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Plurale Ökonomik

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Title: Plurale Ökonomik als wesentliche Voraussetzung für die wirtschaftswissenschaftliche Bearbeitung von Degrowth

By: Jonathan Barth, Christoph Gran und Tanja von Egan-Krieger

Release date: 19.07.2016

Download: DIB_Plurale.pdf


Das Netzwerk Plurale Ökonomik e. V. setzt sich für eine Neuaufstellung der Wirtschaftswissenschaften ein. Im Mittelpunkt stehen die Forderung nach Theorien- und Methodenvielfalt, nach Interdisziplinarität sowie die Fokussierung auf reale gesellschaftliche Probleme statt auf abstrakte und mathematische Modellierungen.
Das Ziel ist, die Einseitigkeit des derzeitigen ökonomischen – und darauf basierenden gesellschaftlichen Denkens – zu überwinden.
Als Ökonomen (Barth, Gran) und Philosophin (von Egan-Krieger) setzen wir uns seit vielen Jahren kritisch mit den herrschenden Wirtschaftswissenschaften im Rahmen des Netzwerkes Plurale Ökonomik auseinander. Zudem sind alle drei in der Degrowth-Bewegung aktiv.
Wirtschaft plural denken
„Wir wollen aus den Traumwelten entkommen!“ Mit diesem Ausspruch beginnt ein offener Brief von französischen Studierenden der Wirtschaftswissenschaften des Jahres 2000. Darin beklagen sie die einseitige Fokussierung in der Lehre auf einen einzigen theoretischen Strang: den auf der neoklassischen Theorie aufbauenden Mainstream. Die mathematische Formalisierung der heutigen wirtschaftswissenschaftlichen Theorie habe dazu geführt, dass die Mathematik zu einem Selbstzweck geworden sei. Damit würde die Theorie dem Anspruch, reale wirtschaftliche Phänomene zu erklären, nicht mehr gerecht. Deshalb fordern sie einen Pluralismus an wirtschaftswissenschaftlichen Ansätzen. Eine kleine Gruppe von Lehrenden unterstützte diese Kritik.
Der Abdruck der studentischen Petition in der Tageszeitung Le Monde trat eine landesweite Debatte los. Innerhalb von zwei Wochen hatten sich 600 Studierende mit ihrer Unterschrift hinter ihre KommilitonInnen gestellt. Eine Radiosendung am 21. September 2000 brachte dann den wissenschaftspolitischen Durchbruch: Andere Studierende, beispielsweise in Cambridge und in Harvard, zogen nach und mittlerweile ist die Bewegung global vernetzt. Ihr Sprachrohr, die real-world economic review, erreicht über 11 000 EmpfängerInnen.

Die Bewegung erreicht Deutschland


Im November 2003 gründeten einige DoktorandInnen und StudentInnen den deutschen Arbeitskreis Postautistische Ökonomie. Durch Vernetzungs- und Informationsaktivitäten entstanden eine erste wissenschaftliche Tagung und zahlreiche Workshops. Im November 2007 folgte die Vereinsgründung. Der Begriff Postautismus war von Beginn an weder als Beleidigung von Menschen mit Autismus noch als persönlicher Angriff auf KollegInnen gedacht gewesen, sondern beschreibt eine wissenschaftliche Kritik am heutigen Zustand der Ökonomik. Nach der Kritik an der Namensgebung vonseiten eines Vereins von Eltern autistischer Kinder hat sich der Verein dennoch auf die Suche nach einem neuen Namen gemacht. 2011 gab sich der Verein übergangsweise den Namen AK Real World Economics. Um die Arbeit des Netzwerks auf eine breitere Basis zu stellen, die Zugänglichkeit zu erhöhen und in der Öffentlichkeit mit einem unmittelbar verständlichen Namen auftreten zu können, wurde schließlich auf der Mitgliederversammlung 2012 der aktuelle Name Netzwerk Plurale Ökonomik gewählt. 2014 beteiligte sich das Netzwerk am „Internationalen studentischen Aufruf für eine Plurale Ökonomik“. In den Nachwehen bildete sich die International Students Initiative for Pluralism in Economics (ISIPE) heraus, in der sich Hochschulgruppen und Organisationen weltweit vernetzen.

