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Queer-Feministische Ökonomiekritik

Dib queerfem plakate 2

Title: Queer-feministische Ökonomiekritik: Ohne geht es nicht: Radikalität, Kapitalismuskritik und ein feministischer Grundkonsens

By: trouble everyday collective

Release date: 21.06.2016

Download: DIB_Queer-Femi.pdf


Das trouble everyday collective ist eine Gruppe aus Berlin. Wir teilen den Ansatz der queer-feministischen Ökonomiekritik und versuchen, diesen weiterzudenken und in politische Praxis zu übersetzen.
Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine Bewegung und es gibt auch keine klare interne Organisierung. Daher können und wollen wir nicht für alle sprechen, die diesen Standpunkt teilen. Somit umfasst dieser Text explizit nur unsere Perspektive. Wir haben diesen Text kollektiv geschrieben, es wurden mehrere Aktivistinnen direkt angefragt, um sich zu beteiligen, außerdem gab es über Gruppenlisten die Möglichkeit mitzumachen. Das trouble everyday collective hat unter anderem das Buch „Die Krise der sozialen Reproduktion. Kritik, Perspektiven, Strategien und Utopien“ geschrieben und organisiert Workshops und Diskussionszusammenkünfte zu queer-feministischer Ökonomiekritik.
Emanzipatorische Politik muss die kapitalistische Trennung in Produktion und Reproduktion überwinden und solidarische, kollektive Strukturen aufbauen
Im Zentrum queer-feministischer Ökonomiekritik steht wie bei vielen sozialen Bewegungen die Frage: Wie kann die Gesellschaft so organisiert sein, dass sie ein gutes Leben für alle ermöglicht? Aus der Perspektive queer-feministischer Ökonomiekritik ist es die kapitalistische Produktionsweise in ihrer Verschränkung mit anderen Herrschaftsverhältnissen, die diesem Ziel entgegensteht.
Die Entwicklung hin zum Kapitalismus ging historisch nicht nur mit der Trennung der Arbeiter*innen von den Produktionsmitteln, sondern auch mit der Trennung von Produktions- und Reproduktionssphäre einher. Produktive Arbeiten sind öffentlich sichtbar und gesellschaftlich anerkannt, gelten als männlich und werden entlohnt. Demgegenüber stehen reproduktive Arbeiten: kochen, putzen, Fürsorge, Kinder erziehen, kranke und alte Menschen pflegen (Care) und Selbstsorge. Diese werden im Privaten von Frauen verrichtet, sind nicht oder niedrig entlohnt, unsichtbar und genießen kaum gesellschaftliche Anerkennung. Die Sphärentrennung ist fundamental wichtig für das Funktionieren des Kapitalismus: Reproduktive Arbeit dient dem Zweck, die Arbeitskraft der Menschen aufrechtzuerhalten. Diese sollen so für sich und ihre Familien sorgen, dass sie am nächsten Tag und langfristig wieder fit für die Lohnarbeit sind. Das Aufziehen von Kindern stellt sicher, dass auch zukünftig genug Arbeitskräfte vorhanden sind.
Es gibt zwei zentrale Gründe dafür, dass diese Arbeiten von den produktiven Arbeiten abgegrenzt und niedriger oder nicht entlohnt werden. Zum einen ist die Aufrechterhaltung der Arbeitskraft aus Sicht des Kapitals ein Kostenfaktor, der den Profit mindert und deshalb gering gehalten werden soll. Zum anderen kann Reproduktionsarbeit, die auf dem Markt erbracht wird, nur bis zu einem gewissen Grad automatisiert und profitabel organisiert werden: Zwar können viele Pflegearbeiten, wie die neoliberale Entwicklung gezeigt hat, auch erwerbsförmig von Dienstleister*innen erbracht werden. Die Profitspanne in diesen Bereichen ist allerdings nicht gleichermaßen zu steigern wie