie der Entwicklungsländer, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften. Sie ist Verfasserin mehrerer wissenschaftlicher Bücher.
1 Giuliana Giorgi, Politologin und Dolmetscherin, ist Mitglied des Forums Solidarische Ökonomie und des zugehörigen Regionalforums Berlin-Brandenburg.
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Als Gleichberechtigte zusammen arbeiten und wirtschaften, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen – nicht um den Profit zu maximieren
Die Kernidee der Solidarischen Ökonomie ist: Kooperation statt Konkurrenz und Sinn vor Gewinn.
Das bedeutet konkret:
- Selbstverwaltung, das heißt gemeinschaftlich-demokratische Entscheidungen und gemeinsames Eigentum/gemeinsamer Besitz;
- Kooperation nach innen und außen;
- Gemeinwohlorientierung;
- Inklusion von Minderheiten, Benachteiligten, Arbeitslosen, Flüchtlingen und Migrant*innen;
- keine Diskriminierung wegen Geschlecht, Behinderung, Religion, Aussehen etc.;
- Transparenz und Bildung, Prozessorientierung;
- im Bereich Ökologie Schutz der Ökosysteme und der Biodiversität als Grundlage der Existenz der Menschen in der jeweiligen Region (Pflege und Aufwertung des Territoriums2 );
- ein Konzept von Ökonomie als Subsystem der Ökologie, das heißt die Wirtschaft muss sich in natürliche Kreisläufe und Grenzen einfügen.
Ziel und Zweck des Wirtschaftens ist es, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Gesunde Nahrungsmittel, Wohnen, Mobilität, medizinische Versorgung, Information und Lernen, Kultur und Kunst, Geselligkeit, Freundschaft, Anerkennung, Konvivialität, Kontakt zur Natur und Erholung sind Bedürfnisse, die allen Menschen gemeinsam sind.
Gemäß neueren Forschungsergebnissen der Neurobiologie und langjährigen Erkenntnissen der Psychologie und Pädagogik entspricht die Kooperation dem Menschen stärker als die Konkurrenz. Metastudien zeigen, dass Kooperation zudem effizienter (und damit ökonomischer) ist als Konkurrenz und Einzelkämpfertum. Vor allem erhöht sie das Wohlbefinden (Stichwort „gutes Leben“) und die psychische Gesundheit (vgl. Bauer 2006; Kohn 1992). Im globalen Süden bedeutet Solidarische Ökonomie vor allem eine Abkehr von allen Formen des Neokolonialismus und der Ausbeutung, so wie sie von alten und neuen Industrienationen betrieben werden. Solidarische Ökonomie bedeutet auch, von jeder Form des kulturellen Imperialismus abzulassen. Alte Kolonialmächte und neue Konzerne müssen aufhören, auf der Suche nach Ressourcen Völker, die seit Jahrtausenden naturverbunden leben, von ihren angestammten Gebieten zu vertreiben und sie ihrer Existenzgrundlage zu berauben.
Als einen wichtigen Teil der Solidarischen Ökonomie betrachten wir die Emanzipation von der durch Agrarkonzerne beherrschten Lebensmittelindustrie und die Stärkung der bäuerlichen Landwirtschaft als Grundlage der Ernährungssouveränität. Zu diesem Zweck organisieren sich heute Stadtbewohner*innen in Gruppen, die mit Biobäuer*innen auf dem Lande verbindliche Kooperationen eingehen, zum Teil mitentscheiden, wie vielfältig angebaut werden soll und die Ernte im Voraus finanzieren. Dies wird in englischsprachigen Ländern CSA (community supported/shared agriculture) genannt, in Frankreich AMAP, in Italien GAS, in Japan TEIKEI, in Deutschland Solidarische Landwirtschaft.
Die Entstehung der Solidarischen Ökonomie in Lateinamerika
Luiz Razeto (Chile) brachte in den 1980ern die Begriffe Ökonomie und Solidarität erstmals zusammen. Die in Lateinamerika besonders lebendige theoretische Debatte über Solidarische Ökonomie speist sich aus der Praxis der Inklusion: sowohl aus der Gründung von Gemeinschaftsunternehmen durch Arbeitslose oder prekär Beschäftigte als auch aus der Praxis der Belegschaftsübernahme insolventer Unternehmen. Somit geht es bei der Solidarischen Ökonomie in erster Linie um die Beschäftigung mit Formen alternativen Wirtschaftens, die es schon gibt und die vor allem in Brasilien systematisch unterstützt werden durch Begleitung auf Augenhöhe, Vernetzung und Förderung unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteur*innen. In der Regel sind es die sozialen Bewegungen, aus denen heraus der praktische Aufbau solidarischer Wirtschaftsunternehmen geschieht.