Die Einseitigkeit ökonomischen Denkens


Die Einseitigkeit ökonomischen Denkens ist bis heute der zentrale Kritikpunkt der Bewegung geblieben. Die Gründe für diese Kritik waren stets vielfältig und werden von unterschiedlichen AkteurInnen durchaus verschieden gewichtet. Von studentischer Seite aus wird kritisiert, dass im Studium keine Chance bestünde, alternative ökonomische Ansätze überhaupt kennenzulernen, um sich ein eigenes Urteil bilden zu können. Dadurch würde kritisches Denken nicht gefördert, sondern geradezu gehemmt.
Zudem wird von VertreterInnen der Bewegung kritisiert, dass der heutige Mainstream der Ökonomie nicht in der Lage sei, viele Aspekte des Wirtschaftsgeschehens ausreichend zu erklären. Antworten auf ökologische oder gesellschaftliche Fragen, die nicht in den Modellen des Mainstreams abgebildet sind, können deshalb nicht gegeben werden. Diese Kritik wird mit zwei unterschiedlichen Argumenten begründet. Das eine besagt, dass eine Theorie allein grundsätzlich nicht in der Lage sei, alles relevante wirtschaftliche Geschehen zu erklären. Von VertreterInnen dieses Argumentes wird gerne das Bild eines Handwerkers herangezogen, der versucht, mit nur einem Werkzeug alle Reparaturen zu vollziehen. Stattdessen sei ein Pluralismus an Theorien und Methoden notwendig, um sich das jeweils Passende zur Problemlösung aussuchen zu können. Das andere Argument ist grundlegender, insofern es nicht nur die Einseitigkeit in der ökonomischen Theorie kritisiert, sondern zudem den neoklassisch geprägten Mainstream an sich zurückweist. Dass dieser viele und bedeutsame Aspekte des Wirtschaftssystems vernachlässigt, stelle die Erklärungskraft des Mainstreams insgesamt in Frage. Zum Beispiel werden wichtige Wechselwirkungen zwischen Erwerbs- und Sorgearbeit oder zwischen Wachstum und Ökologie aufgrund der blinden Flecken der neoklassischen Theorie nicht berücksichtigt.
Für andere im Netzwerk besteht der Hauptgrund für die Kritik und Zurückweisung des Mainstreams nicht in erster Linie in seiner mangelnden Erklärungskraft, sondern in seiner Normativität: Die Idee einer wertfreien und objektiven Wirtschaftswissenschaft wird von vielen im Netzwerk Plurale Ökonomik zurückgewiesen. Betont wird, dass normative Überzeugungen der ÖkonomInnen nicht nur die Auswahl der Fragestellungen, sondern auch die Konzeption der Theorie selbst bestimmen. Diese Normativität erhält insbesondere dann Bedeutung, wenn ökonomische Theorien Einfluss auf die Politik ausüben. So haben die Meinungen von ÖkonomInnen – unter ihnen hauptsächlich Männer – im öffentlichen Diskurs einen großen Einfluss. ÖkonomInnen schalten sich national und international durch zahlreiche Forschungs- und Beratungsinstitute sowie den Sachverständigenrat in gesellschaftliche Entscheidungsprozesse ein. In ihrer Rolle als ExpertInnen verbreiten sie diese Normen, Vorstellungen und Denkmuster – unter dem Deckmantel einer scheinbaren Objektivität und Quantifizierbarkeit ökonomischer Forschung – in der Gesellschaft. Die normativen Grundlagen des Mainstreams sind zum Beispiel im Konzept idealer Märkte und im Begriff Effizienz, aber auch im Arbeits- und Naturbegriff zu finden. Die Auswirkungen zeigen sich in Politikempfehlungen wie „weniger Regulierung“, „geringere Steuern“ und „Wettbewerbssteigerung“, aber auch in einer Vernachlässigung von ökologischen Fragen und der Abwertung von Sorgearbeit.
Hier zeigt sich die gesellschaftliche Verantwortung der Disziplin. Ökonomische Forschung setzt Maßstäbe, was als gut und wichtig zu bewerten ist. Um jedoch eine umfassende Folgenabschätzung von Politikmaßnahmen zu erhalten, müssen die genannten Wertvorstellungen reflektiert und die vorhandenen Leerstellen durch andere Denkschulen wie die Ökologische Ökonomik, die Feministische Ökonomik, die Alte Institutionelle Ökonomik, den Marxismus, die Evolutorische Ökonomik, den Keynesianismus und andere gefüllt werden.
Student(Inn)en und Wissenschaftler(Innen) setzen sich für andere Wirtschaftsweisen ein
Das Netzwerk Plurale Ökonomik ist vorwiegend studentisch geprägt, aber es engagieren sich auch zunehmend DoktorandInnen, Post-Docs und ProfessorInnen in der Bewegung. Dabei gibt es oft einen Überhang von männlichen Engagierten, dies wird innerhalb der Bewegung jedoch problematisiert und durch reflektiertes Kommunikationsverhalten kritisch aufgenommen. Es wird angestrebt, dies zeitnah zu ändern. Im Netzwerk sind insgesamt 31 Ortsgruppen beteiligt, die eine Vielzahl an lokalen Veranstaltungen organisieren. Neben bundesweiten Aktivitäten ist das Netzwerk auch überregional und international aktiv und eingebunden, so zum Beispiel bei Rethinking Economics und der Students Initiative for Pluralism in Economics (ISIPE).
Plurale Ökonomik hat in Deutschland als Verein inzwischen über 200 Mitglieder. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die Anzahl aktiver Menschen wesentlich höher ist, da gerade auf lokaler Ebene nur ein kleiner Teil der StudentInnen auch Mitglied im Verein ist. Geschätzt kommen drei Viertel der Mitglieder aus dem Bereich der Wirtschaftswissenschaften oder aus interdisziplinären Studiengängen mit Wirtschaftsbezug.