in der Produktionssphäre. Kranke Menschen lassen sich eben nicht „schneller“ pflegen, ohne dass dies unter inhumanen Bedingungen geschieht. Und auch die Versuche, dies dennoch zu tun (Berichte über Vernachlässigung in Pflegeheimen sind keine Seltenheit), müssen zwangsläufig an Grenzen stoßen, die das menschliche Leben setzt. Deshalb ist es kosteneffizienter, wenn eine Gruppe von Menschen (meistens Frauen) diese Arbeiten kostenlos zu Hause oder sehr gering entlohnt verrichtet. Das hierarchische Geschlechterverhältnis mit seinen historisch entstandenen „Geschlechtscharakteren“ (Hausen 1976) liefert dafür die ideologische Legitimation: Demnach seien Frauen natürlicherweise empathischer, fürsorglicher und emotionaler und deshalb viel besser für Kindererziehung und Haushalt geeignet. Diese Ideologie ist auch der Grund, warum Frauen in Care-Berufen schlechter bezahlt werden als in anderen Berufszweigen – aus der Sicht des Kapitals ebenfalls eine günstige Konstellation.
Zwar sieht der heutige neoliberale Kapitalismus – im Unterschied zum Familienernährer-Hausfrau-Modell des westdeutschen Fordismus der 1950er Jahre – ein „adult worker model“ vor: Alle Erwachsenen, auch Frauen, sollen einer Lohnarbeit nachgehen. Die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung und die Trennung Produktion – Reproduktion bleibt jedoch trotzdem bestehen. Das zeigt sich unter anderem daran, dass das neue Arbeitsregime für die lohnarbeitenden Frauen vielfach eine Doppelbelastung darstellt: Nach Feierabend wartet zu Hause die Repro-Schicht. Diejenigen, die es sich leisten können, geben die anfallenden Arbeiten an migrierte und/oder rassistisch diskriminierte Arbeiterinnen weiter. Rassismus und restriktive Migrationsregimes liefern die Grundlage für deren Ausbeutung. Der Zugang von deutschen Mittelschichtsfrauen zur Erwerbsarbeit hatte also (fast) keine Umverteilung der Reproduktionsarbeit zwischen den Geschlechtern zur Folge, sondern zwischen Frauen.
Aus diesen Gründen problematisiert queer-feministische Ökonomiekritik die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung und die Trennung in Produktion und Reproduktion. Diese beiden Polarisierungen sind zentral für das Verständnis von Geschlecht und des Kapitalismus, und sie stehen einem guten Leben für alle im Wege. Gleichzeitig macht queer-feministische Ökonomiekritik aber auch deutlich, dass ein gutes Leben für alle im Kapitalismus prinzipiell nicht möglich ist, weil menschliche Bedürfnisse hier nicht im Zentrum der Produktion stehen: Produziert wird, was Profit abwirft, und nicht, was Menschen brauchen oder sich wünschen. Bedürfnisse werden befriedigt, insofern dies notwendig ist, um die Arbeitskraft aufrechtzuerhalten – sie bleiben allerdings stets zweitrangig und werden auch nur selektiv bedient. Denn während hochqualifizierten Angestellten in Technologiezentren ihre Ausbeutung durch einen hohen Lohn und alle Annehmlichkeiten eines modernen Büros versüßt wird, sterben täglich Menschen aufgrund von katastrophalen Arbeitsbedingungen und Naturzerstörung. Deshalb ist es in der politischen Praxis wichtig, Bedürfnisse ins Zentrum zu stellen und davon ausgehend eine Gesellschaft zu entwerfen, die einen Raum für deren Befriedigung bietet. An diesem Entwurf können sich Kämpfe im Hier und Jetzt ausrichten, denn politische Bewegungen, die dieses Ziel nicht vor Augen haben, können die gesellschaftliche Transformation nicht nachhaltig vorantreiben.