Es ist von strategischer Bedeutung, Öffentlichkeit für die solidarischen Gemeinschaften und Wirtschaftsunternehmen zu schaffen, gerade weil sie nicht im Fokus der Aufmerksamkeit der Massenmedien stehen. Ein sinnvoller nächster Schritt nach der Inklusion (von Minderheiten, Flüchtlingen, Arbeitslosen, prekär Beschäftigten und Belegschaften insolventer Unternehmen) ist daher die Kartierung Solidarischer Wirtschaftsunternehmen (SWU). Sie ist ein wichtiges Instrument, um Alternativen zu stärken. Mit deren Hilfe sollen Alternativen, solidarische Wirtschaftsunternehmen und Menschen auf der Suche nach diesen aufeinander aufmerksam werden, wodurch Kooperationen entstehen können.
Euclides Mance, Theoretiker der Solidarischen Ökonomie sowie der Philosophie der Befreiung in Lateinamerika, betont die Bedeutung der Kartierung der SWU einschließlich deren Materialflüsse, sodass beispielsweise die einen die anderen beliefern oder die einen die Abfälle der Produktion der anderen verwerten, weiter verarbeiten und zurück in den Kreislauf fließen lassen können.
Solidarische Ökonomie in Brasilien
In Brasilien wurde unter Lula da Silva sogar ein Staatssekretariat für Solidarische Ökonomie im Ministerium für Arbeit und Beschäftigung eingerichtet, das SENAES (Secretaria Nacional de Economia Solidária). Es wurde am 26. Juni 2003 per Gesetz auf Initiative des Präsidenten Lula, nach einer entsprechenden Forderung der damaligen Arbeitsgruppe
Solidarische Ökonomie des Weltsozialforums, geschaffen. Unter der Leitung des Ökonomen und Soziologen Paul Singer arbeitete das Staatssekretariat SENEAS mit den Solidarischer Wirtschaftsunternehmen zusammen, die sich innerhalb der einzelnen Bundesstaaten in Foren organisiert hatten und die, zusammen, das
Brasilianische Forum der Solidarischen Ökonomie (FBES) bilden. In diesem Forum arbeiten auch Unterstützer*innen der Solidarischen Ökonomie mit, unter anderem kirchliche Organisationen, Universitäten, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen, Kommunen, Landkreise und Bundesstaaten. Alle Akteur*innen bilden unabhängige, dabei wachsende Netzwerke, gleichzeitig sind sie Teil der
Grupo de Pesquisa em Economia Solidária (ECOSOL) als einer Bewegung für Solidarische Ökonomie.
Wiederholt wurden alle solidarischen Wirtschaftsunternehmen (SWU) vom Staatssekretariat SENAES dazu aufgerufen, ihre Prioritäten zu klären und Delegierte in Vollversammlungen zur Solidarischen Ökonomie nach Brasilia zu entsenden, um dort ihre jeweiligen Bedürfnisse und Interessen mitzuteilen. In den ersten zwölf Jahren fanden drei großen Vollversammlungen – jeweils mit über 1200 Delegierten – statt, wo die gemeinsame Planung abgestimmt wurde. Im gleichen Zeitraum wurde so die Arbeitslosigkeit quasi abgeschafft und wurden sogar Flüchtlinge aus Haiti zunehmend in den Inklusionsprozess einbezogen. Als die nationale Politik sich dann drehte und mit Zinserhöhungen und Sparprogrammen neoliberale Anpassungsmaßnahmen durchgeführt wurden, wuchs die Arbeitslosigkeit wieder.
