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Radical ecological democracy

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Title: Betrachtungen über Degrowth aus dem Süden

By: Ashish Kothari // übersetzt von Laura Broo

Release date: 30.08.2016

Download: DIB_RED.pdf


Ashish Kothari ist Mitglied von Kalpavriksh, einer Organisation, die sich seit 1979 Umwelt- und Entwicklungsthemen in Indien widmet.
Kalpavriksh koordiniert zurzeit den Prozess Vikalp Sangam (alternatives confluence) – übersetzt etwa: Alternativen verknüpfen – in Indien, in dem mit Ecoswaraj beziehungsweise Radikaler Ökologischer Demokratie (RED) in Verbindung stehende Prinzipien und Werte weiterentwickelt werden. Ashish Kothari sitzt im Lenkungsausschuss des ICCA Consortium, eines globalen Netzwerks von Organisationen und Bewegungen, das sich für Gebiete und Regionen einsetzt, die durch indigene Bevölkerung und lokale Gemeinschaften geschützt werden. Zudem arbeitet Ashish Kothari im Vorstand von Greenpeace International und Greenpeace Indien und war Mitglied von Beyond Development, einer globalen, von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gegründeten Arbeitsgruppe. Des Weiteren koordiniert er die Nichtregierungsorganisation Vikalp Sangam, den „Peoples’ Sustainability Treaty on Radical Ecological Democracy“ (Nachhaltigkeitsvertrag der Völker zu Radikaler Ökologischer Demokratie) und betreut den RED-E-Mail-Verteiler und -Blog.
Ecoswaraj als Antwort auf den sozialen und ökologischen Bankrott des aktuell vorherrschenden Entwicklungs- und Regierungssystems
Die zahlreichen Krisen, denen sich die Menschheit stellen muss, werden zunehmend sichtbarer: in Form von Katastrophen, die aus der Umweltbelastung resultieren; in der ausgeprägten Ungleichheit zwischen einer winzigen Minderheit von Superreichen und einer großen Anzahl von äußerst armen Menschen; in mit Entbehrung und Überfluss verbundenen Epidemien; in großen Fluchtbewegungen in vielen Teilen der Welt; und in der Knappheit vieler einst reichlich vorhandener Ressourcen. Länder wie China und Indien eifern dem Verhalten der bereits industrialisierten Nationen nach, durch das der Planet immer weiter unter Druck gesetzt wird und mit dem sie schwächere Regionen der Erde kolonialisieren. Vor diesem Hintergrund besteht ein dringender Bedarf, alternative Wege zum Wohlergehen zu finden, die nachhaltig, gleichberechtigt und gerecht sind.
Als Spezies müssen wir ohne Zweifel das Wachstum reduzieren – nicht nur unseretwegen, sondern auch für die Millionen anderer Spezies, die mit uns die Erde bewohnen. Es ist also an der Zeit, über Degrowth im Hinblick auf die gesamte Menschheit zu sprechen und gewiss auch spezifisch bezogen auf den globalen Norden, der zu viel verbraucht und zu viel wegwirft.
Aber ist Degrowth – beziehungsweise das Reduzieren von Material- und Energieverwendung für den menschlichen Gebrauch – eine berechtigte und praktikable Strategie für den globalen Süden, das heißt für Länder und Bevölkerungsgruppen (einschließlich einiger industrialisierter Nationen), die noch kein exzessives oder noch nicht einmal ein akzeptables Wohlstandsniveau erreicht haben? Vielleicht nicht. Diese Regionen müssen ihre eigenen Visionen und Wege der Veränderung finden. Ich werde hier über einen dieser Wege sprechen, nämlich über Ecoswaraj oder auch Radikale Ökologische Demokratie (RED, englische Abkürzung für: radical ecological democracy), die aus praktischen und konzeptuellen Prozessen heraus entsteht, wie sie in viele Teilen Indiens gängig sind.
Indien sieht sich heute auf dem Sprung in die Elite der wirtschaftlichen Supermächte. Neben China verzeichnet es die höchsten Wachstumsraten der letzten beiden Jahrzehnte. Die Umwelt und hunderte Millionen Menschen, die unmittelbar von der Umwelt abhängig sind, mussten dafür jedoch einen hohen Preis bezahlen (vgl. Shrivastava/Kothari 2012). Außerdem hat es zu einer tiefen Spaltung zwischen Arm und Reich geführt, sodass ein Prozent der Bevölkerung nun fünfzig Prozent des Reichtums des Landes besitzt, während mindestens zwei Drittel der Bevölkerung auf die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse verzichten müssen und hundert Millionen junger Menschen, die gerade in den Arbeitsmarkt eingetreten sind, von Arbeitsmangel betroffen sind.