Bewegungsgeschichte


Historisch entstand queer-feministische Ökonomiekritik in marxistisch orientierten Zusammenhängen innerhalb der Zweiten Frauenbewegung. So hatte die sogenannte Hausarbeitsdebatte in den 1970er und 1980er Jahren zum Ziel, Hausarbeit zu politisieren: Dadurch sollte das Herrschaftsverhältnis, das der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung zugrunde liegt, thematisiert und aufgebrochen werden. Sie entstand aber auch aus der Kritik am Marxismus selbst: Dieser sieht oft nur die Produktionssphäre und denkt reproduktive Arbeit in der politischen Praxis nicht mit, wodurch die Sphärentrennung fortgeschrieben wird. Die Einbeziehung feministischer Ansätze in den Marxismus verändert die Perspektive auf Gesellschaft und politische Praxis grundlegend; Feminismus funktioniert nicht als bloße Ergänzung zum marxistischen Mainstream. Zudem wurde in der schwulen und lesbischen Bewegung, die eng mit feministischen Kämpfen verknüpft war, die Naturhaftigkeit von Sexualität und Geschlecht in Frage gestellt und der Zusammenhang von heterosexueller Familienstruktur und kapitalistischer Produktionsweise herausgestellt.
Das „queer“ in queer-feministischer Ökonomiekritik bezeichnet für uns die Ablehnung von Heterosexismus und Heteronormativität sowie der ontologischen Vorstellung, es gäbe eine Natur des Menschen jenseits von gesellschaftlichen Verhältnissen. Es geht dabei sowohl um eine Kritik an Zweigeschlechtlichkeit und dem System polarer Gegensätze (Zum Beispiel: schwarz – weiß, Mann – Frau, rational – irrational) als auch um das Aufzeigen der Geschichtlichkeit bestimmter Vorstellungen: Wie werden Menschen gedacht, wie werden sie mit bestimmten Charaktereigenschaften „ausgestattet“ und beschrieben? Es geht darum, hegemoniale Normalität1 zu hinterfragen, und um die Ausschlüssen, die damit notwendigerweise verknüpft sind. Und es geht darum, gesellschaftliche Diskriminierungs- und Ausbeutungsverhältnisse zu benennen, zu bekämpfen, zu überwinden.

Kollektiv und solidarisch gegen das Patriarchat


Der soziale Wandel, der zu einer befreiten Gesellschaft führt, funktioniert aus Sicht queer-feministischer Ökonomiekritik nur über den Aufbau solidarischer und kollektiver Strukturen, die Sorge- und Reproduktionsarbeit vergesellschaften. Menschen sollen in der Sorge um ihr Leben nicht auf sich allein gestellt sein. Die Strukturen dafür gilt es im Hier und Jetzt aufzubauen und zu fordern, denn sie sind es, die den gesellschaftlichen Wandel vorantreiben. Dies umfasst zum einen, den Zugang zu sozialen Infrastrukturen für alle zu ermöglichen, und zum anderen, sich im sozialen Nahfeld als Community zu begreifen und sich gegenseitig abzusichern. Dadurch wird Zeit für politische Arbeit freigesetzt. Gleichzeitig braucht es diese Strukturen, um Erfahrungen darin zu sammeln, wie eine nach-kapitalistische Gesellschaft organisiert werden kann. Wir erleben dies heute schon überall da, wo Reproduktionsarbeit kollektiv organisiert wird: Kollektive Kinderbetreuung, Hausprojekte oder solidarische Ökonomien sind Beispiele. Solche kollektiven Organisationsformen müssen ausgebaut und langfristig muss ein System sozialer Absicherung jenseits des Staates etabliert werden.
Um schon heute Verbesserungen für die Lebensbedingungen von Menschen zu erreichen, ist es richtig, Forderungen an den Staat zu stellen. Wirklich emanzipatorische Politik und ein gutes Leben für alle ist jedoch nicht möglich mit einem Staat, der darauf ausgerichtet ist, die kapitalistische Produktion abzusichern. Reformistische Forderungen sind integrierbar in die marktwirtschaftliche und heterosexistische Ordnung. Es gilt, Forderungen zu stellen, die über das Bestehende hinausreichen:
In den Diskussionen um bedingungsloses Grundeinkommen und Lohn für Hausarbeit gab es immer auch Fraktionen, die diese Forderungen derart formuliert haben, dass ihre konkrete Umsetzung nicht mit der bestehenden Ordnung vereinbar gewesen wäre. Solche nicht unmittelbar im Bestehenden umsetzbaren Forderungen dennoch zu formulieren und zu verfolgen, zielte darauf ab, solidarische Bündnisse zu organisieren, auf deren Grundlage der Rahmen des Machbaren nicht länger als absolute Grenze des Politischen hingenommen würde. Es gilt die Machtfrage zu stellen.