Öffentlichkeitsarbeit, Weiterbildung und Hochschulpolitik als zentrale Säulen


Durch Vernetzungs- und Informationsaktivitäten des Arbeitskreises postautistische Ökonomie entstanden eine erste wissenschaftliche Tagung und zahlreiche Workshops zu Themen wie Wissenschaftstheorie und Wachstum, aber auch zu Theorierichtungen wie Postkeynesianismus, Evolutorik und Ökologische Ökonomik. Im Jahr 2006 veröffentlichten Mitglieder des Arbeitskreises den Sammelband „Die Scheuklappen der Wirtschaftswissenschaften“ (Dürmeier/von Egan-Krieger/Peukert 2006), in dem die postautistische Bewegung vorgestellt wird. In der Folge fanden zahlreiche bundesweite Aktivitäten statt, die sich in drei Kategorien gliedern lassen: Erstens versucht das Netzwerk, die Öffentlichkeit und die Politik vermehrt für das Thema zu sensibilisieren; zweitens strebt das Netzwerk eine Veränderung der Hochschulen, deren Curricula und Stellenbesetzungen an; drittens bemüht sich die Bewegung um die Erarbeitung konkreter Alternativen zum Status quo.
Die Sensibilisierung fand zum Beispiel durch einen offenen Brief (2012), einen internationalen Aufruf (2014), durch eine aktive und professionelle Öffentlichkeitsarbeit (seit 2014) und durch Vorträge zum Thema (seit 2007) statt. Zudem wird durch die Studie „EconPLUS“ die Pluralität der VWL-Fakultäten in Deutschland systematisch evaluiert, um auf Missstände hinzuweisen. Gleichzeitig wird auf lokaler Ebene durch Lesekreise und Werbung versucht, auf das Thema aufmerksam zu machen. Für die Veränderung der Hochschulen setzen sich besonders die lokalen Gruppen ein. Sie versuchen, auf Berufungsverfahren einzuwirken, bieten Ringvorlesungen an, laden ProfessorInnen zum Gespräch ein und betreiben eine aktive Hochschulpolitik. Diese Aktivitäten werden auf der Austauschplattform www.pluralowatch.de gesammelt, so dass sich die Gruppen vernetzen und gegenseitig bereichern können. Daneben wird lokal wie auch auf bundesweiter Netzwerkebene an konkreten Alternativen gearbeitet. Darunter fällt beispielsweise die Entwicklung neuer Lehrmaterialien, die Erstellung des wissenschaftlichen Sammelbandes „Perspektiven der Pluralen Ökonomik“, die Erarbeitung einer Online-Universität für Plurale Ökonomik, die Organisation von Ergänzungsveranstaltungen zu den Jahrestagungen des Vereins für Socialpolitik (Göttingen 2012, Münster 2015) und die Durchführung von Dialogtagungen unter Beteiligung verschiedener Denkschulen (2015).
Intern ist das Netzwerk in verschiedene Arbeitsgruppen und Projekte gegliedert, die vor allem von Ehrenamtlichen getragen werden. Kommuniziert wird auf gemeinsamen Tagungen (Klausurtagung und Mitgliederversammlung) und anderen physischen Treffen der Arbeitsgruppen, ergänzt durch eine intensive webbasierte Zusammenarbeit und Kommunikation.
Sich in verschiedenen Arenen für das gemeinsame Ziel alternativer Denkräume einsetzen