Das Problem liegt teilweise im Wachstumsfetisch: Eine Wirtschaftspolitik, die davon ausgeht, dass Wachstum wie durch Zauberhand dazu führen wird, dass die Armen die Armutsgrenze durchbrechen und alle Menschen produktive Arbeitsplätze bekommen, ist grundlegend falsch. Sie lässt außer Acht, dass ein Großteil der Gewinne von den bereits Wohlhabenden gebunkert werden könnte, dass die Mechanisierung die Schaffung neuer Arbeitsplätze wettmachen und Inflation die Situation für den Großteil der Bevölkerung verschlimmern könnte. Dies geht einher mit der zunehmenden Reduzierung von staatlichen Basisleistungen – diese werden zunehmend privatisiert – und mit schwerwiegenden Ineffizienzen und Korruption bei sämtlichen noch existierenden staatlichen Versorgungsleistungen. All dies basiert auf einer zutiefst hierarchischen Gesellschaft, mit unvorstellbarer Unterdrückung und Ausbeutung der „unteren“ Kasten, von Frauen und Landlosen.
Ökologischer Selbstmord ist ebenso Teil dieser Geschichte der „Entwicklung“ wie Entbehrung und Ungleichheiten. Die globale Geschichte der Menschheit, die in vielerlei Hinsicht die Grenzen des Planeten überschreitet, spiegelt sich auch in Indien wider. Das wird nicht zuletzt in zwei Berichten offenbar, die nicht etwa von Umweltaktivist_innen, sondern von eben jenen Institutionen stammen, die sonst ungezügeltes Wachstum fördern. Der indische Industrieverband hat 2008 (zusammen mit dem Global Footprint Network) festgestellt, dass Indien bereits doppelt so viele natürliche Ressourcen verbrauche, wie die Natur langfristig zur Verfügung stellen könne. Und 2013 berichtete die Weltbank, dass Umweltschäden das BIP-Wachstum um 5,7 Prozent reduzieren; berücksichtigt wurden dabei nur ausgewählte Aspekte wie etwa die Auswirkung auf die Gesundheit der Menschen. Würden sämtliche Auswirkungen solcher Umweltschäden einbezogen, so würden wir uns wahrscheinlich, selbst mittels der begrenzten Methodologie der Umweltökonomik, in einer tatsächlichen Phase des Negativwachstums befinden.
Die Gemeinschaften und die Zivilgesellschaft in Indien finden sich jedoch nicht einfach mit alldem ab. Zu jedem Zeitpunkt der letzten beiden Jahrzehnte gab es mehrere Hundert kleine bis große Widerstandsbewegungen: von einigen wenige Familien, die ihr Land nicht der Industrie vermachen wollten, bis hin zu Tausenden von Menschen, die gegen ein riesiges Staudammprojekt protestierten; vom Kampf von Dalits (den sogenannten „Unberührbaren“ auf der untersten Stufe der Kastenhierarchie) und Frauen für grundlegende Menschenrechte bis hin zu Studierendenprotesten gegen den Rückgang der staatlichen Unterstützung in Bildungseinrichtungen. Gleichzeitig entwickeln die Menschen innovative und positive Veränderungen in ihrem Leben, entweder alleine oder mit Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Organisationen oder gelegentlich sogar von den Regierungen. Ecoswaraj beziehungsweise die Idee der Radikalen Ökologischen Demokratie (RED) ist aus eben diesen Initiativen des Widerstands (sangharsh) und des Wideraufbaus und Wandels (nirman) entstanden.
Der Begriff „Swaraj“ heißt, frei übersetzt, so viel wie „Selbstregierung“, wobei es weit mehr als ein Regierungskonzept ist und sich auf ein Zusammenspiel von individueller und kollektiver Autonomie, gegenseitiger Verantwortung und Rechten und Pflichten bezieht. Obwohl das Konzept bereits vor seiner Zeit existierte, hat Gandhi es populär gemacht: einerseits als Bestandteil des indischen Freiheitskampfes gegen die britische Kolonialmacht; andererseits in seinem wegweisenden Buch „Hind Swaraj“, als zivilisatorisches Ethos, das die oben genannten Elemente umfasst. Ich selbst habe das Präfix „Eco-“ hinzugefügt – zusammen also: Ecoswaraj –, um das Prinzip der ökologischen Weisheit und Widerstandsfähigkeit in dieses politische und kulturelle Ethos zu integrieren. Ecoswaraj beziehungsweise Radikale Ökologische Demokratie mündet in eine Gesellschaft, in der alle Menschen und Gemeinschaften an den Entscheidungen, die ihr Leben beeinflussen, teilhaben (radikale oder direkte Demokratie), indem sie umweltbewusst und sozial gerecht handeln. Im Folgenden werde ich Beispiel nennen und Schlüsselelemente dieses Konzepts erläutern.
Ecoswaraj beziehungsweise Radikale Ökologische Demokratie ist ein neu entstehendes Rahmenwerk für Gemeinschaften und Organisationen, die alternative Visionen und Wege erforschen
In den Trockengebieten Andhra Pradesh und Telangana in Südindien haben Kleinbäuer_innen, darunter auch Dalit1 -Frauen, der Deccan Development Society ihr Leben grundlegend verändert, indem sie mittels eigenen Saatguts die ökologische Landwirtschaft wiederbelebt und dadurch vollständige Ernährungssouveränität erlangt haben. Zusätzlich haben sie die Ressourcen und die Arbeit kollektiviert, Grundrechte gesichert, Kooperativen und Unternehmen gegründet, um bessere Verträge aushandeln zu können, gemeinschaftlich verwaltete Medienkanäle (Filme, Radio) betrieben und ihre traditionelle soziale Stigmatisierung abgeschüttelt.