(Möser; Hausotter 2010)


Konkrete Kämpfe, in denen es möglich ist, die Machtfrage zu stellen, sind beispielsweise Streiks, die Commons-Bewegung oder die 4-in-1-Perspektive.
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1 Mit „hegemonialer Normalität“ meinen wir, dass Dinge, die gesellschaftlich (also herrschaftlich durchgesetzt) als normal gelten (wie Zweigeschlechtlichkeit) nicht von Natur aus normal sind, sondern normal gemacht werden. Die Meinung, dass ein bestimmter Sachverhalt normal sei, ist mit Macht ausgestattet. Deshalb konnte sie sich durchsetzen und deshalb ist es schwierig, Normalität aufzubrechen. Das macht sie „hegemonial“.

Queer-feministische Ökonomiekritik ist ein Analysestandpunkt von Akteur*innen unterschiedlicher Bewegungen
Im Folgenden möchten wir einige Bewegungszusammenhänge skizzieren, in denen oben genannte Überlegungen in den letzten Jahren verstärkt diskutiert wurden. Dabei konzentrieren wir uns auf aktuelle Entwicklungen der letzten fünf Jahre.
Ein Event, bei dem eine Vielzahl an Aktivist*innen zusammenkamen und zentrale Fragen weiterdachten, war die Veranstaltung Who Cares? in Berlin 2010. Dabei wurden viele Diskussionen aus unterschiedlichen linken, feministischen und queeren Zusammenhängen in Deutschland gebündelt. Problematisiert wurde, dass kapitalistische Ökonomie und Heteronormativität bestimmte Lebens- und Arbeitsweisen als natürlich, unveränderlich, sinnvoll oder sogar notwendig erscheinen lassen. Auch wurde die Frage gestellt, wie Sexualität, Geschlecht, Rassismus, globale Ungleichheit und Kapitalismus zusammenhängen. Es ging zudem um Care-Ökonomien im globalen Kontext, transnationale Sorgeketten, Pflegearbeiterinnen und Reproduktionstechnologien. Neben der Thematisierung von Körper- und Gesundheitspolitiken wurde auch die Debatte um Lohn für Hausarbeit aus den 1970er Jahren aufgegriffen. Links-feministische (teilweise auf Marx aufbauende) Argumentationen wurden mit dekonstruktivistischen Ansätzen zusammengebracht. Queer-feministische Kritik bot und bietet also einen Raum, in dem unterschiedliche feministische (Theorie-)Traditionen zusammenkommen können.
Neben der Theoriearbeit wurde auch beim Alltag der Aktivist*innen angesetzt. Wer macht die emotionale Arbeit in meinen Beziehungen? Wie kann für mich ein lebenswertes Leben jenseits der Kleinfamilie aussehen? Beobachtet und kritisiert wurde der Trend zur Selbstregulierung – zum Beispiel, wenn Überforderung mit mehr Sport und Entspannungsübungen ausgeglichen werden müssen, während die stressigen Anforderungen gesellschaftlich unverändert bleiben. Thematisiert wurde auch der Zusammenhang zwischen kapitalistischer Ökonomie und Gewalt.
Zu finden sind queer-feministische Ökonomiekritiker*innen auf Konferenzen, bei Diskussions- und Lesewochenenden oder in Arbeitskreisen zu linkem Feminismus. Außerdem führen sie Debatten in Bewegungszeitungen (zum Beispiel in der Arranca!). Bei FelS (Für eine linke Strömung) – heute Interventionistische Linke (IL)­– bildete sich eine Arbeitsgruppe Queer-Feminismus; es wurden queer-feministische Salons organisiert; die Gruppe Kitchen Politics veröffentlicht unter anderem Texte von Silvia Federici; die Gruppe RESPECT Berlin setzt sich für die Rechte migrantischer Hausarbeiter*innen ein; und auf der Aktionskonferenz Care Revolution 2014 in Berlin gründete sich das Netzwerk Care Revolution (siehe den Beitrag von Neumann und Winker).
Auch wurde mit explizit queer-feministischen Aktionen bei Bündnissen mitgemacht. Ein Beispiel ist das Blockupy-Bündnis 2013 in Frankfurt. Mit einem Die-in wurde in einer Frankfurter Fußgängerzone, in der Einkaufsstraße Zeil, auf geschlechtsspezifische Anforderungen aufmerksam gemacht: Aktivist*innen legten sich auf den Boden und taten so, als wären sie an Überforderung gestorben. Dies erwies sich als eine Aktionsform, die sehr niedrigschwellig zum Mitmachen anregte. Mit Sprechchören wie „Kochen, Putzen, Lohnarbeit. Und für Dich bleibt keine Zeit!“ und einem Redebeitrag wurde auf Überforderungen aufmerksam gemacht. Zugleich wurde die Aufmerksamkeit der Passant*innen genutzt, um auf die zentralen Blockupy-Demonstration hinzuweisen. Durch eine Blockadeaktion in der Zeil wurden Passant_innen unter anderem über Herstellungsbedingungen in der Bekleidungsindustrie informiert. Die Polizei griff die Besetzer*innen teilweise massiv an.