An über 100 Universitäten sind heute „incubadoras“, Gründungsberatungsstellen, angesiedelt, welche Menschen – oft Frauen –, die sich in kleinen Gemeinschaftsunternehmen zusammenschließen wollen, beraten und sie bei ihren Anstrengungen, örtlich Einkommen zu generieren, begleiten. Dabei geht es nicht nur um ökonomisches Wissen, sondern auch um politische Bildung auf Augenhöhe nach der Methode von Paulo Freire, um Genderfragen und Gruppenprozesse inklusive gemeinsamer Entscheidungen. Ein Kartierungsprozess im ganzen Land erlaubt regionale Besuche und Lernprozesse innerhalb der Bewegung. So können interessierte Student*innen und Forscher*innen die in Gründung befindlichen SWU zum Beispiel gleich mit Abnehmern*innen und Lieferanten*innen aus solidarischen Netzen in Verbindung bringen.
Paul Singer und viele andere Aktive stehen in Verbindung mit jenen Akteur*innen der Solidarischen Ökonomie, die diese beispielsweise in Argentinien, Kolumbien, Uruguay oder Chile oder in ihren Instituten und Organisationen aufbauen und fördern.
Frankreich und Italien als europäische Beispiele
In Frankreich hat die Soziale Solidarische Ökonomie (SSÖ) seit Kriegsende Tradition. Sie ist sehr lebendig und wird auch von den Kommunen anerkannt. Die Stadt Lille fördert die Bewegung unter anderem mit zwei „Maisons de l’économie solidaire“ (Häusern der Solidarischen Ökonomie), in denen Organisationen der Zivilgesellschaft zur Förderung des Gemeinwohls kleine Büros unterhalten. Im Juli 2014 wurde im französischen Parlament ein Gesetz zur Förderung Sozialer Solidarischer Ökonomie verabschiedet. Damit werden unter anderem der Zugang zur Finanzierung von Vorhaben verbessert und Foren zum Erfahrungsaustausch unterstützt. Zudem spricht das Gesetz Arbeitnehmer*innen das Recht zur genossenschaftlichen Übernahme ihres Unternehmens zu, wenn die bisherigen Eigentümer*innen es nicht weiterführen können.
In Italien wurde 1985 ein Gesetz zur Förderung von Belegschaftsinitiativen zur Übernahme von insolventen Unternehmen in Form von Genossenschaften verabschiedet: das Marcora-Gesetz. Es sorgt auch in der heutigen Krise für die Rettung von Arbeitsplätzen, Infrastruktur und Fachwissen in der Region. Daneben gibt es auch hier inzwischen zahlreiche
Gruppi di Acquisto Solidale (GAS), solidarische Einkaufsgruppen, die Kooperations- und Abnahmevereinbarungen mit Biobäuer*innen der Region eingehen. Nicht wenige Biobäuer*innen können nur dank ihrer GAS-Abnehmer*innen überleben. Diese Direktvermarktung war zu Beginn, in den 1990er Jahren, nur in Nord- und Mittelitalien verbreitet, aber im letzten Jahrzehnt lernten die ersten sizilianischen Kleinbäuer*innen die GAS auf der
Falacosagiusta (übersetzt: Tue das Richtige) in Mailand kennen, einer Messe für kritischen Konsum und nachhaltige Lebensstile. Die Kleinbäuer*innen begannen also, ihre Zitrusfrüchte und andere am Mittelmeer wachsende Produkte wie Mandeln und Oliven solidarischen Einkaufsgruppen (GAS) in Nord- und Mittelitalien zu liefern, und konnten sich damit von der räuberischen Dominanz der von der Mafia beherrschten großen Vertriebsmaschinerie emanzipieren. Im Kampf gegen die Mafia operieren auch Genossenschaften landloser Bäuer*innen. Sie bewirtschaften die von Mafia-Bossen beschlagnahmten Landgüter nach biologischen Richtlinien (vgl. Forno 2011).
Aktuell gibt es in Italien Hunderte Sozialgenossenschaften, die Flüchtlingen Wohnmöglichkeiten anbieten und sie bei der Integration unterstützen – auch weil der Staat die Kommunen damit allein lässt.
Man könnte unzählige andere Beispiele nennen. Die Solidarische Ökonomie besteht aus inspirierenden Geschichten, die Mut aufs Experimentieren und Nachahmen machen.