In den Waldflächen von Maharashtra in Zentralindien haben einige Gemeinschaften wie zum Beispiel die Mendha-Lekha eine indigene (adivasi) Selbstregierung ausgerufen, die umliegenden Wälder wieder unter ihre Kontrolle gebracht, eine nachhaltige Forstwirtschaft von Bambus und anderen Walderzeugnissen angestoßen, daraus resultierende Gewinne für eine bessere Energiegewinnung, Lebensgrundlagen und Ernährungssicherheit eingesetzt und alle Privatflächen in Allmenden verwandelt.
In Pune, Bangalore, Delhi und anderswo kämpfen Vereine auf kommunaler und nationaler Ebene für die Rechte von Straßenhändler_innen, Rikscha-Fahrer_innen, Müllsammler_innen und anderen marginalisierten Gruppen auf urbane Lebensräume und Dienstleistungen sowie bessere Lebens- und Wohnbedingungen.
Im Gegensatz zum herkömmlichen Bildungssystem ermöglichen manche Lern- und Bildungseinrichtungen den Studierenden, mit ihren kulturellen und ökologischen Wurzeln in Verbindungen zu bleiben und sich gleichzeitig mit modernen Themen und Fähigkeiten auseinanderzusetzen beziehungsweise sich diese anzueignen. Einige Beispiele dafür sind die Adivasi Academy in den indigenen Regionen im westindischen Bundesstaat Gujarat und SECMOL in der Höhenregion Ladakh.
Dies sind nur einige wenige Beispiele, aber es gibt zahlreiche weitere von Gemeinschaften, Behörden, Unternehmen und Individuen, die umweltbewusste und sozial gerechte Wege der Ernährungs- und Wassersicherheit, besserer Lebensbedingungen und Arbeitsplätze, des Schutzes der Natur und der natürlichen Ressourcen, der Produktion und der Dienstleistungen und anderer Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft aufzeigen. Eine ganze Bandbreite alternativer Medien, Künste und anderer Ausdrucksformen menschlicher Kreativität stellen sich in ihren Dienst. Dabei handeln keineswegs nur jene, die sich in einer verzweifelten Lage oder Krise befinden. Auch die städtische Mittelschicht setzt sich zunehmend für eine verantwortungsbewusste Lebensweise ein: indem sie sich für die Wiederbelebung urbaner Feuchtgebiete engagiert, ihre Abfälle recycelt und dezentralisiert Wasser sammelt und indem sie ihr Recht auf Teilhabe an der Stadtplanung durch Bürgerhaushaltsprozesse geltend macht.
Ich und einige andere haben die oben genannten Initiativen im Detail bereits in mehreren Publikationen beschrieben (vgl. Shrivastad /Kothari 2012; Kothari 2014; Kalpavriksh 2015).2 Natürlich sind sie nicht perfekt (zum Beispiel ist die Gleichberechtigung von traditionell unterprivilegierten Gruppen in vielen Fällen unzureichend). Sie sind in den meisten Fällen klein und verstreut, große Regionen werden somit nicht abgedeckt. Sie zeigen jedoch in zunehmendem Maße das Potenzial der Alternativen auf. Viele Initiativen haben durch den Anstoß politischer Veränderungen und durch Netzwerkarbeit eine große Reichweite erlangt. Mehr als ein Dutzend Bundesstaaten in Indien haben inzwischen politische Maßnahmen oder Programme zur Förderung der ökologischen Landwirtschaft aufgesetzt (im Haushalt 2016 hat sogar zum ersten Mal die Zentralregierung diesen Bereich berücksichtigt). Zusammen mit der in den Städten wachsenden Nachfrage nach gesunden Lebensmitteln hat zweifellos die Tatsache, dass Bäuer_innen mit gutem Beispiel vorangegangen waren, einen Beitrag dazu geleistet. In ähnlicher Weise hat die Politik auf die Erfolgsgeschichten von Basisbewegungen im Bereich der erneuerbaren Energien reagiert, indem sie die finanzielle Unterstützung für diesen Bereich deutlich ausgebaut hat – wenn auch oft fehlerhaft, etwa wenn sie den neuen Energiesektor in die Hände von Großunternehmen gelegt hat.
Ich habe zahlreiche Initiativen besucht, dokumentiert und unterstützt und bin seit 35 Jahren Teil von Widerstandbewegungen. Deswegen glaube ich, dass die wichtigste Aufgabe darin liegt, die Essenz dieser Initiativen zu erkennen und herauszufinden, ob ihre Werte und Prinzipien auf einen zusammenhängenden Rahmen hindeuten, der die zurzeit vorherrschende Denk- und Verhaltensweise der wachstumszentrierten „Entwicklungsmentalität“ („developmentality“) infrage stellen kann.
Seit 2014 haben mehrere Hundert Aktivist_innen und Denker_innen (damit sind natürlich keine exklusiven Kategorien gemeint!) in einer Reihe von Dialogen und Zusammentreffen namens Vikalp Sangam (alternatives confluence, Alternativen verknüpfen) dieses Rahmenwerk diskutiert und sich auf die folgenden grundlegenden Elemente oder Säulen des Wandels3 geeinigt:

All dies bildet zusammengenommen keine gängige politische oder ökonomische Ideologie. Wir benutzen Ecoswaraj als Begriff, weil Gandhis Konzept Swaraj
(und das Konzept „Economics of Permanence“ des Gandhi nahestehenden Ökonomen Kumarappa) viele für uns relevante Aspekte verbindet. Daneben sind aber auch Erkenntnisse und Kämpfe, die sich aus marxistischen Ideen, Ideen des politischen und geistigen Führers der Dalits B. R. Ambedkar, von Rabindranath Tagore, von M. N. Roy und anderen ableiten, ein entscheidender Bestandteil des Erbes dieser Initiativen. Ausschlaggebend ist, dass die indigenen Vordenker_innen, Gemeinschaften und andere Aktive ihr Handeln und Denken auf ihre je eigenen unterschiedlichen Situationen gründen. Daraus entsteht eine Grundlage gemeinsamer Werte, die über jegliche etablierte Ideologie hinausgeht. Diese Werte beinhalten unter anderem: kollektives Arbeiten und Solidarität; Achtung der Vielfalt und Pluralismus; die Würde der Arbeit; Empathie und Respekt vor der übrigen Natur; Einfachheit; Gleichberechtigung und Gerechtigkeit; Verantwortlichkeit; Eigenständigkeit.
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1 Indiens am stärksten unterdrückte Gruppe, die sogenannten „Unberührbaren“ oder Harijans, die gegen die Jahrhunderte alte Marginalisierung ankämpfen. In diesem Sinne sind Dalit-Frauen doppelt benachteiligt, denn auch die Geschlechterhierarchien sind nach wie vor stark ausgeprägt.