Im Umfeld queer-feministischer Ökonomiekritik wurden auch Räume eingerichtet, die nur FLT*- Personen (Frauen, Lesben, Trans*) vorbehalten sind. Zwar gehen wir nicht davon aus, dass es „das Weibliche“ von Natur aus gibt. Da aber FLT*-Personen in unserer Gesellschaft aktuell (gewaltvoll) anderen Positionen zugeordnet werden als Männer, sind im politischen Engagement Schutz- und Empowerment-Räume hilfreich und notwendig.
Gemeinsam können wir die Bedürfnisbefriedigung von Menschen ins Zentrum und Natürlichkeiten in Frage stellen
Ein gemeinsames Ziel von Degrowh und queer-feministischer Ökonomiekritik ist die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise. Vom Standpunkt queer-feministischer Ökonomiekritik ist es begrüßenswert, wenn die Bedürfnisbefriedigung aller Menschen ins Zentrum einer Bewegung gesetzt wird. Da auch die Degrowth-Bewegung festgestellt hat, dass dies unter aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen nicht gelingen kann, ist die Kritik an eben diesen Bedingungen naheliegend. Eine weitere Parallele folgt aus der geteilten Einsicht, dass Alltagspraktiken über das Bestehende hinausreichen sollten. So wird in queer-feministischen Kreisen ausprobiert, kollektiv zu wirtschaften, Sorgearbeit jenseits der Kleinfamilie zu verteilen und in Wohnprojekten zu leben. Außerdem teilen wir die Annahme, dass Historisieren sinnvoll ist, also deutlich zu machen, dass bestehende Ordnungen nicht natürlich sind: Sie können verändert werden. Wirtschaftswachstum und ein an Profit orientiertes Wirtschaftssystem ist ebenso wenig naturnotwendig wie eine Aufteilung in genau zwei Geschlechter, die zudem gegensätzliche Charaktereigenschaften haben sollen. Heterosexuelles Begehren ist genauso wenig naturgegeben wie die Notwendigkeit, Menschen in Konkurrenz zueinander zu setzen.
Skeptisch sind wir folglich gegenüber Stimmen in der Degrowth-Bewegung, die die angebliche Natürlichkeit bestimmter Produktionsweisen oder eines gewissen Konsumverhaltens betonen. Eine „Rückbesinnung auf Lebensstile früherer Generationen“ (Eversberg; Schmelzer 2015) kann kein Ziel sein. Es gibt keinen natürlichen Ursprungszustand, zu dem Menschen zurückkehren könnten. Und wir hätten auch gar kein Interesse daran, denn frühere Lebensstile waren stark geprägt von Herrschaftsverhältnissen. Zwar schätzen wir es, dass die Degrowth-Bewegung Aspekte des Bewahrens politisiert – Stichwort Umweltschutz. Wir denken allerdings, dass sich eine Politik mit dem Ziel des Bewahrens oder auch Zurückkehrens (zum Beispiel zu mehr Wäldern oder unbebauten Flächen) sehr viel sinnvoller mit der Perspektive einer Zukunft, in der anders produziert und gelebt wird, begründen lässt als mit einer verklärten Vergangenheit. Wir teilen die Kritik am Wachstum, so wie es im Kapitalismus funktioniert. Eine generelle Kritik am Wachstum teilen wir hingegen nicht: Denn Care- oder Sorgearbeit kann durchaus wachsen, in einem Maße, dass alle Care-Bedürfnisse befriedigt werden.
Die queer-feministische Ökonomiekritik kommt aus dem Feminismus, aus marxistischer und feministischer Theorie, aus queerem Widerstand gegen Diskriminierung. Sie hat dazugelernt und tut dies bis heute dadurch, dass immer wieder auf Ausschlüsse innerhalb der Bewegung aufmerksam gemacht wurde. Die Frauenbewegung hat Frauen* marginalisiert; wie andere Bewegungen war auch sie nicht homogen und von Macht- und Dominanzstrukturen geprägt. Deshalb ist uns der inkludierende Ansatz, den Degrowth verfolgt, sympathisch.
Hinsichtlich des Grundkonsenses von Degrowth, wie er auf Grundlage einer Befragung von Degrowth-Aktivist*innen formuliert wurde, lohnt ein genauerer Blick:
Wachstum ohne Naturzerstörung ist eine Illusion, daher wird in den Industrieländern Schrumpfung notwendig sein. Das bedeutet auch, dass wir auf Annehmlichkeiten werden verzichten müssen, an die wir uns gewöhnt haben. Die notwendige Transformation zu einer Postwachstumsgesellschaft muss friedlich sein und von unten kommen, sie läuft auf die Überwindung des Kapitalismus hinaus, und weibliche Emanzipation muss dabei ein zentrales Thema sein.