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Zur Solidarischen Ökonomie zählen vielfältige alternative Wirtschaftspraxen und Akteur*innen
Die Beschäftigung mit der Praxis ist Kernstück der Strategie. Die Theorie Solidarischer Ökonomie entwickelt sich aus dem, was in der Praxis passiert, sie lernt aus der Praxis; und die Praxis profitiert von den neuesten Erkenntnissen aus Theorie und Forschung. Eine von der Praxis entkoppelte Theorie ist steril und, angesichts der globalen Probleme, unverantwortlich. Die Kartierungen der verschiedenen Initiativen und SWU, die es bereits gibt, ermöglicht ihnen, voneinander Notiz zu nehmen und sich miteinander zu vernetzen. Dadurch werden die Akteur*innen gestärkt, weil sie zusammenarbeiten: lokal und regional, aber auch über Grenzen hinweg. Sie bilden allmählich ein alternatives dezentrales, Bottom-up-System, das immer mehr Menschen, die vom jetzt vorherrschenden System ausgeschlossen werden, eine Existenz bieten kann: wahrscheinlich keine feste Anstellung im üblichem Sinne, aber kooperative Tätigkeiten zur Befriedigung der fundamentalen Bedürfnisse
3 .
Beispiele für Initiativen Solidarischer Ökonomie sind:
- Selbstverwaltete Betriebe und progressive Genossenschaften, zum Beispiel Energiegenossenschaften, Wassergenossenschaften, Assistenzgenossenschaften von Menschen mit Behinderungen, Landkauf-Genossenschaften, Kneipen-Kollektive, Film- und Theaterkollektive
- Wohnprojekte, Ökodörfer, Kommunen und andere Gemeinschaften
- Fairer Handel
- Solidarische Landwirtschaft, Gemeinschaftsgärten inklusive interkultureller Gärten
- Hilfe auf Gegenseitigkeit (Mutualismus); historisch: von den Beschäftigten organisierte Kranken- Renten- und Unfallversicherungen
- Selbstorganisierte Finanzinstrumente wie Sparvereine oder Credit Unions; historisch: Genossenschaftsbanken, Sparvereine
- Food Coops, Mitgliederläden, Erzeuger*innen-Verbraucher*innen-Gemeinschaften und andere Formen selbstverwalteten Konsums oder Prosums (Konsum und Co-Produktion)
- Freies Wissen, zum Beispiel freie Software, Lexika, Bildung, Medien und Kultur
- Selbstverwaltete freie Alternativschulen und Kitas, Tagungshäuser, Geburtshäuser, Kulturzentren, freie Radios und offene Kanäle etc.
- offene Werkstätten (Community Workshops), Repair-Cafés
- Akteur*innen in Brasilien – und perspektivisch auch hierzulande – sind ferner sämtliche Mitglieder der regionalen und der nationalen Foren der Solidarischen Ökonomie, wie: solidarische Wirtschaftsunternehmen (SWU); spezifische Unterstützungsorganisationen der SWU (die zum Beispiel Beratung anbieten); verschiedene Organisationen und Institutionen, die SWU fördern und unterstützen (kirchliche, gewerkschaftliche und zivilgesellschaftliche Organisationen; kommunale und Landkreis- beziehungsweise Länderverwaltungen, Universitäten).
Die Solidarische Ökonomie wächst zum Teil mit der Strategie der Erdbeerpflanzen – wie es ein Vertreter der Sozialgenossenschaft
SOLCO in Mantova (Italien) einmal erklärte: Wenn eine Erdbeerpflanze ausgewachsen ist, wird sie nicht größer, sondern sie bildet Ableger, neue Pflanzen, die bald ihrerseits Ableger bilden – bis sie den ganzen Hügel bedecken. Die Initiativen wollen nicht „groß werden“, sondern sie vermehren sich und verbreiten ihre Erfahrung, ihr Wissen, ihre Methoden. Dadurch konzentriert sich nicht sämtliche Infrastruktur in den Städten, sondern Arbeitsplätze und Dienstleistungen werden breit verteilt und können Bedürfnisse vor Ort in der jeweiligen Region erfüllen.