Gemeinsamkeiten und Verbindungslinien zwischen Degrowth und Pluraler Ökonomik


Auf persönlicher Ebene beschäftigen sich viele Mitglieder des Netzwerks Plurale Ökonomik, im Zuge der Reflexion der normativen Grundlagen ökonomischer Forschung, mit politischen Fragestellungen, Perspektiven und Zielen, unter anderem auch mit Degrowth. Während die persönlichen Wertvorstellungen im Einzelnen recht heterogen sind, wird insgesamt der Bedeutung von Ethik innerhalb der Ökonomik ein großer Stellenwert eingeräumt. Das zeigt sich etwa daran, dass einige Aktive auch in anderen Kontexten, etwa im Netzwerk N (Nachhaltigkeit an Hochschulen) oder im Netzwerk Wachstumswende, aktiv sind. Viele AktivistInnen stellen sich entgegen der deskriptiven Analyse in ihrem Studium die Frage nach einem guten Leben jenseits von Profitlogik, Optimierung und Akkumulation.
Was die interne Organisationsform anbelangt, lassen sich ebenfalls Verbindungen zwischen Degrowth und dem Netzwerk Plurale Ökonomik ausmachen. Aktive im Netzwerk wie auch in der Degrowth-Bewegung, nutzen bevorzugt basisdemokratische Strukturen. Das Sich-miteinander-Wohlfühlen sowie eine angenehme gewalt- und diskriminierungsfreie sowie respektgeleitete Diskussionsatmosphäre sind vielen AktivistInnen wichtig. Ein Unterschied besteht gleichwohl darin, dass derzeit vor allem Männer im Netzwerk vertreten sind, während Degrowth diesbezüglich diverser aufgestellt ist. Wir nehmen wahr, dass besonders während der Degrowth-Tagung viele Erfahrungen gesammelt werden konnten, was die basisdemokratische Organisation großer Projekte und die gleichberechtigte und verstärkte Einbeziehung von Frauen anbelangt. Eine Intensivierung des Austausches darüber klingt für uns spannend.
Gemeinsamkeiten sehen wir auch in der gesellschaftlichen Einbettung und Randstellung beider Bewegungen. Beide kämpfen gegen einen übermächtigen „Gegner“. Die Veränderungen, die ihnen vorschweben, dauern sehr lange. Im Dialog mit „GegnerInnen“ werden beide oft als verrückt oder extremistisch oder einfach nur „naiv“ bezeichnet. Gleichzeitig finden beide Ansätze immer mehr Zustimmung bei jungen Leuten, in der Bevölkerung und in der Politik. Zukünftig wäre hier ein Austausch denkbar, der diese Erfahrungen reflektiert und strategisch nutzbar macht.
Eine weitere Verbindung ist das geteilte Wissenschaftsverständnis. Viele VertreterInnen des Netzwerks haben ein reflexives, transformatives Wissenschaftsverständnis. Nicht nur die Suche nach Wahrheit, sondern auch die Reflexion des Forschungskontextes und die Rückkopplung der Forschungsergebnisse an die Gesellschaft sind dabei von wesentlicher Bedeutung. Transdisziplinäre und partizipative Methoden, wie die Analyse von sozialen Nischen-Innovationen gemeinsam mit AktivistInnen, sind selbstverständlich Teil dieses Wissenschaftsverständnisses. Im Zuge der Auswahl relevanter AkteurInnen, was die Gestaltung einer anderen Wirtschaft oder des guten Lebens anbelangt, rücken dabei ähnliche oder dieselben Praktiken und Projekte in den Blick: tauschen, teilen und selber-machen stehen hier im Vordergrund – zum Beispiel beim Urban Gardening und durch Tauschbörsen. Es könnte gewinnbringend sein, diesen Gemeinsamkeiten nachzuspüren und sie zu betonen, damit sich die Bewegungen gegenseitig stärken können.
Auf inhaltlicher Ebene ist festzuhalten, dass Aktive aus dem Netzwerk Plurale Ökonomik die Postwachstumsökonomie als eine jener Perspektiven verstehen, die in der derzeitigen Wissenschaft unterrepräsentiert sind. Gleiches gilt für die Kritik an der Norm des Wirtschaftswachstums, die eine von vielen Normen darstellt, die derzeit nicht reflektiert werden. Fragestellungen aus der Degrowth-Bewegung werden insbesondere in der Ökologischen Ökonomik und in der Feministischen Ökonomik behandelt, zwei der häufig in Forschung und Lehre nicht miteinbezogenen Theorierichtungen. Indem wir uns für einen Theorienpluralismus einsetzen, treten wir auch für eine Stärkung dieser einzelnen Theorierichtungen ein.
Insgesamt scheint das Thema der Wachstumskritik ein wichtiges Querschnittsthema zu sein, welches sich gut als Kondensationspunkt verschiedener Theorierichtungen eignet. Eine plurale Ökonomik ist folglich eine wesentliche strukturelle Voraussetzung dafür, Fragen rund um das Thema Degrowth wissenschaftlich zu bearbeiten.