(Eversberg; Schmelzer 2015)


Das Ergebnis der Studie zeigt also, dass viele Aktive in der Degrowth-Bewegung Geschlecht als Kategorie wichtig nehmen. Der Bezug auf „weibliche Emanzipation“ lässt jedoch offen, wie und mit welchen Zielen die Auseinandersetzung mit Geschlecht als Herrschaftskategorie stattfinden soll. Es bleibt unklar, was mit „weiblicher Emanzipation“ gemeint ist. Die Bedeutungen, die diese Formulierung nahelegen kann, kritisieren wir zudem: Zum einen reproduziert „weibliche Emanzipation“ die Dichotomie männlich – weiblich. Zum anderen klingt die Vorstellung an, es gäbe bereits einen freien Menschen, nämlich den Mann, und um ebenso frei zu werden, müssten Frauen sich „männlichen“ Verhaltens- und Lebensweisen angleichen. Vielleicht ist dies auch nur ein Missverständnis, wir wollen aber deutlich machen, dass Männlichkeit kein Idealbild ist und dass auch Männer sich von männlicher Herrschaft, also einem hierarchischen Verhältnis zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, emanzipieren wollen sollten.
Den kulturellen Wandel, den Degrowth-Aktivist*innen stark machen, finden wir erstrebenswert, denn auch aus queer-feministischer Perspektive sind Veränderungen symbolischer Ordnungen sinnvoll. Es gilt zu hinterfragen, welche Ideen über die Welt hegemonial sind und angeblich alternativloses Handeln nach sich ziehen. Es darf aber nicht (nur) um einen kulturellen Wandel gehen, sondern um einen Wandel der Reproduktion und Produktion, der die materiellen Grundlagen der Gesellschaftsstruktur – die Kontrolle über Produktionsmittel – verändert. Deshalb sind wir in Bezug auf die Frage, wie friedlich eine Bewegung sein sollte, skeptisch. Gesellschaftliche Veränderungen wurden bisher immer erkämpft und dies nicht nur durch bessere Argumente; die Machtfrage muss gestellt werden. Wie friedlich bleiben Besitzende, wenn ihnen Kapital und Privateigentum streitig gemacht werden?
Wie pluralistisch will die Bewegung sein?
Degrowth ist eine vielfältige Bewegung, die ganz offensichtlich Wert legt auf Pluralismus, was Hintergründe, Positionen und Fokusse angeht. Wenn es einen klaren herrschaftskritischen Grundanspruch gibt – das heißt eine Ablehnung von Herrschaftsverhältnissen wie etwa Antisemitismus, Sexismus, Rassismus oder Antiromaismus – und es auf dieser Grundlage möglich ist, einzelne Gruppen oder Personen auszuschließen, kann ein gewisser Grad an Pluralismus zu fruchtbaren Allianzen führen. Die Beteiligten können verschiedene Standpunkte austauschen und sich gegenseitig weiterbringen. Doch wie viel Pluralismus möchte eine Bewegung aushalten? Wie können gegensätzliche Positionen ausgehandelt werden, sodass noch immer von einem gemeinsamen Nenner gesprochen werden kann? Diese Fragen wollen wir Degrowth als Anregung mitgeben.