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Solidarische Ökonomie und Degrowth: gemeinsame Ziele
Indem wir hierzulande den Begriff „Solidarische Ökonomie“ verwenden, knüpfen wir an entsprechende Initiativen in anderen Teilen der Welt an, wir verleihen ihnen mehr Sichtbarkeit und stärken uns gegenseitig, auch bei Forderungen an die Politik nach Anerkennung, Unterstützung und besseren Rahmenbedingungen. In der akademischen Welt zählt man eine sehr breite Palette von Aktivitäten zur Solidarischen Ökonomie, die auf Kooperation, Selbstverwaltung, Gemeinwohlorientierung und Naturbezug basieren. Inzwischen sind viele andere Bewegungen (Transition-Towns, Gemeinwohlökonomie, Degrowth, Commons, Share-Economy, collaborative Economy, Demonetisierung usw.) entstanden, die ähnliche bis gleiche Ziele verfolgen. Die Vielfalt ist einerseits ein Reichtum, der den Schwarm der Alternativen widerstandsfähiger macht. Denn wenn eine einzelne Strömung von Konzernen gekapert wird (zum Beispiel Carsharing), wird nicht gleich die ganze Bewegung diskreditiert. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass die Vielfalt an Bezeichnungen schlussendlich auch dem konkurrenzbasierten System geschuldet ist: denn jede soziale Innovation muss ihre Alleinstellungsmerkmale herausstreichen, um potentielle Geldgeber*innen und die Öffentlichkeit zu überzeugen.
Deswegen sind Zusammenarbeit und Koordination zwischen den verschiedenen Bewegungen wünschenswert, denn sie ersparen „Doppelungen“ und erhöhen die Wirksamkeit der Bemühungen aller. Gemeinsame Veranstaltungen wie etwa Messen für kritischen Konsum sowie Kongresse und gemeinsame Kampagnen haben bereits stattgefunden (zum Beispiel:
Solikon im Jahr 2015). Meist ist dabei eine Bewegung „Gastgeberin“. Von Grund auf gemeinsam getragene Projekte oder Kampagnen vieler Bewegungen fehlen indessen bisher.
Solidarische Ökonomie und Degrowth haben einen Kerngedanken gemeinsam, den sie allerdings unterschiedlich definieren. Degrowth will eine Abkehr vom vorgeblichen Wachstumszweck der Ökonomie. Solidarische Ökonomie will die Inklusion durch Selbstverwaltung und die Abkehr vom Vermehrungszwang des Kapitals (Profitmaximierung), der in den Mainstream-Medien als „Wachstum“ schöngeredet wird.
Das kapitalistische System hat unzählige Wachstumsstrategien entwickelt, von der kolonialen Ausplünderung über Kriege und die Vernichtung der Konkurrenz über eingebauten Verschleiß bis hin zur künstlichen Bedarfsweckung durch raffinierte Werbestrategien. Die Solidarische Ökonomie schafft hingegen institutionelle Rahmenbedingungen, Netze und Produktionsketten, die auf nicht kapitalistischen Prinzipien beruhen (Kooperation statt Konkurrenz). Die Netze stärken die einzelnen Unternehmen und Initiativen und bieten Lern- und Erfahrungsräume für eine Kultur der Kooperation.
Die Solidarische Ökonomie baut zudem lokale Kreisläufe auf, was Energie für den Transport spart, und richtet sich nach den Bedürfnissen der Menschen im Einklang mit der Natur. Das bedeutet eine Produktion sinnvoller, langlebiger und reparierbarer Produkte. Es wird viel weniger Schrott erzeugt, weniger Müll, es gibt weniger Ressourcenverschwendung. Dies deckt sich mit Zielen der Degrowth-Bewegung.
Eine stärkere Kooperation zwischen der Solidarischen Ökonomie und Degrowth wäre wünschenswert und würde beide voranbringen.
Degrowth braucht sozialverträgliche Konzepte und Visionen
Degrowth an sich ist noch keine Vision – das Wort beschreibt eher, was man nicht will: wirtschaftliches Wachstum ohne Sinn und Verstand. Degrowth kritisiert die Grundlagen des vorherrschenden Wirtschaftsdenkens und deren Kategorien. Es richtet sich dagegen, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und dessen Wachstum als Maßstab des „Erfolges“ einer Gesellschaft ohne Rücksicht auf die sozialen und ökologischen Kosten zu betrachten. Degrowth bedeutet: das Wachstum soll aufhören. Das heißt: Schluss mit Verschwendung, sinnlosen Infrastrukturprojekten, gefährlichen, unbeherrschbaren Technologien, Rüstungsexporten, dem Raubbau an der Natur, Umweltzerstörung und -vergiftung. Aber man weiß noch nicht, wie, es gibt noch keine Kriterien dafür. Wer garantiert, dass die erwünschte schrumpfende Gesellschaft eine demokratische sein wird, eine, die das Wohl aller zum Ziel hat?