Unterschiede zwischen Degrowth und Pluraler Ökonomik


Deutliche Unterschiede zwischen Degrowth und dem Netzwerk Plurale Ökonomik sind in der strategisch-politischen Ausrichtung beider erkennbar. Während die Degrowth-Bewegung sich häufig auch gegenüber radikalen aktivistischen Strategien offen zeigt, wird dies von einigen im Netzwerk eher mit Skepsis betrachtet, was sicherlich auf den wissenschaftlichen Hintergrund desselben zurückzuführen ist. Dies schlägt sich nieder in der Auswahl der als relevant erachteten AkteurInnen und Arenen der Veränderung. Unserer Wahrnehmung nach konzentriert sich die Degrowth-Bewegung neben dem Aktivismus vor allem auf kleine Projekte, die zum Beispiel auf lokaler Ebene agieren. Die Art der Projekte lässt sich als kreativ-künstlerisch-praktisch beschreiben. Die Beteiligten kommen meist aus der Zivilbevölkerung. Eine wissenschaftlich fundierte Einbettung in den gesamtgesellschaftlichen Kontext sowie eine Umsetzung dieser Projekte auf breiter gesellschaftlicher Basis findet kaum statt. Bei Degrowth geht es um Fragestellungen von hoher Komplexität, die ein großes Vorwissen benötigen und durch die Unterstützung der Wissenschaft umfassender behandelt werden könnten. Zwar werden von der Degrowth-Bewegung einige WissenschaftlerInnen auf Kongresse eingeladen, doch im jetzigen Wissenschaftssystem werden diese kritischen Köpfe langsam „aussterben“. Sie werden aus der Wissenschaft verdrängt und damit der Möglichkeit beraubt, kritische Wissenschaft in einem kreativen Umfeld und finanziell abgesichert zu betreiben.
Dies macht deutlich, dass die Degrowth-Bewegung in Erwägung ziehen sollte, unsere Forderungen zukünftig vermehrt zu unterstützen und zu deren Verbreitung beizutragen. Vor allem vor dem Hintergrund der Notwendigkeit einer umfassenden wissenschaftlichen Analyse des Themas kann die Bewegung davon nur profitieren.
Das Netzwerk Plurale Ökonomik hat auf der anderen Seite zwar vereinzelt auch mit kreativen Institutionen, wie dem Schauspielhaus in Hamburg, zusammengearbeitet oder ist auf Festivals mit Workshops präsent. Insgesamt konzentriert sich die Arbeit aber weniger auf die konkrete Praxis und mehr auf die Wissenschaft. Insbesondere WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen werden als relevante AkteurInnen angesprochen, sie sind bevorzugt in Wissenschaftsinstitutionen oder in der Wissenschaftspolitik anzutreffen. Damit geht einher, dass gesamtgesellschaftliche Analysen meist lokalen Projekten vorgezogen werden. Veränderung geschieht nach Auffassung vieler im Netzwerk durch überzeugende Analysen und die Reflexion des Status quo. Politischer Aktivismus ist deshalb im Rahmen des Netzwerkes Plurale Ökonomik nur selten anzutreffen.
Alternativen zum Wachstumsparadigma wissenschaftlich fundieren!