Unsere Ausführungen haben gezeigt, dass queer-feministische Ökonomiekritik und einige Teile von Degrowth viele Gemeinsamkeiten besitzen. Gleichzeitig bleibt für uns als Autor*innen ein grundsätzlicheres Unbehagen an der Schwerpunktsetzung von Degrowth: Es stellt sich uns die Frage, inwiefern der Fokus auf Wachstumskritik als gemeinsamer Nenner für eine kapitalismus- und herrschaftskritische Bewegung zielführend ist, sofern der Begriff Postwachstum einen grundlegend antikapitalistischen Standpunkt nicht zwangsläufig nahelegt. Wirtschaftswachstum ist ein notwendiges Prinzip der kapitalistischen Wirtschaftsweise und nicht das Grundproblem. Durch den Fokus auf Wachstum bleibt die Bewegung möglicherweise offen für Strömungen, die ein antikapitalistisches Grundverständnis nicht teilen, zum Beispiel Verfechter*innen eines „grünen Kapitalismus“. Dies muss nicht zwangsläufig ein Problem sein: Streckenweise ist es sinnvoll, breite Bündnisse einzugehen, um situativ ein konkretes Ziel zu erreichen. Doch inwiefern macht es Sinn, unterschiedliche Strömungen zu einer Bewegung zusammenzufassen, die ein so langfristiges und grundsätzliches Ziel wie sozialen Wandel verfolgt? Sind wir lieber Teil einer pluralistischen Bewegung oder Teil pluraler Bündnisse?
Gleichzeitig möchten wir die Frage selbstkritisch an unsere eigene Bewegung richten: Was sind die Kriterien, nach denen queer-feministische Ökonomiekritik Bündnisse eingehen kann? Organisieren wir uns als Bewegung oder gehen wir in existierenden Bewegungen auf, in die wir unsere Inhalte einzubringen versuchen?
Es gilt, radikal zu bleiben und solidarische Strukturen aufzubauen, die selbstverständlich queer-feministisch sind
Eine soziale Bewegung, die politisch etwas verändern will und kann, stellt Bedürfnisse in den Vordergrund und kämpft für eine Gesellschaft, die die Grundlagen dafür bereitstellt, dass diese befriedigt werden können. Mit dieser Veränderung müssen wir im Hier und Jetzt anfangen – aber nicht nur über Appelle, die sich auf individuelle Verhaltensweisen beziehen, sondern über den Aufbau von solidarischen Strukturen. Feministische Ansätze müssen in dieser Bewegung Raum haben, aber nicht als Ergänzung, sondern als Grundkonsens. Es reicht nicht, Allianzen und Bündnisse mit Feminist*innen einzugehen – Feminismus muss in einer sozialen Bewegung selbstverständlich und breit verankert sein.
Wir wünschen uns, dass sich die Degrowth-Bewegung nicht als Politikberatung für das bestehende System empfiehlt und dass sie sich nicht durch die Arbeit in Stiftungen und Parteien vernutzen lässt, wo sie weitere Studien verfasst, denen zufolge es so nicht bleiben kann, um dann ein wenig an den Schrauben zu drehen, statt das System radikal in Frage zu stellen. Wir wünschen uns, dass sie sich nicht davon abhalten lässt, zivilen Ungehorsam an den Tag zu legen, wenn es notwendig ist. Oder andersherum gedacht: Die radikale queer-feministische linke Bewegung erinnert sich und kann Degrowth-Bewegungsaktive daran erinnern, dass die Institutionalisierung von Forderungen sozialer Bewegungen Verbesserungen bringen kann, grundsätzliche Probleme allerdings nicht löst.