Degrowth muss mit expliziten Prinzipien und Formen eines alternativen Gesellschaftsentwurfs versehen werden: zum Beispiel mit Bottom-up-Ansätzen, partizipativer Demokratie, die zu Selbstverwaltung führen, zu Solidarität, Inklusion, Gleichberechtigung, Genügsamkeit, Konvivialität, Anerkennung, kurz: zu einem guten Leben in Gemeinschaft. In der Praxis geschieht dies sicherlich zum Teil, im Begriff spiegelt es sich jedoch nicht wider. Die Kritik am Bestehenden und der Ausbau von Alternativen gehören zusammen: Keine erfolgreiche Anti-AKW- oder Anti-Kohle-Bewegung ohne Erneuerbare-Energien-Bewegung, ohne Strategien zur Konversion zerstörerischer in sinnvolle Produktion und ohne Inklusion der Arbeitslosen. Degrowth schlägt Alarm und zwar zu Recht: So geht es wirklich nicht weiter. Aber das Ziel der Degrowth-Bewegung, auf Dauer in Frieden mit den Nachbar*innen und im Einklang mit der Natur zu leben, ist nur mit Solidarität, Demokratie, Partizipation, Gleichberechtigung und Inklusion sozialverträglich zu erreichen.
Ein ganzer Werkzeugkasten für den Aufbau solidarischer Lebensperspektiven
Die Menschen spüren, dass es so nicht weitergehen kann und rufen überall auf der Welt Myriaden von Initiativen für einen anderen Umgang mit dem Planeten und mit den Mitmenschen ins Leben. Immer mehr Leute hören auf zu delegieren, stehen vom Sofa auf, schalten den Fernseher aus und mischen sich vor Ort ein. Abertausende haben schon angefangen, am Aufbau der Alternativen, die überall entstehen, mitzuarbeiten. Die digitale Kommunikation bietet noch nie dagewesene Werkzeuge für Information und Partizipation. Geeignete internetbasierte Instrumente können einen großen Beitrag leisten, um den Alternativen zum Durchbruch zu verhelfen.
Gute Praktiken in verschiedenen Ländern und Kontinenten zeigen, dass es bereits alternative Wirtschaftsformen gibt und dass sie machbar sind. Wir sollten sie uns ausführlich anschauen, um unser Bewusstsein für den Weg zu einer anderen Produktionsweise zu schärfen. Forschungsstellen an den Hochschulen, die sich mit Degrowth, Solidarischer Ökonomie und anderen Alternativen befassen, sollten den Kontakt zur Praxis suchen, die Gründung von solidarischen Wirtschaftsunternehmen (SWU) und anderen Alternativen fördern, sie begleiten und beraten, ihnen Wissen vermitteln und mit ihnen zusammen neue Erkenntnisse gewinnen. Überhaupt ist es sehr wichtig zu entdecken, was Menschen nah und fern an Alternativen bereits auf die Beine gestellt haben: um von ihnen zu lernen, ihre Erfahrungen bekannt zu machen und um die Kenntnis von den bereits vorhandenen Alternativen (mit Filmen, Videos, Interviews, Kongressen, Tagungen, Artikeln, Büchern, Seminaren …) zu verbreiten. Dadurch können wir die vorhandenen Alternativprojekte darin unterstützen, Wissen zu teilen, Vernetzungsmöglichkeiten zu schaffen – zum Beispiel durch gemeinsame Open-Source-Plattformen, Kartierung, Messen – und andere Menschen zu inspirieren, ebenfalls neue (oder ganz alte) Wege zu gehen. Ziel ist es, einen Teppich von Alternativen zu weben, der überall und vor Ort den vielen Menschen, die vom System „auf die Müllhalde geworfen werden“, und jenen, die vor Krieg und Zerstörung flüchten, eine Überlebenschance und ein gutes Leben zu bieten.