Anregungen für Degrowth: mehr kritische Reflexion


Wir halten eine stärkere Reflexion der Degrowth-Strategie für notwendig. Aktivismus ist eine Seite des Wandels, doch gibt es zahlreiche andere Einflussmöglichkeiten, die nach unserem Wissen noch ungenutzt bleiben. Gerade die institutionalisierte Politik und die Wissenschaft sind zwei wichtige Arenen: Hier muss in einem gemeinsamen und ergebnisoffenen Diskurs versucht werden, die beteiligten AkteurInnen mitzunehmen. Diese Überlegung mündet in eine weitere auf die Frage der Strategien bezogene Dimension: die wissenschaftliche Bearbeitung wachstumskritischer Fragen. Argumente gegen Degrowth sind häufig makroökonomischer Art. In Zukunft müssen Bemühungen angestellt werden, diesen Argumenten etwas entgegenzusetzen, und zwar durch eine fundierte wissenschaftliche Erarbeitung konkreter Alternativen zum herrschenden Wirtschaftsmodell: Es muss gezeigt werden, wie ein stabiles Wirtschaftssystem auch in einer schrumpfenden Ökonomie funktionieren kann. Dies geschieht bisher nur vereinzelt.
Ökonomische Bildung und Forschung spielen eine zentrale Rolle. Diese Wissenschaft eignet sich wie keine andere dafür, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einer Postwachstumsökonomie beispielsweise auch modelltheoretisch zu reflektieren. Eine Stärkung der Zusammenarbeit mit der Wirtschaftswissenschaft ist deshalb unbedingt notwendig. Flankiert werden muss diese Zusammenarbeit von der Forderung nach einer pluralistischen Lehre und Forschung. Dadurch kann auch die Degrowth-Bewegung nur gewinnen, da sie so gesellschaftlich anschlussfähiger wird.

Anregungen für die Plurale Ökonomik: Veranschaulichung und politische Positionierung