2 Siehe außerdem die Webseite www.alternativesindia.org und die Blogbeiträge zu „Resistance and Reconstruction“ auf http://indiatogether.org/columns/ecommentary.

3 Diese sind in ein Rahmenwerk aus Elementen, Werten, Strategien und anderen Aspekte einer holistischen alternativen Vision eingebettet, die sich im Zuge des Vikalp-Sangam-Prozesses weiterentwickelt (vgl. http://kalpavriksh.org/images/alternatives/Alternativesframework4thdraftMarch2016.pdf.). Grundlage ist zudem der „Peoples’ Sustainability Treaty on Radical Ecological Democracy“ (http://www.radicalecologicaldemocracy.org/). Dabei ist zu beachten, dass die Initiativen, auf die sich diese Vision stützt, nicht zwingend den Begriff Ecoswaraj (beziehungsweise Radikale Ökologische Demokratie) benutzen. Dieser Begriff ist aus unserer eigenen Arbeit heraus entstanden und obwohl er immer breitere Akzeptanz findet, soll er keineswegs dazu dienen, den verschiedenen Arten und Weisen, mit denen Menschen Prinzipien oder Weltansichten ausdrücken, ein einheitliches Etikett zu verpassen.

Die Prinzipien von Ecoswaraj und Degrowth stehen im Einklang miteinander und bergen das Potenzial für weitere Kooperationen
Trotz meines nur begrenzten Verständnisses des Konzepts und der Praxis von Degrowth glaube ich, dass es in vielerlei Hinsicht im Einklang mit Ecoswaraj beziehungsweise Radikaler Ökologischer Demokratie steht. Aber es gibt auch grundlegende Unterschiede. Denn ein allgemeines Degrowth-Konzept ist für den globalen Süden eher nicht angemessen oder vertretbar, wo Entbehrungen auf der Ebene der Grundbedürfnisse Realität sind. Ein wichtiger Schritt für uns alle ist, dass wir uns die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der alternativen Ansätze anschauen, einschließlich Ecoswaraj, Degrowth, Buen Vivir, solidarischer Ökonomien und weiterer. Mit den „Peoples’ Sustainability Treaties“ (Nachhaltigkeitsverträge der Völker) hat eine zivilgesellschaftliche Initiative rund um die Rio-plus-20-Konferenz den Anfang gemacht; in den kommenden Jahren wird jedoch noch sehr viel mehr Netzwerken und gemeinsames Arbeiten erforderlich sein.