In Deutschland sind in letzter Zeit unzählige Flüchtlingsinitiativen entstanden – überall dort, wo Menschen auf ihre Gefühle achten, Mitgefühl zeigen und sich nicht von Ängsten steuern lassen. Sie versuchen, bei der Unterbringung, beim Spracherwerb und bei der Integration von Flüchtlingen zu helfen. Handelt es sich hierbei um eine spontane Bewegung Solidarischer Ökonomie? Sie entspricht jedenfalls deren Kriterien, die Gebote der Menschlichkeit sind: andere als gleichberechtigt zu betrachten und mit ihnen zu teilen, so dass es für alle reicht – allem Gerede vom Homo oeconomicus zum Trotz. Welches Vehikel jeweils genutzt wird, um sich an der Transformation aktiv zu beteiligen – ob Solidarische Ökonomie, Degrowth, Gemeinwohlökonomie, Commons, Beitragsökonomie, Share-Economy, Demonetarisierung oder einfach Mitmenschlichkeit –, ist letztendlich egal.
Die Zusammenarbeit in der Praxis ist entscheidend – in der Solidarischen Landwirtschaft, in Wohnprojekten, in Flüchtlingsprojekten, in urbanen Gärten, beim Urban Commoning, in selbstverwalteten Produktionsbetrieben, in der politischen kommunalen Arbeit, aber auch in der politischen Bildung, in der Öffentlichkeitsarbeit, in Büchern, Filmen und auf Internetplattformen oder in der Organisation von Kongressen, Messen und anderen Events. Vielfältige Gedankenschulen sind eine Ressource. Die gemeinsame Stoßrichtung leuchtet bereits auf, Suchende finden Strukturen der Kooperation. Synergien entstehen. Die Wiedergewinnung des Naturbezuges steht auf der Tagesordnung. Wir haben also nicht nur einen einzigen Schlüssel, der vielleicht nicht überall passt – sondern wir haben mehrere zur Auswahl, einen ganzen Werkzeugkasten. Das ist unsere Chance.
Links
> Forum Solidarische Ökonomie e. V. – Portal für Solidarische Ökonomie
> Entwicklungsperspektiven – wissenschaftliche Schriftenreihe
> Sozioeco – Resource Website of Social and Solidarity Economy
> Workerscontrol – Archive of Workers Struggle
Verwendete und weiterführende Literatur
Max-Neef, Manfred; Elizalde, Antonio; Hopenhayn, Martín 1990.
Entwicklung nach menschlichem Maß – Eine Option für die Zukunft. Kassel: Gesamthochschule Kassel.
Singer, Paul 1996. São Paulo: Industrielle Krise und Deindustrialisierung.
Jahrbuch Lateinamerika. Analysen und Berichte 20 (Thema: Offene Rechnungen): 117-138.
Migliaro, Luis Razeto 2001.
Desarollo, transformacion y perfeccionamiento de la economica en el tiempo. Santiago: Ediciones Universidad Bolivariana.
Singer, Paul 2001. Solidarische Ökonomie in Brasilien heute: eine vorläufige Bilanz.
Jahrbuch Lateinamerika 25 (Thema: Beharren auf Demokratie): 75-96.
Singer, Paul 2006. Eine Alternative zum Kapitalismus (Interview).
Lateinamerika Nachrichten 398.
Verein zur Förderung der Solidarischen Ökonomie (Hrsg.) 2011.
Schritte auf dem Weg zur Solidarischen Ökonomie. Kassel: Kassel University Press. <
http://www.uni-kassel.de/upress/online/frei/978-3-86219-130-7.volltext.frei.pdf>
Giegold, Sven; Embshoff, Dagmar (Hrsg.) 2008.
Solidarische Ökonomie im globalisierten Kapitalismus. Hamburg: VSA.
Erdmann, Ole 2011. Auf der Suche nach anderen Wirtschaftsformen. Diskussionen und Trends der solidarischen Ökonomie in Lateinamerika.
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft 185. <
http://www.spw.de/data/spw_185_erdmann.pdf>
Forno, Francesca 2011.
La spesa a pizzo zero. Milano: Altreconomia. <
https://www.degrowth.info/wp-content/uploads/2016/07/Fr-Forno.pdf>
Bayer, Kristina, Embshoff, Dagmar (Hrsg.) 2015.
Der Anfang ist gemacht (Band 1). Kultur der Kooperation. Die Gruppe. Neu Ulm: AG SPAK Bücher.
Voss, Elisabeth 2015.
Wegweiser Solidarische Ökonomie. Anders wirtschaften ist möglich! Neu Ulm: AG SPAK Bücher.