Links


> Netzwerk Care Revolution
> Sie nennen es Liebe, wir nennen es unbezahlte Arbeit – Radiofeature Care Revolution von Sebastian Dörfler, 2013

Verwendete und weiterführende Literatur


trouble everyday collective 2014. Die Krise der sozialen Reproduktion. Kritik, Perspektiven, Strategien und Utopien. Münster: Unrast.
Bock, Gisela; Duden, Barbara 1977. Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus. In: Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Juli 1976. Gruppe Berliner Dozentinnen (Hrsg.). Berlin: Courage. 118-199.
Eversberg, Dennis; Schmelzer, Matthias 2015. Über die Selbstproblematisierung zur Kapitalismuskritik – Vier Thesen zur entstehenden Degrowth-Bewegung. Forschungsjournal Soziale Bewegungen. Analysen zu Demokratie und Zivilgesellschaft 1/2016. <http://forschungsjournal.de/node/2821>
Federici, Silvia 2012. Aufstand aus der Küche. Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution (Kitchen Politics – Queerfeministische Interventionen, Band 1). Münster: Edition Assemblage.
Hausen, Karin 1976. Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen. Conze, Werner (Hrsg.). Stuttgart: Klett-Cotta. 363-393.
Haug, Frigga 2011. Vier-in-einem-Perspektive – Kompass für die politische Praxis. Gespräch mit Frigga Haug. In: LuXemburg 2/2011. 122-127.
Möser, Cornelia; Hausotter, Jette 2010. Undoing Capitalism? Reclaim Economy! Arranca! 42. Zugriff: 26.01.16. <http://arranca.org/ausgabe/42/undoing-capitalism-reclaim-economy>

00 Degrowth in Bewegung(en)

01 Einleitung

02 15M – from an autonomous perspective

03 Anti-Kohle-Bewegung

04 Artivism

05 Attac

06 Buen Vivir

07 Care Revolution

08 Commons-Bewegung

09 Degrowth

10 Demonetarisierung

11 Ernährungssouveränität

12 Flucht- und migrationspolitische Bewegung

13 Freie-Software-Bewegung

14 FUTURZWEI

15 Gemeinwohl-Ökonomie

16 Gewerkschaften

17 Grundeinkommensbewegung

18 Jugendumweltbewegung

19 Klimagerechtigkeit

20 Offene Werkstätten

21 Ökodorf-Bewegung

22 Peoples Global Action

23 Plurale Ökonomik

24 Post-Development

25 Post-Extraktivismus

26 Queer-Feministische Ökonomiekritik

27 Radical ecological democracy

28 Recht auf Stadt

29 Solidarische Ökonomie

30 Tierrechtsbewegung

31 Transition-Initiativen

32 Umweltbewegung

33 Urban-Gardening-Bewegung

34 Abschlusskapitel