Ashish Kothari über Wachstum und Degrowth in Indien.
Einige wichtige Fragen, die es in Hinblick auf (zukünftige) Formen der Zusammenarbeit zu stellen gilt, sind: Welche gemeinsamen historischen Faktoren finden sich in den Erfahrungen des globalen Nordens und Südens (zum Beispiel Kolonialismus und Kapitalismus) und welche grundlegenden Unterschiede (etwa spirituelle Traditionen, Weltanschauungen)? Was sind die Grundlagen der verschiedenen Initiativen, die eine Alternative zu den derzeit vorherrschenden Systemen anstreben? Welche davon haben der globale Norden und Süden gemein (wie Solidarität und kollektive Aktion) – welche nicht (zum Beispiel auf Überleben und Grundbedürfnisse ausgerichteter Umweltschutz der Marginalisierten einerseits, auf Nachhaltigkeit ausgerichteter Umweltschutz der verhältnismäßig Wohlhabenden andererseits)? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es bei ethischen Werten? Solcherlei Fragen sollten gestellt und beantwortet werden – und zwar nicht etwa in abstrakter Form, sondern auf Grundlage der Kenntnis praktischer Initiativen vor Ort in unterschiedlichen Umgebungen.
Diese Art der Zusammenarbeit ist unter anderem wichtig für uns, damit wir uns gemeinsam für grundlegende Alternativen zur weltweit geförderten „grünen Ökonomie“, „grünem Wachstum“ und „nachhaltiger Entwicklung“4 einsetzen können, damit wir zeigen können, dass es andere tragfähige Wege gibt, die sich nicht auf kapitalistische oder vom Staat dominierte Rahmenwerke beschränken (vgl. Kothari u. a. 2015). Dafür ist es notwendig, dass wir enger zusammenarbeiten und dass wir uns aktiv um wechselseitiges Verstehen der unterschiedlichen Kontexte und Initiativen bemühen. Es wäre sicherlich faszinierend und gewinnbringend, wenn Gruppen aus Aktivist_innen und aktivistischen Wissenschaftler_innen sich verschiedene Basisinitiativen anschauen und einige der oben genannten Fragen stellen würden. Manches davon wird Bestandteil eines neuen Projektes zu Umweltgerechtigkeit des dem Internationalen Rat für Sozialwissenschaften zugehörenden Transformative Knowledge Network sein5 : Alternative Konzepte und Weltanschauungen, die weltweit in verschiedenen Bewegungen für Umwelt- und soziale Gerechtigkeit entstehen, sollen untersucht und miteinander in Dialog gebracht werden.
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4 Ende 2015 fand das Ziel nachhaltiger Entwicklung sogar die „offizielle“ Zustimmung auf höchster Ebene der UN.

5 Koordiniert wird das Projekt vom Institut für Umweltwissenschaft und Technologie der Universitat Autònoma de Barcelona und der indischen Nichtregierungsorganisation Kalpavriksh (http://www.worldsocialscience.org/activities/transformations/acknowl-ej/ ).