Auch die Plurale Ökonomik muss versuchen, das sehr abstrakte Thema für die breite Bevölkerung verständlich zu erklären. Denn die Auswirkungen einer einseitigen ökonomischen Theorie und Methode greifen tief und betreffen die einzelnen BürgerInnen – sei es die Produktion von Müll, das Zulassen von Leiharbeit oder die zunehmende Ungleichheit, sei es die Ökonomisierung zahlreicher Lebensbereiche. Bedingt durch die Ausweitung und Intensivierung von Marktbeziehungen gerät der einzelne immer stärker unter Wettbewerbsdruck. Dies hat zur Folge, dass das eigene Leben in all seinen Facetten immer stärker im Geist des „Unternehmertums“ gestaltet werden muss. Tut man dies nicht, so läuft man Gefahr, letztlich als VerliererIn dazustehen, zum Beispiel keinen Arbeitsplatz zu bekommen. Deutlich zeigt sich diese Tendenz daran, dass heutige StudentInnen ihre Pläne häufig danach ausrichten, wie sich die einzelnen Schritte rückblickend im Lebenslauf darstellen werden. Um Problemlagen dieser Art verständlich zu machen, kann eine Zusammenarbeit mit kreativ-künstlerisch arbeitenden AktivistInnen förderlich sein, da diese mehr Erfahrung mitbringen, was die zugängliche Darstellung komplexer Sachverhalte anbelangt.
Von außen ist völlig unklar, für welche Gesellschaft sich die AktivistInnen des Netzwerks Plurale Ökonomik einsetzen. Doch ohne eine klare Vision einer guten Gesellschaft ist sowohl Kritik als auch Pluralismus willkürlich. Hier könnte es helfen, wenn sich die Plurale Ökonomik klar zur Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Transformation bekennen würde. Dadurch würde deutlich gemacht werden, dass sozial-ökonomische wie ökologische Missstände gleichermaßen berücksichtigt werden müssen. Außerdem würden sich dadurch viele Anknüpfungspunkte hinsichtlich sozialer Bewegungen ergeben. Inwiefern eine solche politische Positionierung auch strategisch sinnvoll ist, bleibt zu hinterfragen.
Gemeinsam das Zeitfenster nutzen: in den Wirtschaftswissenschaften und in der Zivilgesellschaft ansetzen
Ausgelöst durch die zahlreichen Krisen und unterstützt durch die seit dreißig Jahren andauernde Ökonomisierung der alltäglichen Lebensbereiche bei steigender Ungleichheit ist die Zivilbevölkerung vermehrt auf der Suche nach Alternativen. Dieses Zeitfenster könnte genutzt werden, um gemeinsam gegen die Folgen der „alternativlosen“ Ökonomisierung zu kämpfen.
Auf der einen Seite könnte dabei auf einer theoretischen Ebene die Rolle der Wirtschaftswissenschaften kritisch beleuchtet werden. Die Ökonomisierung hat dort ihre theoretische Heimat. Durch die systematischen Analysefehler der Mainstream-Ökonomie, die durch deren blinde Flecken entstehen, werden ökologische Zerstörung, Individualisierung und Wettbewerb wie auch soziale Ungleichheit befördert. Neue ökonomische Konzepte sind erforderlich, die die Erarbeitung konkreter Alternativen ermöglichen.
Auf der anderen Seite könnte die Degrowth-Bewegung durch ihre Kritik am Wirtschaftswachstum als Leitbild politischen Handelns eine auf die lebensweltliche Praxis ausgerichtete Debatte über die Bedürfnisse von Individuen und Gesellschaften eröffnen. Die Menschen würden dabei in ihren konkreten Lebenssituationen und mit ihren Konflikten abgeholt und durch ein neues Versprechen der Integrität und Bedürfnisbefriedigung motiviert für eine Transformation. Wichtig erscheint es, dabei den Gegensatz von Sozialem und Ökologie aufzulösen und deren Verwobenheit als fruchtbare Umarmung zu denken.
Neben einer gemeinsamen Vision können sich beide Ansätze, Plurale Ökonomik und Degrowth, bildungspolitisch ergänzen. Während Ökonomiekritik vor allem an Hochschulen stattfindet, konzentriert sich die Kritik der lebensweltlichen Praxis auf die Zivilgesellschaft. Beide gehen davon aus, dass die Befähigung der Menschen, ihre Biografien und ihr politisches Umfeld zu reflektieren und die aktuellen Missstände zu erkennen, der erste Schritt auf dem Weg zur kollektiven Erarbeitung konkreter Alternativen darstellt.
Organisatorisch ist es nicht sinnvoll, beide Ansätze „offiziell“ unter einem gemeinsamen Dach zu vereinen. Stattdessen kann es zielführend sein, dass sich beide auf ihre jeweiligen strategischen Ausrichtungen konzentrieren. Dadurch wären sie von außen weniger angreifbar und hätten jeweils ein klares konsistentes Label und ebensolche Zielgruppen und Verantwortungsbereiche. Lediglich auf der persönlichen Ebene, durch die Organisation gemeinsamer Veranstaltungen, das Engagement innerhalb gemeinsamer Projekte und Institutionen und das Pflegen persönlicher Netzwerkwerke, könnte die Transformation gemeinsam gedacht werden und eine Verzahnung der verschiedenen Strategien stattfinden. Diese Räume sind zu Teilen bereits vorhanden, nun müssen sie mit Inhalten gefüllt werden.

Links


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> International Student Initiative for Pluralism in Economics
> Real World Economics Review

Verwendete und weiterführende Literatur


Dürmeier, Thomas; von Egan-Krieger, Tanja; Peukert, Helge 2006. Die Scheuklappen der Wirtschaftswissenschaft. Postautistische Ökonomik für eine pluralistische Wirtschaftslehre. Marburg: Metropolis.

00 Degrowth in Bewegung(en)

01 Einleitung

02 15M – from an autonomous perspective

03 Anti-Kohle-Bewegung

04 Artivism

05 Attac

06 Buen Vivir

07 Care Revolution

08 Commons-Bewegung

09 Degrowth

10 Demonetarisierung

11 Ernährungssouveränität

12 Flucht- und migrationspolitische Bewegung

13 Freie-Software-Bewegung

14 FUTURZWEI

15 Gemeinwohl-Ökonomie

16 Gewerkschaften

17 Grundeinkommensbewegung

18 Jugendumweltbewegung

19 Klimagerechtigkeit

20 Offene Werkstätten

21 Ökodorf-Bewegung

22 Peoples Global Action

23 Plurale Ökonomik

24 Post-Development

25 Post-Extraktivismus

26 Queer-Feministische Ökonomiekritik

27 Radical ecological democracy

28 Recht auf Stadt

29 Solidarische Ökonomie

30 Tierrechtsbewegung

31 Transition-Initiativen

32 Umweltbewegung

33 Urban-Gardening-Bewegung

34 Abschlusskapitel