Vielfältige lokal verankerte Konzepte können einander inspirieren
Alternative Weltanschauungen oder Konzepte entstehen immer in einem besonderen sozio-kulturellen, ökologischen, ökonomischen und politischen Kontext und können nicht eins zu eins in einem anderen Kontext repliziert oder angewandt werden. Ich bin jedoch durchaus der Meinung, dass allgemeine Prinzipien, Werte und Kenntnisse erfolgreich angewandt werden können. Der Schwerpunkt des Reduzierens, des „Weniger“, der Degrowth-Bewegung kann zum Beispiel auch im globalen Süden nützlich sein – bezogen nämlich auf jene Klassen, die überkonsumieren, oder allgemein auf diejenigen Volkswirtschaften, wie China und Indien, die in mancherlei Hinsicht nicht mehr nachhaltig funktionieren. In ähnlicher Weise kann der Norden einiges lernen unter anderem von indigenen Traditionen aus dem Süden, die Wege aufweisen, wie in der Natur gelebt werden kann, in denen einige Aspekte des einfachen Lebens noch lebendig und holistische Wissenssysteme, die empirische, spirituelle und wissenschaftliche Elemente verbinden, noch ausgeprägt sind. Das ist etwa der Fall bei verschiedenen indigenen Völkern, die nach wie vor in ihren angestammten Lebensräumen leben.
Aus der tiefgehenden Bedeutung von Swaraj – mit ihrer komplexen Integration von Freiheit, kollektiver Verantwortung, Eigenständigkeit und Autonomie – könnten viele Demokratien des globalen Nordens und auf Menschenrechten basierende Gesellschaftssysteme etwas lernen. Damit könnten Alternativen zum extremen Individualismus und der sozialen Entfremdung entwickelt werden, unter denen der globale Norden leidet – und die momentan zu oberflächlichen Lösungen führen, wie Recycling zu fördern, ohne dabei den übermäßigen Verbrauch in Frage zu stellen.
Umgekehrt können wir im globalen Süden viel von den in Europa und anderswo entstehenden solidarischen Wirtschaftsmodellen lernen: von Initiativen wie digitalen Commons-Projekten, von Café-Kooperativen und gemeinnützigen Läden der urbanen Jugend oder von Sozialunternehmen.6 Diese und weitere Initiativen aus dem „modernen“ Sektor könnten auch für die wachsende Anzahl junger Menschen im Süden, die auf der Suche nach befriedigender Arbeit im urbanen Kontext sind, interessant sein. Und natürlich gibt es auch jede Menge Spielraum für einen spannenden Austausch verschiedener südlicher Weltanschauungen. Stellt euch die Kraft von Buen Vivir, Sumac Kawsay, Swaraj, Ubuntu und unzähliger weiterer Konzepte vor, die verwoben werden, um ein diverses, aber kohärentes Ganzes zu bilden, die etwas darstellen, das attraktiv genug ist, um jene Menschen zu begeistern, die derzeit vom Konsumparadies hypnotisiert sind.
Um es noch einmal zu betonen: Wir benötigen dringend einen systematischeren Ansatz, durch den sich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Weltanschauungen und Konzepte, etwa von Degrowth und Ecoswaraj, herauskristallisieren lassen.
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6 Ich hatte das Privileg, einige davon in Griechenland, Spanien und der Tschechischen Republik besuchen zu können.

Wir haben heute Möglichkeiten, unsere Agenda gemeinsam voranzubringen: lokal und global
Es ist nicht einfach, sich ideale Zukunftsvisionen im Detail vorzustellen (über die allgemeine Wunschliste mit Nachhaltigkeit, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit, Frieden usw. hinaus). Aber wir müssen sie uns vorstellen, wenn wir die Hoffnung am Leben erhalten wollen, wenn wir unseren Standpunkt finden und Graswurzel-Initiativen anleiten wollen. Noch schwieriger ist es jedoch, spezifische und umsetzbare Wege zu dieser Zukunft zu finden. Denn sie müssen den Problemkomplex überwinden können, mit dem wir heute konfrontiert sind. Die größte Herausforderung liegt in dem starken Widerstand gegen Veränderung seitens jener, die Machtpositionen innehaben – nicht nur in den Regierungen, sondern auch im privaten Sektor und in den vorherrschenden Schichten der Gesellschaft (die im indischen Kontext auf einzigartige Weise sowohl von Kasten als auch von Klasse, Geschlecht und anderen Kategorien der Ungleichbehandlung und Diskriminierung gekennzeichnet ist).
So hoch diese Hürden auch sein mögen, die wachsende Anzahl und Reichweite von Basisinitiativen, die Widerstand gegen das System leisten und Alternativen schaffen, gibt Grund zur Hoffnung. Basisbewegungen und Organisationen der Zivilgesellschaft (einschließlich der fortschrittlichen Gewerkschaften) müssen zu Akteuren der Veränderung werden. Hin und wieder haben Abteilungen und Individuen innerhalb von Regierungen, politischen Parteien und akademischen Institutionen eine führende Rolle übernommen oder Communitys und zivilgesellschaftliche Organisationen unterstützt. Wir müssen diese Institutionen weiter dazu antreiben, eine stärkere und zudem effektivere Rolle zu spielen. Wenn Communitys und Initiativen – durch Prozesse der Dezentralisierung – im Laufe der Zeit stärker werden, werden die Parteien aus ihren Wahlkreisen größeren Druck zu spüren bekommen, ihren Fokus auf Themen eines auf Nachhaltigkeit und Gleichberechtigung basierenden guten Lebens zu legen. Dennoch habe ich das Gefühl, dass wir uns nicht allein auf die Parteien verlassen können. Denn diese sind Teil der DNA der repräsentativen Demokratie, die ihrerseits in radikale, direktere Formen der Entscheidungsfindung verwandelt werden muss.
Eine der großen Chancen unserer Generationen ist das historische Zusammentreffen des Lokalen und des Globalen. Auf der einen Seite finden sich lokal verankerte Bewegungen, von denen ich einige erwähnt habe; auf der anderen Seite lässt sich eine wachsende Mobilisierung rund um globale Themen wie Klimawandel, das globale Finanzsystem, Industriemonopole im Bereich der Lebensmittel und der Landwirtschaft und die Hegemonie multinationaler Konzerne feststellen. Die Bedingungen der gegenwärtigen Welt fördern lokale und zugleich globale Anschauungen, die sich gegenseitig stärken. Mehr als je zuvor sind wir spürbar sowohl Teil lokaler Communitys als auch der menschlichen Gemeinschaft oder, noch weitreichender, der Gemeinschaft des Lebens –genauso wie lokale Ökosysteme Teil eines globalen ökologischen Systems sind. Mit jeder neuen globalen Krise erweitert sich unser Bewusstsein für unsere wechselseitige Abhängigkeit, und damit wächst auch die Chance für das Entstehen einer größeren gemeinsamen Sache. Wenn die weltweit entstehenden Bewegungen – die auf verschiedenen, aber überlappenden (alten und neuen) Weltanschauungen beruhen und heute ideologisch orthodoxe Standpunkte überschreiten – zusammenfinden, dann gibt es große Hoffnung, dass Wege zu einer besseren Zukunft gefunden und eingeschlagen werden können.

Links


> Vikalp Sangam – Alternatives India
> Radical Ecological Democracy – Searching for alternatives to unsustainable and inequitable model of „development“

Verwendete und weiterführende Literatur


Kalpavriksh 2015. Vikalp Sangam: In Search of Alternatives (Posterpräsentation, erhältlich als Buch und PDF).
<http://www.kalpavriksh.org/index.php/13-home?limit=8&start=8>
Kothari, Ashish 2014. Radical Ecological Democracy: A Path Forward for India and Beyond. Development 57(1): 36-45.
Kothari, Ashish; Demaria, Federico; Acosta, Alberto 2015. Buen Vivir, Degrowth and Ecological Swaraj: Alternatives to Sustainable Development and the Green Economy. Development, 57(3-4): 362-375.
Shrivastava, Aseem; Kothari, Ashish 2012. Churning the Earth: The Making of Global India. Delhi: Viking/Penguin India.

00 Degrowth in Bewegung(en)

01 Einleitung

02 15M – from an autonomous perspective

03 Anti-Kohle-Bewegung

04 Artivism

05 Attac

06 Buen Vivir

07 Care Revolution

08 Commons-Bewegung

09 Degrowth

10 Demonetarisierung

11 Ernährungssouveränität

12 Flucht- und migrationspolitische Bewegung

13 Freie-Software-Bewegung

14 FUTURZWEI

15 Gemeinwohl-Ökonomie

16 Gewerkschaften

17 Grundeinkommensbewegung

18 Jugendumweltbewegung

19 Klimagerechtigkeit

20 Offene Werkstätten

21 Ökodorf-Bewegung

22 Peoples Global Action

23 Plurale Ökonomik

24 Post-Development

25 Post-Extraktivismus

26 Queer-Feministische Ökonomiekritik

27 Radical ecological democracy

28 Recht auf Stadt

29 Solidarische Ökonomie

30 Tierrechtsbewegung

31 Transition-Initiativen

32 Umweltbewegung

33 Urban-Gardening-Bewegung

34 Abschlusskapitel